Bilanz zum Weltflüchtlingstag Wie es um die Flüchtlingskrise in Deutschland steht

Eine Bilanz zum Weltflüchtlingstag: Wie weit ist Deutschland bei der Integration der Asylsuchenden gekommen? Wie viele Migranten kommen noch zu uns? Und was macht die „Abschiedskultur“? Antworten auf wichtige Fragen.

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Die Flüchtlingswelle ist deutlich abgeebbt, doch trotz der geschlossenen Balkanroute gelangen auch weiter zahlreiche Migranten nach Deutschland. Quelle: dpa

Berlin Knapp 1,2 Millionen Asylsuchende sind in den zurückliegenden zwei Jahren auf der Flucht vor Krieg und Verfolgung nach Deutschland gekommen – oder weil sie sich hier schlicht ein besseres Leben ohne Armut und Entbehrungen erhoffen. Fünf Fragen zum Stand der Dinge:

Wie viele Flüchtlinge kommen derzeit neu nach Deutschland?

Trotz der geschlossenen Balkanroute gelangen auch weiter zahlreiche Flüchtlinge nach Deutschland. Von Januar bis Ende Mai registrierten die Behörden 77.148 Asylsuchende. Knapp ein Viertel von ihnen stammt aus dem vom Bürgerkrieg verwüsteten Syrien. Auf der Liste der Hauptherkunftsländer folgen Irak, Afghanistan, Eritrea und Iran. Auf diese fünf Staaten entfällt gut die Hälfte der Neuzugänge in den ersten fünf Monaten.

Die Flüchtlingswelle ist damit deutlich abgeebbt. Auf dem Höhepunkt im September und Oktober 2015 kamen nicht selten 10.000 Flüchtlinge täglich in Deutschland an, jetzt sind es noch etwa 500. Insgesamt wurden im Jahr 2015 rund 890.000 Asylsuchende in Deutschland registriert, im vergangenen Jahr weitere 280.000.

Stark gesunken ist mittlerweile die Anerkennungsquote. Von den knapp 373.000 Asylverfahren, die das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) abschloss, endeten 45,1 Prozent mit einem zumindest vorübergehenden Bleiberecht des Flüchtlings. Im vergangenen Jahr lag diese sogenannte „Schutzquote“ noch bei gut 62 Prozent, 2015 bei knapp 50 Prozent.

Allerdings wollen viele abgelehnte Flüchtlinge die Entscheidung nicht hinnehmen. Nach Angaben von Pro Asyl sind im ersten Quartal dieses Jahres bundesweit rund 97.000 Klagen gegen Asylbescheide erhoben worden. Im gesamten vergangenen Jahr waren es demnach 181.600. Allerdings war von den knapp 71.000 Klagen, über die im vergangenen Jahr entschieden wurde, nur knapp jede achte erfolgreich.

Wie weit ist der Asylantragstau abgebaut?

Als Frank-Jürgen Weise im September 2015 neuer BAMF-Chef wurde, schob die Nürnberger Behörde rund 365.000 Altfälle vor sich her. Weil das Amt vom Ansturm der Jahre 2015 und 2016 überrascht wurde, konnte Weise trotz einer erheblichen Personalaufstockung seine Prognose, die Altfälle bis Ende 2016 abzuarbeiten, nicht erfüllen. Als er Ende vergangenen Jahres in den Ruhestand wechselte, hinterließ er seiner Nachfolgerin Jutta Cordt und ihren Mitarbeitern noch knapp 434.000 offene Asylverfahren.

Bis Ende Mai hat das BAMF den Rückstau auf gut 165.000 Verfahren abgebaut. Im Durchschnitt dauert ein Asylverfahren heute sieben Monate, die Bearbeitungsdauer ist damit zuletzt sogar wieder angestiegen. Das hat laut Bundesinnenministerium damit zu tun, dass die BAMF-Mitarbeiter sich nun verstärkt auch komplizierten Altfällen zuwenden, bei denen etwa die Identität des Antragstellers nicht zweifelsfrei geklärt ist oder erst Gutachten angefordert werden müssen. Neue Anträge arbeitet die Nürnberger Behörde mit ihren knapp 3.400 Entscheidern mittlerweile innerhalb von weniger als zwei Monaten ab.

Wie steht es um die Arbeitsmarktintegration der Flüchtlinge?

Die Experten des Nürnberger Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) gehen in ihrer vorsichtigen Prognose davon aus, dass von den nach Deutschland gekommenen Flüchtlingen nach fünf Jahren ungefähr jeder zweite einen Job gefunden haben wird. Wobei damit nicht zwingend sozialversicherungspflichtige Beschäftigung gemeint ist, sondern es sich auch um ein Praktikum oder einen Minijob handeln kann.

Entsprechend bescheiden nehmen sich die Integrationserfolge heute – gut zwei Jahre nach Beginn der großen Welle – aus. Von den knapp 4,7 Millionen Arbeitsuchenden, die bei der Bundesagentur für Arbeit (BA) registriert sind, ist mittlerweile jeder zehnte als Flüchtling nach Deutschland gekommen. In der amtlichen Arbeitslosenstatistik tauchten im Mai knapp 179.000 Flüchtlinge auf.

Einen sozialversicherungspflichtigen Job haben bis März dieses Jahres 138.000 Menschen aus den wichtigsten Asylherkunftsländern gefunden – das sind 49 Prozent mehr als im Vorjahresmonat. Auch hier gibt es also durchaus Erfolge – zumal sich die Wirtschaft weiter engagiert. So gab in einer aktuellen Befragung des Münchener Ifo-Instituts unter rund 1.000 Personalleitern immerhin gut jedes fünfte Unternehmen an, in den zurückliegenden 24 Monaten Flüchtlinge beschäftigt zu haben. Das entspricht einer Verdreifachung gegenüber dem Schlussquartal 2015.

Als Hürden für die Beschäftigung von Flüchtlingen sehen die Unternehmen neben fehlenden Sprachkenntnissen und Qualifikationen vor allem die Unsicherheit über den Aufenthaltsstatus und die Dauer der Asylverfahren.


Wie steht es um Abschiebungen?

Was macht die europäische Umverteilung?

Frankreichs neuer Präsident Emmanuel Macron war im Wahlkampf voll des Lobs für Angela Merkel und die Deutschen. Die Kanzlerin und die gesamte Gesellschaft „haben unsere kollektive Würde gerettet, indem sie notleidende Flüchtlinge aufgenommen, untergebracht und ausgebildet haben“ lobte er.

Macron wie Merkel wissen aber auch, dass Deutschland die Last nicht alleine stemmen kann, sondern auf die Solidarität seiner europäischen Partner angewiesen ist. Doch die ist weiter nur schwach ausgeprägt. So hatte die EU-Kommission vor wenigen Tagen angekündigt, Vertragsverletzungsverfahren gegen Polen, Tschechien und Ungarn aufzunehmen. Alle drei Länder weigern sich, an der im September 2015 beschlossenen Umverteilung von Flüchtlingen innerhalb der Europäischen Union teilzunehmen.

Um Griechenland und Italien zu entlasten, wo die meisten Flüchtlinge über die Ägäis und das Mittelmeer ankommen, sollen 160.000 Schutzsuchende in andere EU-Mitgliedstaaten umgesiedelt werden. Bis zum 9. Juni hatten diese laut EU-Kommission aber nur knapp 21.000 Umsiedler aufgenommen. Zu den Hauptaufnahmeländern zählen dabei Deutschland, Frankreich und die Niederlande. Ungarn und die Slowakei hatten gegen den mehrheitlich getroffenen Umverteilungsbeschluss vor dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg geklagt.

Wie sieht es bei der „Abschiedskultur“ aus?

Solidarität und Hilfsbereitschaft für die wirklich Schutzbedürftigen ließen sich nur erhalten, wenn abgelehnte Asylbewerber auch tatsächlich das Land verlassen müssen, sagt Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU). Soll heißen: Die viel gelobte „Willkommenskultur“ wird bröckeln, wenn sie nicht durch eine „Abschiedskultur“ flankiert wird. Hier ist politisch zwar schon einiges passiert. So ist der Zuzug aus den Westbalkanstaaten deutlich zurückgegangen, seit Serbien, Bosnien-Herzegowina und Mazedonien in die Liste der sicheren Herkunftsstaaten aufgenommen wurden.

Eine entsprechende Einstufung der Maghreb-Länder Tunesien, Algerien und Marokko scheiterte am Widerstand einzelner Länder mit grüner Regierungsbeteiligung im Bundesrat. Für Asylbewerber aus sicheren Herkunftsländern gelten beschleunigte Verfahren. Auch werden sie in besonderen Aufnahmeeinrichtungen untergebracht, aus denen sie bei negativem Bescheid direkt wieder abgeschoben werden können. Erleichtert hat die schwarz-rote Koalition zudem die Ausweisung straffälliger Ausländer, die auch leichter in Abschiebehaft genommen werden können.

Dennoch sieht Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) bei Rückführungen, für die im Wesentlichen die Bundesländer zuständig sind, noch erhebliche Vollzugsdefizite. So beklagte er jüngst, dass Ausländerbehörden Duldungen noch zu freigiebig verteilten. Auch ärztliche Atteste würden weiter missbraucht, um die Abschiebung von Ausreisepflichtigen zu verhindern, sagte de Maizière.

Im vergangenen Jahr wurden rund 25.000 Menschen abgeschoben, die meisten aus Nordrhein-Westfalen (5.100), Baden-Württemberg (3.600) und Bayern (3.300). Darüber hinaus kehrten 54.000 abgelehnte Asylsuchende unterstützt durch Förderprogramme der Regierung freiwillig in ihre Heimat zurück. Die Zahl der Abschiebungen und freiwilligen Ausreisen ist damit gegenüber dem Vorjahr um 42 Prozent gestiegen.

Trotzdem seien bei insgesamt knapp 500.000 Ausreisepflichtigen in Deutschland dringend zusätzliche Anstrengungen erforderlich, mahnt der Vizepräsident des Deutschen Landkreistags, Joachim Walter. In manchen Kreisen der Bevölkerung gebe es eine Grundhaltung für ein „Bleiberecht für alle“, sagte Walter jüngst bei einer Konferenz zur „Optimierung des Rückkehrmanagements“. Damit würden viele Menschen gelockt, sich trotz aller Risiken auf den Weg nach Deutschland zu machen.

Lange hatte die Bundesregierung versucht, mit umstrittenen Sammelabschiebungen nach Afghanistan Härte zu demonstrieren. Diese wurden aber nach den jüngsten verheerenden Anschlägen und der Ermordung einer deutschen Entwicklungshelferin ausgesetzt, bis das Auswärtige Amt eine Neubewertung der Sicherheitslage vorgenommen hat. Der entsprechende Bericht soll möglichst noch vor der parlamentarischen Sommerpause vorliegen. Straftäter und „Gefährder“, die ein potenzielles Sicherheitsrisiko darstellen, dürfen aber weiter nach Afghanistan zurückgeschickt werden.

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