Bildungskatastrophe Abiturienten scheitern schon am Bruchrechnen

Hochschulen und Ausbildungsbetriebe klagen über fehlende Mathematikkenntnisse. Betriebe müssen zusätzlich investieren, um die Auszubildenden fit zu machen. Warum der Mathematikunterricht immer schlechter wird.

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Quelle: Getty Images

Der Mathematikunterricht ist in einer katastrophalen Situation. Nicht einmal mehr die grundlegende Mittelstufenmathematik wird den Schülern abverlangt, beklagten mehr als 130 Lehrer, Dozenten und Hochschullehrer der Mathematik oder Ingenieurwissenschaften, einige Mathematikdidaktiker und Eltern in einem öffentlichen "Brandbrief". Zu den Mängeln gehören demnach die Bruchrechnung, die Potenz- und Wurzelrechnung, binomische Formeln, Logarithmen, Termumformungen sowie die Elementargeometrie und Trigonometrie.

Abiturienten fehlen die grundlegendsten Kenntnisse

Das Fehlen grundlegender mathematischer Kenntnisse führt dazu, dass immer mehr Abiturienten nicht einmal mehr über die grundlegende Mittelstufenmathematik als zwingend notwendige Voraussetzung für die Aufnahme eines Studiums oder auch einer Ausbildung im dualen System verfügen. Die fachlichen Anforderungen befinden sich längst nicht nur im Mathematikunterricht (und seiner Didaktik) im freien Fall. Die Klagen der ‚Abnehmer‘ von Schulabsolventen, also Ausbildungsbetriebe und Hochschulen, eingelullt von den falschen Versprechungen der Bildungspolitiker (kürzer, schneller, kompetenter), werden immer lauter.

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Schuld daran ist die den Schulen seit PISA verordnete Kompetenzorientierung mit dem Verzicht auf die Vermittlung grundlegender fachlicher Inhalte, die insbesondere von der „modernen“ Fachdidaktik auf den Weg gebracht wurde. Ursprünglich war die Fachdidaktik in den 70er Jahren im deutschsprachigen Raum eingeführt worden, um die Lücke zwischen dem Fach selbst und dem Fachunterricht zu überbrücken. Dementsprechend waren Fachdidaktiker der ersten Generationen meist im Fach ausgewiesen, hatten also dort ihre Promotion und vielfach auch zumindest Teile ihrer forschungsrelevanten Publikationen angesiedelt.

PISA 2015: Was und wie getestet wurde

Weiterhin war für die neu geschaffenen Professorenstellen der Nachweis des zweites Staatsexamens und einer darauf folgenden mindestens dreijährigen Berufspraxis in der Schule verbindlich vorgeschrieben.

Nach PISA 2000 verabschiedete man sich zunehmend von diesen Voraussetzungen. Die “moderne“ Fachdidaktik sollte nunmehr zu der Vermessung des Bildungswesens beitragen - mit üppigen Drittmitteln ausgestattet. Entsprechend sind viele Fachdidaktiker heute vor allem Zulieferer der empirischen Bildungsforschung und kommen weder aus dem Fach noch aus der Unterrichtspraxis. Die mehr als fragwürdige Erstellung von Kompetenzmodellen, Kompetenzstufenmodellen,  Kompetenzentwicklungsmodellen und entsprechender textlastiger Aufgaben als Grundlage für die Ausweisung unterschiedlicher Kompetenzstufen nach dem PISA-Konzept wird als vordringliche Aufgabe der Fachdidaktik angesehen.

Striche zählen und Werte ablesen

Ein Blick in die Zeitschrift "Journal für Didaktik der Mathematik" (JMD) offenbart, dass die dort abgehandelten Themen überwiegend weder zur Mathematik gehören noch den Schulunterricht stofflich bereichern können. Der (inzwischen emeritierte) Mathemathematikdidaktiker Thomas Jahnke hat nachgezählt, welcher Seitenanteil im JMD noch über schulmathematisch Inhaltliches – von der „modernen“ Fachdidaktik despektierlich „Stoffdidaktik“ genannt – zu finden war: In den 80er Jahren beginnend waren es immerhin noch rund 25 Prozent, in den 90er Jahren 18 Prozent und in den Nullerjahren nur noch 8 Prozent. Mittlerweile ist die „Stoffdidaktik“ fast ganz verschwunden.

Fachdidaktik ohne Fachinhalte

Diese Abkehr einerseits vom Fach selbst als auch andererseits von der Schulpraxis wird forciert durch die im letzten Jahrzehnt geschaffenen Schools of Education: Die Lehrerausbildung, die bisher den Fächern zugeordnet war, ist in die Hand der Bildungswissenschaften mit einem eigenen Fachbereich verlagert worden. Gleichzeitig wurden die rein fachlichen Anteile in den Lehramtsstudiengängen seit PISA 2000 in den einzelnen Bundesländern teilweise um bis zu 45 Prozent reduziert, zugunsten bildungswissenschaftlicher und fachdidaktischer Anteile. Gab es in den 80er und 90er Jahren durchaus Mathematiklehrer mit fachlich fundierten Kenntnissen, einige sogar im Fach promoviert oder gar habilitiert, so werden diese nun altersbedingt selten. Ein weiterer Niveauverfall dürfte die Folge sein.

Lehrer werden zu Lernbegleitern

Erschwerend kommt hinzu: Im Rahmen der „Neuen Lernkultur“ haben Lehrer ihre Vermittlungsfunktion verloren. Sie sind nun nur noch „Lernbegleiter“. Dadurch wird gerade lernschwachen Schülern ein Verständnis durch unterschiedliche Erklärungsansätze und vielfache Wiederholungen und Übungen unmöglich gemacht. Manche Befürworter dieser Entwicklung „weg von den Fachinhalten“ fordern ganz offen die Abschaffung aller Fächer.

Worin besteht nun der eigentliche Unterschied zwischen dem an den Hochschulen betriebenen Fach Mathematik und dem „modernen“ Mathematikunterricht? Die nach dem neuen PISA-Konzept ohne Diskussionen den Schulen verordnete „Kompetenzorientierung“ sieht die eigentliche mathematische Leistung in den sogenannten Modellierungsaufgaben. Für den Schwierigkeitsgrad werden dabei die analysierenden Texte als grundlegend angesehen. Diese Texte müssen einen strikten Alltagsbezug haben - sei dieser auch noch so abstrus und realitätsfern.

Die diesen Aufgaben zugrundeliegenden „Rechenaufgaben“ werden als minderwertig betrachtet. Schon ab der Unterstufe sollen Taschenrechner oder andere digitale Werkzeuge diese angeblich zweitrangigen Aufgaben übernehmen.

Die Folge ist, dass grundlegende mathematische Kenntnisse der Mittelstufe den Abiturienten  fehlen. Stattdessen können sie die meist unrealistisch kostümierten Textaufgaben entkleiden, was „moderne“ deutsche Fachdidaktiker für eine entscheidende Kompetenz halten. In den USA und vielen anderen Ländern der OECD sind solche Textaufgaben  übrigens weitgehend unbekannt

Können Sie diese PISA-Aufgaben lösen?

Eine Beispiel-Aufgabe aus dem Jahre 2010 soll demonstrieren, worin der Unterschied zwischen der fachlichen Analyse, der Vorbereitung für den Unterricht und den Vorschlägen der Mathematikdidaktik besteht. Die Mathematikdidaktiker Siller und Greefrath haben seinerzeit die folgende unrealistische Aufgabe gestellt: Auf zwei geradlinigen Straßen, die sich kreuzen, fahren zwei Autos mit jeweils konstanter Geschwindigkeit, 50 km/h bzw. 60 km/h, auf die Kreuzung zu. Unter welchen Umständen stoßen die ungebremsten Autos an der Kreuzung zusammen? (Stillschweigend sollen die Autos dabei als Massenpunkte modelliert werden).

Wer den Dreisatz verstanden hat, wird spontan antworten: Die Entfernungen der Autos vom Kreuzungspunkt müssen nur genau proportional zu ihren Geschwindigkeiten sein, damit es einen Crash gibt. Soweit die fachliche Analyse: fertig. Der Lehrer würde natürlich zunächst den Kindern etwa schon in der 6. Klasse die physikalische Begrifflichkeit einer gleichförmigen Bewegung durch einfache Beispiele nahebringen und den Fall gleicher Geschwindigkeiten behandeln, damit das Thema Proportionalität für die 7. Klasse vorbereitet wird, wo die Aufgabe mit einem allgemeinen Geschwindigkeitsverhältnis gestellt und gelöst werden könnte.

Mathematik-Unterricht als Mathematik-Vermeidung

Siller und Greefrath hingegen sehen in dieser Aufgabe eine neue Herausforderung an den Mathematikunterricht. Auf die simple mathematische Lösung, auf die jeder kommt, der noch wirklichen Mathematikunterricht – welcher Schulform auch immer – genossen hat, gehen sie nicht ein. Stattdessen wünschen sie sich im Rahmen einer didaktischen Infantilisierung eine haptische Erfahrung mit Spielzeugautos. Außerdem empfehlen sie wegen der methodischen Vielfalt alles auszuprobieren, was der Taschenrechner hergibt: sowohl eine graphische Behandlung mit Dynamischen Geometriesystem (DGS), eine symbolische mit Computeralgebrasystem (CAS) und eine numerische mit Tabellenkalkulation (TBK).

Siller und Greefrath offenbaren, was in der kompetenzorientierten Mathematikdidaktik der Einsatz digitaler Werkzeuge bezwecken soll: den vollständigen Ersatz mathematischer Argumente durch stumpfen Rechnereinsatz, wo immer es möglich ist; de facto also Mathematikvermeidung.

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Die häufig anzutreffende Argumentation, Mathematik sei sowieso im Abiturkanon mächtig überbewertet und nur für maximal fünf Prozent der angehenden Studenten erforderlich, ist genauso falsch wie obsolet. Mindestens die Hälfte aller Fachbereiche an den Universitäten verlangen im Rahmen der Studierfähigkeit von Abiturienten grundlegende Mathematikkenntnisse, an technischen Universitäten und Fachhochschulen teilweise noch deutlich mehr: etwa Ingenieurwissenschaften, Informatik, Physik, Chemie, Psychologie, Wirtschaftswissenschaften, Betriebs- und Volkswirtschaftslehre sowie alle modernen Studiengänge der „economics“ oder der „business economics“.

von Marc Etzold, Konrad Fischer, Lin Freitag

Deren massive Beschwerden, dass sie bei immer mehr Abiturienten nicht einmal mehr auf grundlegende Mittelstufenkenntnisse zurückgreifen können und Brückenkurse mit Punkt- und Strichrechnung beginnen müssten, belegen den freien Fall des fachlichen Niveaus. Wieso müssen jetzt an den Hochschulen mit Steuergeldern die fachlichen Grundlagen wiederholt oder gar erst eingeführt werden, die wiederum mit Steuergeldern in Form der neuen kompetenzorientierten Unterrichtskonzepte in den Schulen erfolgreich verhindert wurden?

Fassen wir zusammen: Die Kultusministerkonferenz und die Fachdidaktik als Magd der aktuellen Bildungspolitik bieten nur Ersatzprodukte feil, mit denen weder Ausbildungsbetriebe noch Hochschulen zufrieden sein können. Ob der Wirtschafts- und Wissenschaftsstandort Deutschland sich eine derartige Nivellierung insbesondere der fachlichen Ansprüche auf breiter Front leisten kann, ist im Rahmen der weltweiten Konkurrenz um die klügsten Köpfe und deren Innovationen auch zur Aufrechterhaltung des derzeitigen Lebensstandards mehr als fraglich.

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