Bildungskrise Warum das Hauptschulsterben die Wirtschaft gefährdet

In der Bildungspolitik tobt ein neuer Klassenkampf. Die alte Hauptschule stirbt – und die Politik schwankt zwischen Rettung und Radikalkur. Über die Konzepte der Länder und die Folgen für die Wirtschaft.

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Lernen fürs Lebens: Neuntklässler der Bochumer Werner-von-Siemens-Schule Quelle: Dirk Krüll für WirtschaftsWoche

Erwin Schulte nimmt es sehr genau. Keine Arbeit verlässt den Raum, ohne dass der Schreinermeister sie penibel prüft. Schultes Reich ist die Lernwerkstatt Holz an der Werner-von-Siemens-Schule in Bochum. Hier demonstriert er Neunt- und Zehntklässlern den richtigen Umgang mit Bohrer, Hobel und Schleifpapier. Und nicht nur das. Schulte will seinen Schülern mehr mitgeben: Pünktlichkeit, Genauigkeit, Zuverlässigkeit. Tugenden, die sie brauchen, um auf dem Arbeitsmarkt eine Chance zu haben.

Gewalt, Drogen und Leistungsverweigerung – mit dem gängigen Image einer Hauptschule haben die Bochumer nur wenig gemein. Projekte wie die Lernwerkstatt haben ihr einen guten Ruf eingebracht. Von zehn Abgängern, die eine Ausbildung beginnen, halten hier neun durch. Üblicherweise sind es nur fünf bis sieben. Auch für die Schule selbst zahlt sich das aus: Sie verbucht konstante Anmeldezahlen. Und das seit Jahren.

Doch solche Hauptschulen sind selten geworden in Deutschland. Immer weniger Eltern vertrauen dieser Schulform noch ihre Kinder an. Zwischen 1999 und 2008 fielen die Schülerzahlen der Hauptschulen deutschlandweit um knapp 25 Prozent. Immer mehr Bundesländer reagieren deshalb mit Reformen, die ein gemeinsames Ziel haben: die komplette Abschaffung der Hauptschule.

Bildungssystem produziert hoffnungslose Schicksale

In der Politik reift die Erkenntnis, dass das deutsche Bildungssystem schon zu lange hoffnungslose Schicksale produziert – und damit fast ohne Umwege Empfänger von Sozialleistungen. Die gewaltige Summe von 2,8 Billionen Euro koste Deutschland die unzureichende Ausbildung seiner Schüler, rechnet der Bildungsökonom Ludger Wößmann vor. Wohlstand, der Deutschland in den kommenden 90 Jahren verloren ginge, wenn das Niveau an den Schulen so bliebe, wie es ist. Wößmanns Gleichung: Erst schränkt unzureichende Bildung die persönliche Entfaltung ein. Später übersetzt sich diese Verkümmerung in kümmerliche Wachstumschancen. „Es geht nicht um Peanuts“, warnt Wößmann.

Mittelständler und Großkonzerne treibt die gleiche Sorge: Wie komme ich in Zukunft noch an gut qualifiziertes Personal? Nervös machen sie Zahlen wie diese: 5,2 Millionen Fachkräfte könnten 2030 in Deutschland fehlen, warnt eine Prognos-Studie für die Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft. Das Problem ist dabei weniger die Abiturienten- und Studierquote. Eine bislang ungenutzte Fachkräfte-Reserve schlummert für die Unternehmen unterhalb des Gymnasiums. Dort sitzen die am schlechtesten ausgebildeten Schüler, bei denen es „noch nicht gelungen ist, die Defizite zu beheben“, klagt Sybille von Obernitz, Bildungsexpertin beim Deutschen Industrie- und Handelskammertag.

An der Frage, wie dieser Missstand im System be- und das Potenzial gehoben werden kann, ist ein neuer Klassen-Kampf entbrannt. Er konzentriert sich vor allem auf eine Schulform: die Hauptschule. Sie ist in den letzten Jahren in vielen Städten und Regionen zu einem Synonym für Perspektivlosigkeit geworden, verkommen zur Restschule für die bildungsferne Schicht. Und dieser stille Tod hat handfeste Gründe. Denn die Hauptschule leistet nicht, was sie sollte.

Ursprünglich sollte sie Jugendliche auf eine Berufsausbildung vorbereiten. Eigentlich. Die Realität sieht anders aus: Etwa 15 Prozent aller deutschen Schüler erreichen heute nicht das Grundbildungsniveau von 420 Pisa-Punkten. In der Diktion des internationalen Schülervergleichstests gilt fast jeder Fünfte somit als ein solcher „Risikoschüler“. Hinter der nüchternen Zahl 420 verbergen sich Jugendliche, die mit 15 Jahren mühsamer rechnen und fehlerhafter schreiben als durchschnittliche Grundschüler – und überdurchschnittlich viele von ihnen gehen auf eine Hauptschule. Ihre Chancen auf sinnvolle Arbeit, mit der sie sich ohne staatliche Stütze ernähren können, sind nahe null.

Grafik: Entwicklung der Schülerzahlen

Fast jeder vierte Hauptschüler sagt Jahr für Jahr sogar ganz ohne Abschluss Lebewohl. Gleich mehrere Jahrgänge aus Neu- und bislang erfolglosen Altbewerbern tummeln sich dann gemeinsam auf dem Ausbildungsmarkt. Fast die Hälfte all dieser Azubis in spe – ob mit oder ohne Abschluss – muss regelmäßig erst einen Grundbildungskurs absolvieren, um überhaupt die Reife für eine Lehre zu erlangen. Es sind Bildungsarmutszeugnisse für die Schulen, aus denen sie kommen.

Die Wirtschaft reagiert entsprechend aufgeschreckt und engagiert sich zunehmend mit Vor-Ort-Programmen. Um geeigneten Nachwuchs zu gewinnen, richtete etwa der Stahlproduzent ThyssenKrupp Nirosta eine Metall-Werkstatt an einer Hauptschule am Krefelder Stammsitz ein. Zusätzlich schickt das Unternehmen eigene Ausbilder, um für die Lehre zum Industriemechaniker zu werben. „Wir stellen bei Bewerbern von der Hauptschule Defizite fest, deshalb werden wir dort selbst tätig“, sagt Elke Humpert, die Leiterin der Personalentwicklung. Ohne Absolventen von Haupt- und Realschulen werde man nicht wachsen können, so Humpert. Sie machen rund 60 Prozent der Lehrlinge aus. Aber bei Kosten von bis 80 000 Euro pro Ausbildung müssen es die richtigen sein. Selber reparieren könnte deshalb zur Dauereinrichtung werden.

Vorbild sind die skandinavischen Schulsysteme

Das aber ist gerade für Kleinbetriebe oft kaum möglich. Wenn Bärbel Rumohr für ihren siebenköpfigen Malerbetrieb im Krefelder Norden geeignete Lehrlinge sucht, ist manchmal bei 50 Bewerbern kein einziger passender dabei. „Die Kenntnisse, die wir hier brauchen, fehlen häufig. Wir können das nicht nachholen“, sagt sie. Es hapert vor allem in Mathe und Deutsch. Rumohr würde am liebsten einfach Realschüler nehmen, aber „die kriegen sie kaum“. Also nutzt sie die Zuschüsse der sogenannten Einstiegsqualifizierung der Arbeitsagentur. Praktikanten sollen so in einem Jahr im Betrieb ausbildungsreif werden.

Schlechte Schüler, abwinkende Eltern und drängende Wirtschaft – immer mehr Bundesländer, denen die Schulpolitik als eine der letzten Domänen geblieben ist, ziehen aus dem Druck Konsequenzen. Pädagogische Vorbilder für den Umbau der Hauptschule sind dabei die gelobten skandinavischen Schulsysteme, historisch bedingte Vorreiter die ostdeutschen Länder. In der ehemaligen DDR gab es mit der polytechnischen Oberschule nur eine weiterführende Schule.

Nach der Wende wurde das Gymnasium übernommen, die westlichen Modelle von Haupt- und Realschule meist in einer weiteren Schulform vereint. Nun gewinnt dieses Nimm-zwei-Prinzip auch im Westen die Oberhand. Rheinland-Pfalz führte 2009 die Realschule Plus ein, legte Haupt- und Realschulen zusammen. In Berlin existiert neben dem Gymnasium künftig nur noch die sogenannte Sekundarschule, in der der Haupt- und Realschulabschluss gemacht werden kann. Hamburg peilt ein zweigliedriges Nebeneinander von Gymnasien und Stadtteilschulen an.

Trostlose Analysen des Bildungssystems

Dass der Kampf für bessere Bildung am unteren Ende des Systems beginnen muss, fordert Jürgen Baumert schon lange. Der Berliner Max-Planck-Direktor gilt als Pisa-Papst, weil er den ersten deutschen Leistungstest geleitet hat. Seine Ergebnisse waren wenig erfreulich. „Man wird seine Herkunft nicht los“, ist eine von Baumerts trostlosen Analysen. Mit anderen Worten: Deutsche Schulen vergrößern die sozialen Herkunftsunterschiede, statt sie einzuebnen.

Immerhin: Die Bundespolitik gibt sich erkenntniswillig. In Zukunft würden sogenannte lokale Bildungsbündnisse eingerichtet, „um Kinder besser fördern zu können“, sagt Cornelia Quennet-Thielen, Staatssekretärin im Bundesbildungsministerium – „vor allem für Kinder aus sozial schwachen Familien und solche mit Migrationshintergrund“. Zwischen 20.000 und 40.000 Euro sollen diese lokalen Bündnisse bald für jede Schule wert sein, wenn die Länder das Angebot annehmen. Geld, um Förderkurse in den Ferien, Ausflüge oder Theaterprojekte zu finanzieren. Ein Land wie Deutschland, sagt Quennet-Thielen, „ funktioniert nicht ohne gute Schulen“.

Rütli-Schule: 24 Millionen Quelle: REUTERS

Gute Schule? In den Ohren von Lehrerinnen wie Yvonne Bluhm musste ein solcher Anspruch lange Zeit wie blanker Hohn klingen. „Menschenverachtendes Auftreten“, „Aggressivität, Respektlosigkeit und Ignoranz“, „Sackgasse“: So lasen sich 2006 die Hilferufe des demoralisierten, an seine Grenzen geführten Lehrerkollegiums an der Berliner Rütli-Schule. Angesichts der Zustände in ihrer Hauptschule sahen Bluhm und ihre Kollegen nur noch einen Ausweg: den offenen Brief an den Senat – und darin die Bitte um Schulschließung.

Rütlistraße 41, Berlin-Neukölln. Hier, wo vor vier Jahren der Offenbarungseid deutscher Schulpolitik geleistet wurde, versuchen heute Bagger, die Vergangenheit zu begraben. Campus Rütli heißt das 24 Millionen Euro teure Projekt, aus einer Schule mit Stigma einen Ort mit Aura aufzubauen. Die Lage im Problemkiez ist zwar nicht besser als damals, die Arbeitslosenrate liegt bei über 30 Prozent. 90 Prozent der Schüler haben einen Migrationshintergrund.

Aber die alte Schule existiert nicht mehr. Auf dem Gelände werden die alte Haupt- und Realschule vereint, eine neue gymnasiale Oberstufe gegründet, eine Kita, ein Elternzentrum und Werkstätten gebaut. Die Schüler essen schon in einer neuen Mensa, zum Austoben hat der Energieriese Vattenfall eine Kletterwand gestiftet. Der Spatenstich für eine Sporthalle steht kurz bevor. „Schulisch ist nichts geblieben, wie es war – und das ist gut so“, sagt die  neue Schulleiterin Cordula Heckmann. „Die Hauptschüler haben sich immer als Verlierer des Systems verstanden. Aus der Position konnten wir sie schwer entwickeln.“ Perspektiven bieten – das ist der Geist einer Reform, die den Namen Rütli als Mahnmal erhalten, die brüchigen Fundamente aber schleifen will.

Trend zur Mittelschule

In den fünf unionsgeführten Bundesländern Bayern, Baden-Württemberg, Hessen, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen stoßen solche Gedanken auf Widerstand. Zwar gibt es teilweise auch dort die Möglichkeit, dass sich Haupt- und Realschulen zusammenschließen. Meistens aber ist das Etikettenschwindel. Wie in Nordrhein-Westfalen, wo Schulen an einem Standort zusammengelegt werden, aber formal eigenständig bleiben. Die Unions-Länder sind sich einig: Die Hauptschule soll besser werden, nicht verschwinden. „Nicht die Schulform ist entscheidend, sondern die Qualität der Schule“, sagt stellvertretend Klaus Kaiser, Schulexperte der CDU-Fraktion im Düsseldorfer Landtag. Kaiser ist sich sicher: Schafft man die Hauptschule ab, sind die Probleme nicht vom Tisch.

In Kaisers Heimat NRW könnte sich dennoch bald eine entscheidende Wende vollziehen. Am 9. Mai stehen die Landtagswahlen im bevölkerungsreichsten Bundesland an. Und Veränderungen wird es wohl auf jeden Fall geben. Die FDP diskutiert eine regionale Mittelschule, die Haupt-, Real- und Gesamtschule zusammenfasst. Zwar erst einmal nur als zusätzliches Modell zum bestehenden, aber es wäre ein Anfang. Noch weniger zimperlich ist die SPD. Sie will schrittweise eine Gemeinschaftsschule einführen, die selbst das Gymnasium in seiner jetzigen Form abschaffen soll. Die klassische Hauptschule, sie könnte im 18-Millionen-Einwohner-Land bald Vergangenheit sein.

Die 15-jährige Isabell wird davon nichts mehr haben, wie auch immer ihre Eltern im Mai wählen werden. Die Schülerin der Bochumer Werner-von-Siemens-Schule bastelt in der Holz-Lernwerkstatt konzentriert an einem Rennwagen-Modell. Ob sie sich später eine Schreiner-Lehre vorstellen könne? Isabell schüttelt den Kopf. Das dann doch nicht. Lieber möchte sie Erzieherin werden – für sie ein Beruf mit mehr Zukunft.

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