Bildung Wie die Digitalisierung der Schule gelingt

In der Debatte um den Einsatz von Computern im Schulunterricht stoßen ideologische Extreme aufeinander. Weder Euphorie noch Abwehrhaltung sind angebracht, sondern ein vernünftiges Maßhalten. Es kommt darauf an, was Lehrer und Schüler aus der Technik machen.

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Was bedeutet Digitalisierung in der Schule und wie kann sie gelingen? Quelle: dpa

Die Lager, die sich in der Diskussion um Sinn und Zweck einer Digitalisierung der Schule bilden, sind schnell ausgemacht: Auf der einen Seite gibt es Euphoriker, die eine Digitalisierung als den Durchbruch fürs Lernen feiern und im Sinn von Comenius überzeugt sind, dass jetzt alle alles lernen können.

Klaus Zierer ist ein deutscher Erziehungswissenschaftler und seit 2015 Ordinarius für Schulpädagogik an der Universität Augsburg. Zuvor war er Professor an der Universität Oldenburg.

Auf der anderen Seite gibt es Apokalyptiker, die in einer Digitalisierung den Untergang eines humanistischen Bildungsdenkens sehen und am liebsten dieses „Teufelszeug“ bis ins Erwachsenenalter hinein aus der Pädagogik verbannen würden. Wie so oft aber, gerade wenn es um Fragen der Bildung und Erziehung geht, fehlt das rechte Maß und beide Positionen sind ideologisch und illusorisch. Insofern ist im Aristotelischen Sinn nach der goldenen Mitte zu suchen. Aber wie lässt sie sich finden?

Schiebt man die ideologischen Extrempositionen in der Diskussion beiseite und betrachtet nüchtern das, was heute über den Einsatz von Computer, Tablets, Smartboards & Co. bekannt ist, so lässt sich folgern: Die Technik alleine und für sich genommen wird Lernen nicht revolutionieren. Das schaffte kein „neues“ Medium in der Geschichte der Schule, wie bei John Hattie deutlich nachzulesen ist: nicht der Griffel, nicht die Tafel, nicht das Schulbuch, nicht der Computer, nicht das Tablet und auch nicht das Smartboard. Technik braucht immer den Menschen, um wirken zu können. Insofern ist der Ort der Bildung nicht das Medium, wie in der Allgemeinen Didaktik längst bekannt ist. Sondern der Ort der Bildung ist in der Interaktion zwischen Menschen zu sehen. Es kommt also darauf an, was Lehrpersonen mit der Technik machen – in welchen Situationen sie diese einschalten und wann sie diese ausschalten.

Und da das Gelingen der Interaktion in Schule und Unterricht vor allem von der Lehrperson abhängt, ist die Fokussierung auf ihre Professionalität folgerichtig. John Hattie hat dies in den letzten Jahren wie kein anderer gefordert. In seinem neuesten Werk „Kenne deinen Einfluss!“ werden hierzu zehn Haltungen definiert. Diese Haltungen entscheiden darüber, ob pädagogische Handlungen erfolgreich sind oder nicht. Überträgt man diese auf eine Digitalisierung, so lässt sich aufzeigen, was Digitalisierung in der Schule nicht bedeutet – und auch, was Digitalisierung in der Schule bedeuten kann und wie sie gelingen kann:

1. Erfolgreiche Lehrpersonen reden übers Lernen, nicht über Lehren. Und sie beginnen und enden ihre pädagogischen und didaktischen Überlegungen beim Schüler. Digitalisierung im Unterricht bedeutet nicht, ein Lernprogramm für alle Lernenden in gleicher Weise einzusetzen. Digitalisierung im Unterricht bedeutet vielmehr, das Vorwissen und die Vorerfahrungen der Lernenden zu erheben und jene digitalen Verfahren einzusetzen, die darauf aufbauend eine größtmögliche Passung bewirken.

Der Mehrwert neuer Medien

2. Erfolgreiche Lehrpersonen setzen die Herausforderung und gestalten Lernprozesse weder zu leicht, noch zu schwer. Digitalisierung im Unterricht bedeutet nicht, Lernprozesse möglichst leicht (oder gar möglichst schwer) zu machen. Digitalisierung im Unterricht bedeutet vielmehr, mithilfe digitaler Verfahren eine Passung zwischen Vorwissen und Anforderungsniveau herzustellen und Lernen möglichst herausfordernd zu machen.

3. Erfolgreiche Lehrpersonen sehen Lernen als harte Arbeit und setzen vielfältige, regelmäßige und herausfordernde Phasen der Übung. Digitalisierung im Unterricht bedeutet nicht, Lernen ausschließlich in die Hände der Lernenden zu verlagern. Digitalisierung im Unterricht bedeutet vielmehr, Möglichkeiten zu eröffnen, um miteinander über das Lernen ins Gespräch zu kommen.

4. Erfolgreiche Lehrpersonen sehen Unterricht als Interaktion, die auf Wertschätzung beruht, und investieren insofern in den Aufbau positiver Beziehungen. Digitalisierung im Unterricht bedeutet nicht, das soziale Gefüge durch neue Medien zu ersetzen und womöglich sogar die Lehrperson überflüssig zu machen. Digitalisierung im Unterricht bedeutet vielmehr, neue Medien anzuwenden, um neue Formen der Interaktion, des Gespräches und der Zusammenarbeit in Lehr-Lern-Prozesse zu integrieren.

So wächst das Geschäft mit dem E-Learning

5. Erfolgreiche Lehrpersonen sehen Unterricht nicht als Einbahnstraße, sondern als Dialog. Digitalisierung im Unterricht bedeutet nicht, das gesprochene Wort durch digitalen Austausch zu ersetzen. Digitalisierung im Unterricht bedeutet vielmehr, das gesprochene Wort im Unterricht durch vorausgehenden und nachfolgenden digitalen Austausch in seiner Tiefe und Nachhaltigkeit positiv zu beeinflussen.

6. Erfolgreiche Lehrpersonen informieren Schüler und Eltern über die Sprache des Lernens. Digitalisierung im Unterricht bedeutet nicht, dass Lehrpersonen neue Medien uneingeschränkt preisen. Digitalisierung im Unterricht bedeutet vielmehr, dass Lehrpersonen den Umgang mit neuen Medien kritisch-konstruktiv kommentieren, auf Möglichkeiten, Grenzen und Gefahren hinweisen.

7. Erfolgreiche Lehrpersonen sehen sich als Veränderungsagenten und setzen Methoden nicht um der Methoden willen ein, sondern immer vor dem Hintergrund der Lernsituation. Digitalisierung im Unterricht bedeutet nicht, neue Medien einzusetzen, weil sie gerade en vogue sind. Digitalisierung im Unterricht bedeutet vielmehr, in Abwägung der Möglichkeiten und der Bedürfnisse auf Seiten der Lernenden, neue Medien nur dann und immer dann einzusetzen, wenn sie die beste Wahl sind.

8. Erfolgreiche Lehrpersonen geben und fordern Rückmeldung, weil Feedback für sie nicht nur ein wichtiges Instrument ist, sondern eine Grunddimension von Unterricht. Digitalisierung im Unterricht bedeutet nicht, alle bisherigen Verfahren der Rückmeldung abzulösen und nur noch digital Rückmeldung einzuholen. Digitalisierung im Unterricht bedeutet vielmehr, den Mehrwert neuer Medien im Vergleich zu traditionellen Medien zu nutzen und im Kontext von Feedback jene Verfahren in den Unterricht mit aufzunehmen, die sonst aufgrund von Zeitaufwand und fehlender Kompetenz nicht möglich wären.

Digitalisierung bereits allgegenwärtig

9. Erfolgreiche Lehrpersonen sehen Schülerleistungen als Rückmeldung für sich und über sich und bringen sowohl den Lernerfolg als auch Fehler im Lernprozess immer in Verbindung mit ihrem Denken und Tun. Digitalisierung im Unterricht bedeutet nicht, den Austausch über Fehler im Lernprozess in die Hand der Technik zu geben. Digitalisierung im Unterricht bedeutet vielmehr, Fehler im Lernen mithilfe neuer Medien sichtbar zu machen, um darauf aufbauend in einen intensiven Austausch über Lehr-Lern-Prozesse zu kommen.

10. Erfolgreiche Lehrpersonen arbeiten zusammen. Digitalisierung im Unterricht bedeutet nicht, dass neue Medien den Austausch zwischen Lehrpersonen verringern oder sogar ersetzen sollen. Digitalisierung im Unterricht bedeutet, dass neue Medien neue Formen des Austausches und der Kooperation zwischen Lehrpersonen initiieren sollen.

Gelingt es Lehrpersonen, mit diesen Haltungen in den Unterricht zu gehen, so werden sie auch eine Digitalisierung sinnvoll in den Unterricht integrieren. Johann Wolfgang Goethe weist mit seinen Worten in diese Richtung: „Denn es ist zuletzt doch nur der Geist, der jede Technik lebendig macht.“ Vor diesem Hintergrund müssen wir das Netz in der Tat nicht hassen, wie Jarett Kobek sein neues Buch betitelt, genauso wenig wie wir es preisen müssen. Es ist ein Medium und wird ein Medium bleiben. Erst der Mensch wird es zum Leben erwecken.

Sorgen müssen wir uns aber doch: Um die Kinder, die mehr Zeit vor dem Computer verbringen als mit Freunden. Um Jugendliche, die vor lauter Digitalisierung es keine fünf Minuten schaffen, nicht ihren Account auf neue Nachrichten zu prüfen. Um Eltern, die mehr Zeit mit ihrem Smartphone spielen als mit ihren Kindern. Um Lehrpersonen, die Technik um der Technik willen einsetzen und nicht um der Menschen willen.

Striche zählen und Werte ablesen

Damit zeigt sich die Herausforderung einer Digitalisierung der Schule nicht darin, ob sie kommen wird oder kommen muss. Sie ist bereits allgegenwärtig. Die Herausforderung einer Digitalisierung der Schule zeigt sich vielmehr darin, warum sie wie sinnvoll einzusetzen ist und wie der Umgang menschlich und achtsam aussehen kann. Damit definiert sich ein grundlegender Bildungsauftrag. Es wäre zu wünschen, dass der Initiative der Bundesministerin für Bildung und Forschung, Johanna Wanka, eine entsprechende Initiative folgt, besser noch: mit dieser einhergeht. Denn dann würden viele Diskussionen, die einseitig und aufgeladen sind, von vornherein verstummen.

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