Bildung in Deutschland 2016 Bildung von Flüchtlingen braucht 3 Milliarden Euro

Das Integrationsprogramm der Bundesregierung reicht angesichts des Ausmaßes der Zuwanderung junger Menschen nicht ansatzweise aus, wie der aktuelle Bildungsbericht zeigt. Integration sei kein Arbeitsmarktproblem, sondern eines der Ausbildung – und da habe Deutschland deutliche Schwächen.

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Syrische Flüchtlingskinder lernen Deutsch. Quelle: dpa Picture-Alliance

Allein für die Ausbildung und Erziehung der im vergangenen Jahr nach Deutschland gekommenen Asylbewerber und Flüchtlinge müssten ab sofort jährlich bis zu drei Milliarden Euro aufgewendet werden. Wenn rund 80 Prozent der Ankömmlinge von 2015 bleiben, werden für deren Bildung und Ausbildung 44.000 zusätzliche Erzieher, Lehrer und Sozialarbeiter gebraucht.

„Die müssten eigentlich jetzt sofort eingestellt werden“, sagte der Soziologe Martin Baethge, einer der Autoren des am Donnerstag veröffentlichten Berichts „Bildung in Deutschland 2016“. Diese Zahlen betreffen allein die im Jahr 2015 angekommenen Asylbewerber und Schutzsuchenden.

Das von der Bundesregierung am Mittwoch präsentierte "Investitionspaket für sozialen Zusammenhalt" von 800 Millionen Euro wird also nicht ansatzweise ausreichen. Zumal nur ein Teil dieser Mittel Schulen und Ausbildungseinrichtungen zugute kommt. „Das Flüchtlingsproblem ist im Kern ein Ausbildungs- und kein Arbeitsmarktproblem“, sagte Thomas Rauschenbach vom Deutschen Jugendinstitut, einer der Autoren des Berichts.

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Wobei das große Problem sei, dass niemand wirklich wisse, wie qualifiziert die Neuankömmlinge tatsächlich sind. Um die Einwanderer auf eine Ausbildung vorzubereiten, seien jetzt vor allem zusätzliche Sozialarbeiter unbedingt notwendig. Er könne aber „keine Aufbruchstimmung“ angesichts dieser gewaltigen Probleme erkennen, sagte Rauschenbach.

Der 350-Seiten-Bericht wurde gemeinsam von Bundesbildungsministerin Johanna Wanka (CDU) und der Präsidentin der Kultusministerkonferenz (KMK), Claudia Bogedan (SPD), präsentiert. Erstellt wurde die Studie von einer Gruppe unabhängiger Wissenschaftler unter Leitung des Deutschen Instituts für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF). Fragen der Integration von Einwanderern und deren Nachkommen stehen in diesem Jahr im Vordergrund des Berichts.

Strukturproblem im deutschen Bildungssystem

Die Ergebnisse zeigen „soziale Disparitäten“ als „anhaltendes Strukturproblem“ des deutschen Bildungssystems. Das heißt zum Beispiel: Ausländische Jugendliche bleiben mehr als doppelt so oft wie deutsche ohne jeglichen Schulabschluss und damit so gut wie chancenlos auf dem Arbeitsmarkt.

Weniger als halb so oft erreichen sie die allgemeine Hochschulreife.

Baethge wertete diese Befunde, die sich nur wenig von denen früherer Berichte seit 2006 unterscheiden, als enttäuschend. Für besonders bedenklich halten die Autoren des Berichts eine Entwicklung der „Klumpung“ in Kindertageseinrichtungen: Über ein Drittel der Kinder mit nicht deutscher Familiensprache besucht Kitas oder Kindergärten, in denen die Mehrheit der Kinder zu Hause ebenfalls kaum Deutsch sprechen. Hier zeigt sich vermutlich eine Tendenz der Abschottung, die in großstädtischen Regionen besonders stark ist.

Entwertung der Abschlüsse?

Inwiefern dies auch für Grundschulen gilt, konnten die Autoren mangels Daten nicht erheben. Eine andere Entwicklung könnte dafür allerdings ein Indikator sein: Privatschulen erleben einen Boom. Der Anteil von Schulen „in freier Trägerschaft“ hat in allen Bundesländern bis auf Bremen seit 2006 deutlich zugenommen. Insgesamt sind es 11 Prozent aller Schulen. In vielen ländlichen Regionen ersetzen sie das rückläufige Angebot öffentlicher Schulen.

Die Autoren stellen selbst die Frage, ob da nicht „Separierungstendenzen“ drohen. Sprich: Ob der Boom privater Schulen dadurch zu erklären ist, dass Eltern bewusst nach Schulen für ihre Kinder suchen, in denen möglichst wenig Kinder mit Migrationshintergrund lernen. „Die Rekrutierungsmechanismen privater Grundschulen könnten ein Problem werden, wenn sie selektiv sind“, sagte Mitautor Kai Maaz vom Deutschen Instituts für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF).

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Diese Tendenz gebe es eindeutig bei privaten Sekundarschulen, die sich ihre Schüler nach dem Elternhaus auswählen.

Der Trend zu „höherer Bildung“ – vielleicht sollte man genauer sagen: zu höheren Bildungszertifikaten – ist dem Bericht zufolge ungebrochen. Der Anteil der Abiturienten steigt weiter, ebenso der Anteil derjenigen, die dann auch ein Studium aufnehmen. Inwiefern das eine tatsächliche Hebung des Bildungsstands bedeutet, ist durchaus zweifelhaft.

Gleichheit ist eine Illusion

Während in der Wirtschaft über eine mangelnde „Ausbildungsreife“ vieler Schulabgänger geklagt wird, etwa über krasse Mängel der mathematischen Kenntnisse, stellen die jüngsten Pisa-Tests einen Anstieg der „mittleren Kompetenzen“ fest. „Die Dauerklagen der Unternehmen erschüttern mich nicht“, sagte Baethge. Er forderte die Wirtschaft auf, ihrerseits nicht nur in die Ausbildung zu investieren, sondern auch „Ausbildung mit Bildung zu verbinden“.

Dass der Anstieg der Abiturientenzahlen aber vermutlich eine Entwertung der unteren Abschlüsse bedeutet, geben auch die Autoren des Bildungsberichts zu bedenken.

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Baethge spricht von einer „zunehmenden Polarisierung“. Die Chancen auf dem Arbeitsmarkt für junge Menschen mit Hauptschulabschluss hätten sich trotz der demographisch bedingten Verknappung des Arbeitskräfteangebots nicht wesentlich verbessert.

Was sie verschweigen, ist die logische Folgerung, dass auch die höheren Bildungszertifikate dadurch entwertet werden, dass sie häufiger vergeben werden. Die Jobs, die früher Haupt- und Realschüler bekamen, kriegen nun Abiturienten oder gar Studierte.

Die viel gestellte Frage nach der Gerechtigkeit des deutschen Bildungssystems wies Maaz zurück. Wenn man unter Gerechtigkeit vor allem Gleichheit verstehe, dann sei dieses Ziel grundsätzlich eine Illusion, da Bildung unvermeidlicherweise Ungleichheiten hervorbringe. Es stelle sich ganz grundsätzlich die Frage, ob ein Bildungssystem überhaupt in der Lage sei, "Disparitäten", wie die im Bericht offenbarten, abzubauen.

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