Bert Rürup über die Flüchtlingskrise "Wachstum heilt nicht alles, aber vieles"

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Zur Flüchtlingsfrage

Nun lässt sich die Flüchtlingsfrage ja nur auf europäischer Ebene lösen. Haben Sie Hoffnung, dass das gelingt?
Ich bin seit Kurzem etwas weniger pessimistisch als noch vor einem Monat, eine überzeugende Lösung sehe ich aber immer noch nicht. Wenn Länder Stacheldrahtzäune um sich herum hochziehen, dann ist das für mich ein klares Zeichen für Abschottung und Desintegration. Deshalb ist es richtig wenn man zunächst einmal die Front- und Grenzstaaten finanziell unterstützt, um dort zumindest menschliche Verhältnisse zu schaffen. Mit einem Euro, den man in der Türkei, Griechenland oder auch Italien ausgibt, kann man mehr Wohnraum und eine bessere Lebensqualität schaffen als in Deutschland. Und dann könnte man auch dort die Asylprüfung durchführen. Das entbindet allerdings noch nicht davon, zu einem akzeptieren Regelwerk der Verteilung auf die einzelnen EU-Staaten zu kommen.

Was Flüchtlinge dürfen

Dagegen wehren sich die Frontstaaten. Verteilungsprobleme entstehen ja auch, weil Länder wie Großbritannien, Slowenien und Ungarn ihre Grenzen dichtmachen und sich abschotten.
Zuwanderer in großen Zahlen waren eigentlich nie so willkommen. Das galt sogar für die Millionen Flüchtlinge aus den Ostgebieten nach dem Zweiten Weltkrieg. Es waren Deutsche, aber so richtig willkommen waren sie auch nicht, denn die bekamen Geld und Wohnungen. Es hat weit mehr als zehn Jahre gedauert, bis diese Flüchtlinge, die man Vertriebene nannte in der westdeutschen Gesellschaft akzeptiert waren.

Und was hat geholfen?
Das Wirtschaftswunder, Deutschland boomte. Wachstum heilt nicht alles aber vieles.

Wo bleibt da die Solidarität?
Solidarität setzt identische Probleme und Lebenslagen voraus. Arbeiter können untereinander solidarisch sein, Rentner sind untereinander solidarisch. Solidarität heißt, einer Gruppe anzugehören und geschlossen für gemeinsame Ziele und Interessen anzutreten. Das ist aber in Europa nicht so einfach. Denn die Länder der EU haben derzeit nur wenige identische Interessen und Ziele. Die ökonomische Heterogenität  in Bezug auf Beschäftigung und Wachstum in den Eurostaaten hat seit den 2000er Jahren bis heute zu- und nicht wie erhofft abgenommen. Aus diesem Grunde wünsche ich mir im Interesse eines gemeinsamen Europas zunächst einmal ein Stückweit mehr Solidarität zwischen den Ländern der EU.

Der Grexit ist vom Tisch, jetzt reden alle vom „Brexit“ – also dem Austritt Großbritanniens aus der EU. Wäre das der Anfang vom Ende der EU?
Da setze ich ganz auf die britischen Wähler, die, wenn es um etwas wirklich Wichtiges  ging, immer klug entschieden haben. Bei der Abspaltung von Schottland zum Beispiel. Wie sagte Tucholsky so richtig: Die Menschen verstehen das meiste falsch, aber sie fühlen das meiste richtig. Ich wage die Prognose, es wird keinen Brexit geben. Und selbst wenn: Das wäre nicht das Ende des Euro.

Jetzt haben Sie die EU mit dem Euro gleichgesetzt. Ist die EU in ihren Augen doch nur eine Währungsunion?

Das Endziel war einmal eine gemeinsame Währung für alle EU-Staaten. Dieses Ziel ist offensichtlich in weite Ferne gerückt. Die gemeinsame Währung hat sich aber als eine unheimlich starke Klammer des Zusammenhalts der Euro-Länder erwiesen und damit bewährt. Die gemeinsame Währung ist aber das ist nicht das einzige was Europa zusammenhält: Es gibt Schengen. Wir haben - zumindest noch - die Freizügigkeit des Personenverkehrs oder eine freie Arbeitsmigration und zunehmend gemeinsame Standards. Und der Euro ist sehr viel mehr als ein Instrument, um Transaktionskosten im grenzüberschreitenden Güter- und Finanzverkehr zu minimieren. Er war und  ist eine politische Idee. Das kommt aber in der ökonomischen Diskussion der letzten Zeit zu kurz. 

Reicht es allein auf die starke Klammer der Währung zu setzen?
Nein, das reicht nicht. Aber stellen Sie sich mal vor, wir hätten die Währung nicht. Dann wäre die Zentrifugalkraft zwischen den Staaten Europas noch sehr viel größer. Wenn Sie zwei Misthaufen auf der Straße vor sich haben und Sie haben keinen anderen weg, nehmen Sie immer den kleineren.

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