Bettina Röhl direkt

Der Gesellschaftszerstörungsmodus in vollem Gange

Bettina Röhl Publizistin

CDU und CSU haben ihren inneren Kompass über Bord geworfen. Die SPD weiß kaum noch, was "rot" oder "links" heute bedeuten könnte und die Grünen haben sich überflüssig gemacht. Die einst von den Grünen initiierte Gesellschaftszerstörung geht auch ohne diese vollautomatisch weiter.

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Die Streitpunkte zwischen CDU und SPD
Familien: Das gerade erst eingeführte Betreuungsgeld wollen die Sozialdemokraten abschaffen. Die CSU verteidigt es vehement, aber auch in der CDU wird die Familienleistung teilweise kritisch gesehen. Die Kinderbetreuung wollen alle ausbauen, die SPD will Kitagebühren schrittweise sogar ganz abschaffen. Das Ehegattensplitting will die SPD abschmelzen. Die Union plant einen Umbau zu einem Familiensplitting. Quelle: dpa
Mieten: Gegen drastische Mieterhöhungen schlagen Union und SPD Preisbremsen vor. Die SPD will bundesweit eine Erhöhungs-Obergrenze bei Wiedervermietungen von zehn Prozent über der ortsüblichen Vergleichsmiete und Maklerkosten künftig dem Vermieter aufbürden. Die Union will den Ländern für Gebiete mit angespanntem Markt die Möglichkeit zu einem Limit geben. Quelle: dpa
Arbeit: Beim Mindestlohn scheinen die Gräben überwindbar. Im Wahlkampf warb SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück gemeinsam mit Katrin Göring-Eckhardt von den Grünen für einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn von mindestens 8,50 Euro. CDU und CSU setzen dagegen auf branchenbezogene Lohnuntergrenzen in erster Linie für Arbeitnehmer ohne Tarifbindung. Kompromisse wären aber vorstellbar, denn auch der CDU-Arbeitnehmerflügel will Dumpinglöhne stärker bekämpfen. Weiterer Streitpunkt ist die SPD-Forderung nach einer Frauenquote für Aufsichtsräte. Uneinigkeit besteht ebenso in der Bewertung von Leih- und Zeitarbeit sowie bei Werkverträgen. Quelle: dpa
Verkehr: Es ist ein brisantes Thema, das die CSU zur Bedingung einer Koalition erklärt hat: eine Pkw-Maut für Ausländer auf deutschen Autobahnen. Die Union ist selbst uneins darüber. Die SPD lehnt eine Pkw-Maut strikt ab. Quelle: dpa
Steuern: Die Union hat Steuererhöhungen am Wochenende kategorisch ausgeschlossen und will die Bürger bei der kalten Progression entlasten. Auch bei der von der SPD geforderten Vermögensteuer dürften CDU/CSU nicht mitziehen. Zumindest der Wirtschaftsflügel der Union fordert zudem Entlastungen beim Solidaritätszuschlag. Die SPD kritisiert solche Vorfestlegungen als „unseriös“. Sie will große Einkommen und Vermögen stärker belasten, um Schuldenabbau, Bildung und Infrastrukturausbau zu finanzieren. Dazu soll der Spitzensteuersatz auf 49 Prozent steigen, auch eine höhere Abgeltungsteuer für Kapitaleinkünfte ist geplant. Quelle: dpa
Rente: Im Ziel sind sich Union wie SPD einig: Wer Zeit seines Lebens gearbeitet, aber nur wenig verdient hat, soll im Rentenalter mindestens 850 Euro monatlich zum Leben haben und nicht zum Sozialamt gehen müssen. Einigen müssen sie sich über den Weg dahin. Für langjährig Versicherte fordern die Sozialdemokraten eine Solidarrente von mindestens 850 Euro. Die CDU diskutiert eine Lebensleistungsrente, die allerdings niedriger und regional unterschiedlich ausfallen dürfte. Außerdem will die Union Renten für ältere Mütter verbessern. Die Rente mit 67 hatten Union und SPD noch 2006 gemeinsam eingeführt. Inzwischen fordert die SPD deren Aussetzung, sollte der Anteil älterer Erwerbstätiger nicht deutlich steigen. Quelle: dpa
Energie: Offiziell bekennen sich Union und SPD zum Ausbau erneuerbarer Energien und zur Verminderung von Treibhausgasen. Allerdings setzte sich in der Union häufig der Wirtschaftsflügel durch, um Auflagen für die Industrie zu verhindern – aktuell beispielsweise bei EU-Abgasnormen für neue Autos. Die Förderung von Ökostrom will die Union zugunsten niedrigerer Strompreise stärker einschränken. Dem könnte auch die Kohlelobby in der SPD zustimmen. Quelle: dpa

Das schwarz-rote Geschmuse ist ein bisschen unappetitlich. Zwar ist Schwarz-Rot noch das Beste, was der Wähler zugelassen hat. Aber die Art und Weise wie die beiden Parteien ihren Kuhhandel aufführen, macht wenig Freude. Beispiel Betreuungsgeld. Diese absurde Petitesse ist ernsthaft ein Verhandlungspunkt unter einem guten Dutzend von Knackpunkten für eine Große Koalition. Diese Käseglöckchen-Häkeldecken-Nummer ist der Union, die sich aller Überzeugungen, Ideen und Ideale rückstandsfrei entledigt hat, auf eine hysterische Art wichtig und zwar so wichtig, dass sie sich dafür zentraler Wahlkampfversprechen entledigt und der SPD zum Beispiel den flächendeckenden Mindestlohn von 8,50 schenkt.
Das Erziehungsgeld nehmen am Ende vor allem die Zuwandererfamilien in Anspruch, deren Kinder damit von einem Kindergartenbesuch abgehalten werden, was dann an anderer Stelle doppelte Integrationskosten auslösen wird. Das Betreuungsgeld macht eine Sehnsucht nach alten, konservativen Familienmodellen sichtbar, mit der sich Seehofer und die Seinen den Frust und das schlechte Gewissen notdürftig verkleistern.


Der Irrtum über die Union
Auch wenn die Union dank einer wahnhaften Merkel-Fixiertheit keinen Einschlag mehr merkt, enthusiasmiert das große Aufgeben der inneren Werteordnung viele Unionsmitglieder wenig: Mitglied einer Kanzlerpartei zu sein ist bequem und beruhigt, aber eben doch nicht das Gewissen.
Die größte und wichtigste Partei Deutschlands hält es, wie es allerdings bei allen Konkurrenzparteien gang und gäbe ist, mit dem Zufallsgenerator. Nicht politische Grundsätze oder etwa Ideale sorgen für politische Entscheidungen, sondern reine Zufälligkeiten, Befindlichkeiten oder innerparteilichen Hahnenkämpfe. Irgendeiner bringt auf, wir könnten ja mal für oder gegen den Mindestlohn oder Steuermodifikationen oder den Doppelpass oder einen Türkeibeitritt zur EU oder eine Bürgerversicherung oder sonst etwas sein. Und dann schütteln sich die Dinge gruppendynamisch entweder in die eine oder in die andere Richtung. Und was dabei rauskommt, ist dann eine politische Forderung, die nichts mit allen anderen politischen Forderungen zu tun hat, die auf die gleiche Weise zustande gekommen sind. Das Ganze wird dann auf geduldiges Papier als sogenanntes Parteiprogramm gepresst.
Nicht die Größe in Prozentzahlen der mutmaßlichen zukünftigen großen Koalition, die die zweite Parlamentskammer und auch die Verfassung in dominanter Weise beherrscht (2/3-Mehrheit), ist das Problem, das von manch einem Verfassungsrechtler derzeit gesehen wird, sondern die Realität, der Zustand, die tatsächlichen Verhältnisse der Parteien und ihre innere Verfasstheit.

Gesellschaftliche Realität wird täglich komplexer


Die gesellschaftliche und politische Realität ist komplexer denn je und wird täglich prekärer. So gesehen genügen die Parteien ihrer Aufklärungspflicht gegenüber den Bürgern, ihren Wählern, nicht. Die politischen Zusammenhänge sowie die Neben- und Fernwirkungen der wichtigen Entscheidungen sind den Menschen regelmäßig nicht bewusst, aber sie werden von den politischen Parteien verkleistert, zugeschüttet und wie nicht existent behandelt.
Wenn es sich aber zusätzlich so verhält, dass politische Entscheidungen auch noch mehr oder weniger Ergebnisse reiner Willkür sind, dann wird der eigentlich mündige Staatsbürger zu einem unwissenden, regelrecht auf höchstem Niveau verblödeten Mitläufer oder Hin- und Herläufer. Wahlen sind keine Wahlen mehr und Parteien binden ihre Wähler zunehmend durch das Erzeugen oder das Aufrechterhalten von Illusionen oder Aberglaube. Ein diffuses Links ist gut, konservativ ist weniger gut aber besser für das Portemonnaie. Und links sind die Roten und konservativ sind die Schwarzen, weil das doch wohl schon immer so war. Das wird zur Basis von Wahlentscheidungen. Übrigens darf man gespannt sein, wie der Zufall die Frage entscheidet, ob sich die große Koalition mit der NPD politisch auseinandersetzt oder verfassungsgerichtlich.


Obama bleibt der Gute
Analog: Ein politischer Blick in die Vereinigten Staaten. Obama ist gut, weil er schon immer gut war und weil die Demokraten gut sind. Dass er die Staatsverschuldung höher getrieben hat als jeder Präsident vor ihm, dass er der König der Drohnen ist, der König der Geheimdienste, (hier geht es nicht um Kritik an der Drohnen- oder der NSA-Politik, sondern nur um die vorherrschende allgemeine Abscheu gegen diese Politik) der König von Guantanamo, der König eines sinnlosen Libyenkrieges, stört nicht. Er bleibt der Gute, von dem man ein wenig enttäuscht ist. Und dann bleibt ja auch noch die Tea-Party-Bewegung, die man so schön hassen kann.
Nach einem derart primitiven Schema läuft der Meinungsbildungsprozess vor allem dank der Tatsache, dass die größte deutsche Volkspartei, die Union, auf jeden Inhalt und jede Substanz und jede Argumentation verzichtet und sehr viele Themen, Daten, Fakten, die das Land und die Zukunft betreffen, ausgeblendet werden.

Die Realität ist noch viel schlimmer. Die Unionsparteien ignorieren die Realität nicht nur, sie unterdrücken sie regelrecht. Die Union ist nicht ihrer Werte verlustig gegangen, sondern hat sie aktiv über Bord geworfen. Der abgewatschte Obergrüne Jürgen Trittin hatte völlig recht, als er auf dem grünen Delegiertenkonvent in seiner Abschiedsrede der Union vorwarf, dass sie keinen Inhalt geliefert hat, an dem sich die anderen Parteien abarbeiten konnten, sondern nur Merkel Merkel Merkel im Angebot hatten.


Merkel ist unberechenbar


Die als solide geltende Merkel ist, für Jedermann sichtbar, in höchstem Maße unberechenbar. Sie schaltet Atomkraftwerke an und ab, ohne sich um das zu kümmern, was sie bis dato gesagt hat. Ebenso verfährt sie in der Integrationspolitik, in der Zuwanderungspolitik, in der Bildungspolitik, in der Asylpolitik oder der Türkeipolitik. Sie ist zu allem bereit und lässt das dann als Realpolitik verkaufen. Ein trügerisches Uns-geht's-gut-Gefühl der überwältigenden Mehrheit der Gesellschaft ist das Fundament der Union und Merkels persönliches Fundament. Gleichzeitig haben sehr viele Menschen im Land ein mulmiges Gefühl und klammern sich an Merkel, die - eigentlich ironisch gemeint - neuerdings mit einer Sehnsucht nach Halt motiviert gern "Mutti" genannt wird. Die kinderlose Merkel ist alles andere als eine Mutti. Sie ist kalt und auf den Erfolg des jeweils nächsten Tages fixiert. Und das wäre ja nicht einmal die schlechteste Eigenschaft für einen Bundeskanzler, wenn nicht die komplette Aufgabe der Werteordnung der von ihr beherrschten Partei damit einher ginge.


Die Grünen haben das maximale Zerstörungspotenzial bereits abgeliefert
Die Gelben von der FDP haben sich bis auf Weiteres von der politischen Bühne verabschiedet. Die neuen Blauen von der AfD bleiben bisher konturlos und der Prozess ihrer Parteiwerdung ist recht unstrukturiert. Die SPD kann die Frage, was rot ist oder was links ist, schon lange nicht mehr beantworten. Die Linkspartei ist ein sinnloses populistisches Konglomerat aus Postkommunisten, Kommunisten und wirren Westlinken, die eines eint, nämlich, mit utopischen Forderungen und Versprechungen öffentlich alimentierte Posten ergattern zu wollen. Die Grünen haben das maximale historische Zerstörungspotenzial, das sie der Bundesrepublik zufügen konnten, abgeliefert und eigentlich ihre Existenzberechtigung endgültig verloren. Es bedarf der Grünen, die so viele falsche Ideen in die anderen Parteien hinein getragen haben, nicht mehr. Die CDU und die SPD können Gesellschaftzerstörung inzwischen genauso gut wie die Grünen und sogar schneller.
Seit der Wahl vom 22. September ist die Bundesrepublik in einem geordneten Chaos-Modus. Die Republik driftet sanft nach links, wobei keiner mehr weiß, was links noch mal gewesen ist.
Die Südländer, die am Euro-Tropf hängen und gleichzeitig unter ihrer Zwangsmitgliedschaft unter dem Euro leiden, stehen ökonomisch vor der Frage, ob sie auf einem niedrigeren Niveau Weltmarkttauglichkeit erlangen oder ob ihnen dieser Ausweg aus euro-ideologischen Gründen verwehrt wird. Und die Bundesregierung sonnt sich in ihrem Bewusstsein das Dickschiff im trüben Euro-Meer zu sein, aber ist unfähig, die europäischen Märkte und Europa durch eine Modifizierung des Euro-Vertrages zusammen zu führen und zusammen zu halten. Es ist wirklich verdammt peinlich, wenn sich in dieser Lage eine Partei damit rühmt, ein Betreuungsgeld durchgebracht zu haben.
Das trügerische Wohlbefinden der Massen

In den Wirtschaftswunderjahren bis 1965 ging es der westdeutschen Gesellschaft unverschämt gut. Dank Vollbeschäftigung hatte jeder Deutsche an der Wohlfahrt teil. Dann gab es eine kleine Konjunkturdelle, die man im Nachhinein als bedeutungslos bezeichnen darf. Spätestens seit 1968 bis Ende der siebziger Jahre ging es wieder wirtschaftlich wieder steil bergauf. Der höchste Stand an Liberalität, an Freiheit, an Gleichheit und Brüderlichkeit mitten im Kapitalismus, von dem ein Land nur träumen kann. Dieses Jahrzehnt ist gleichzeitig das sogenannte rote Jahrzehnt, in der die sogenannten 68er und dann die Grünen das Land nach allen Regeln der Kunst verteufelten und seitdem systematisch zu zerstören versuchen.
Vergleicht man das heutige trügerische Wohlgefühl der Massen mit dem berechtigten Wohlempfinden von damals, kommt Trauer auf. Trauer über die Ignoranz gegenüber dem geschichtlichen Werdegang. Und Trauer über Fehler, die man nicht mehr reparieren wird können, aber auch über Fehler, die einfach nicht repariert werden. Und schlimmer noch, Trauer über eine gewisse Determination im Gesellschaftszerstörungsmodus voran zu schreiten.

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