Bildungspolitik Akademisierungswahn gefährdet berufliche Bildung

Jeder soll studieren können. Jahrelang haben deutsche Bildungspolitiker das gepredigt und so Bildungszertifikate geschwächt. Dieselben Politiker wollen nun die Berufsbildung retten. Das kann kaum gut gehen.

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Wer mal in einer Pressestelle oder in einer PR-Agentur gearbeitet hat, weiß: Wenn die harten Fakten und die Folgen der eigenen Taten wenig erfreulich sind, muss man stattdessen Wunschvorstellungen propagieren.

Die Pressestelle des Bundesministeriums für Bildung und Forschung hat das bei der Vorstellung des Berufsbildungsberichts mustergültig vorexerziert: „Top-Chancen auf Ausbildung“ heißt es in einer Pressemitteilung aus Anlass der Veröffentlichung des Berufsbildungsberichts. Die vom "Spin" des Ministeriums befreite Nachricht lautet: Immer weniger junge Menschen machen eine Ausbildung. Etwa 510 900 junge Menschen schlossen 2016 einen neuen Ausbildungsvertrag ab, wie das Statistische Bundesamt (Destatis) am Mittwoch meldete. Das waren 1,1 Prozent weniger als 2015 und ein neuer Tiefstand seit der Wiedervereinigung. „Dieser schon in den Vorjahren rückläufige Trend ist maßgeblich auf die demografische Entwicklung in der für die duale Ausbildung typischen Altersgruppe sowie auf eine höhere Studierneigung bei den Schulabsolventinnen und -absolventen mit Hochschulreife zurückzuführen“, meldet Destatis.

Josef Kraus kann es nicht lassen. Der frühere Präsident des Lehrerverbands rechnet in seinem neuen Buch wütend mit den Bildungsreformern ab. Recht hat er.
von Ferdinand Knauß

Woher kommt aber diese „höhere Studierneigung“? Die Antwort: Weil eine große Allianz der mit Bildungspolitik Befassten – BMBF natürlich eingeschlossen – jahrzehntelang jungen Menschen und deren Eltern die Botschaft verkündet hat, dass erst mit dem Abitur ein lebenswertes Leben, nämlich eines als „Akademiker“, möglich ist.

Die Geschichte dieser verheerenden Allianz, in der die Bildungsökonomen der OECD und der Bertelsmann-Stiftung einer völlig orientierungslosen Politik den Ton vorgaben, kann man bei Lehrerverbandschef Josef Kraus („Wie man eine Bildungsnation an die Wand fährt“) und beim Philosophen Julian Nida-Rümelin („Akademisierungswahn“) nachlesen.

Das unverzichtbare Mittel zur Steigerung der Abiturienten- und in der Folge auch Akademikerquoten – 1995 studierten laut Destatis 25,8 Prozent eines Jahrgangs, zwanzig Jahre später 55,7 Prozent – war die Absenkung der Hürden für Bildungszertifikate. Wie auch sonst wäre zu erklären, dass es nicht nur immer mehr Abiturienten gibt, sondern sie auch immer besser benotete Zeugnisse erhalten? Allein in Berlin hat sich die Zahl der Abiturzeugnisse mit einem Notendurchschnitt von 1,0 innerhalb von zehn Jahren vervierzehnfacht. In anderen Bundesländern ist die Tendenz ähnlich. Außer den verantwortlichen Schulpolitikern wird wohl kein Mensch, der ein halbwegs realitätsnahes Bild vom Menschen an sich und von Schülern im Besonderen hat, annehmen, dass diese Zunahme durch gestiegene Intelligenz oder geniale neue Unterrichtsmethoden zu erklären wäre.

Bildungspolitik nach dem Vorbild der EZB

Die Bildungspolitik hat sich offensichtlich die Inflationspolitik der Europäischen Zentralbank zum Vorbild genommen. So wie die EZB Geld in das Finanzsystem zaubert, indem sie die Zinsen senkt, sorgen die Schulministerien der Bundesländer durch allerlei das Niveau senkende Maßnahmen dafür, dass die Noten besser und die „Studierberechtigten“ zahlreicher werden. Dazu muss man keine öffentlich diskutierte Politik machen. Scheinbar unbedeutende Verwaltungsmaßnahmen gegenüber den Schulen genügen, zum Beispiel die Abschaffung von Fehlerindices bei Klassenarbeiten. Besonders wirkungsvoll ist zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen die Vorgabe an Lehrer, jedem Schüler, der eine „Fünf“ bekommt, einen individuellen Förderplan zukommen zu lassen. Das klingt wunderbar fürsorglich, hat aber vor allem dies zur Folge: Da auch Lehrer nur Menschen sind, geben sie vermutlich dann doch lieber eine Gnaden-Vier – damit der Fall für sie erledigt und der Feierabend gerettet ist.

Striche zählen und Werte ablesen

Doch nun, da mehr als die Hälfte eines Jahrgangs Abitur macht und die übergroße Mehrheit dieser jungen Menschen sich vom Dolby-Surround-Sirenengesang der Akademisierungspolitik an die Hochschulen locken ließ, fällt den Sirenen ein, dass es auch woanders „Chancen“ gibt. Kommando zurück! ruft also die oberste Bildungspolitikerin der Republik, Ministerin Johanna Wanka: „Es gibt allen Grund, die gesellschaftliche Wertschätzung der dualen Ausbildung wieder zu erhöhen.“

„Wieder“ - das verräterische Wörtchen offenbart immerhin, dass man sich im BMBF wohl doch bewusst ist, dass man auf dem falschen Trip ist und das Ruder herumreißen muss. Längst rufen auch immer mehr Professoren nach der Kehrtwende. Zuletzt etwa die Historikerin Ute Frevert, die klagte, dass Hochschulen zunehmend mit jungen Menschen konfrontiert würden, die nicht studierfähig seien. Da es aber auch an den Hochschulen eine Noteninflation gebe, könnten die Arbeitgeber sich nicht mehr auf die Aussagekraft von Zeugnissen verlassen.

Vor allem aber dürften die in jüngster Zeit laut werdenden Alarmrufe aus der Wirtschaft entscheidend sein. Das ist einigermaßen kurios, da die gesamte Akademisierungspolitik stets von ökonomischen Argumenten motiviert war, die die OECD, die Bertelsmann-Stiftung und andere wirtschaftsnahe Institutionen jahrelang öffentlichkeitswirksam predigten. Nun fällt aber immer mehr Arbeitgebern ein, dass sie eben längst nicht nur auf studierte Theoretiker, sondern auf praxisnah ausgebildeten Nachwuchs angewiesen sind.

Denkfehler der Akademisierungsapostel

Vor lauter Akademisierungs- und Bildungsaufstiegsenthusiasmus hatte man eine schlichte Tatsache vergessen. Wenn alle studieren, macht keiner mehr eine berufliche Ausbildung. Nun erinnert man sich wieder an das, was ausgerechnet ein Philosoph und Geistesmensch wie Nida-Rümelin ins Gedächtnis zurückrief: Dass das „duale System“ der nichtakademischen Ausbildung in Berufsschulen und Ausbildungsbetrieben der Garant dafür ist, dass die deutsche Wirtschaft über vergleichsweise besonders gut ausgebildete Arbeitskräfte verfügt. Deutsche Arbeitnehmer sind daher flexibler und leichter vermittelbar als Kollegen in anderen Ländern, deren Ausbildungswege entweder zu verschult oder zu stark auf den Ausbildungsbetrieb fixiert sind.

Das scheinbar stärkste Argument der Akademisierungsapostel zur Abwehr von Kritik ist der Verweis auf das geringere Arbeitslosigkeitsrisiko von Akademikern. Das ist allerdings ein Denkfehler, weil der Effekt des „Downgrading“ unbeachtet bleibt: Natürlich bekommen eher diejenigen eine Stelle, die höher qualifiziert scheinen. Akademiker machen also heute Jobs, die bisher Nichtakademiker innehatten. Aber dass ein akademisches Studium kompetentere Handwerker, Techniker und Kaufleute hervorbringt als das duale System, und damit die Volkswirtschaft insgesamt stärkt, kann man bezweifeln. Dass die weitgehende Akademisierung der Jugend keine positiven Beschäftigungseffekte hat, legt schon der Blick auf zahlreiche Länder mit noch höherer Akademikerquote als Deutschland nahe, zum Beispiel Italien und Spanien, die zugleich unter immenser Jugendarbeitslosigkeit leiden.

Deutschland exportiert sein Modell der dualen Ausbildung in Betrieben und Berufsschulen gern ins Ausland. Zuhause läuft aber noch längst nicht alles rund auf dem Lehrstellenmarkt.

Das duale System der beruflichen Ausbildung, diese große und historisch bewährte Stärke Deutschlands (und Österreichs und der Schweiz), droht nun durch den Akademisierungswahn der Politik unter die Räder zu kommen. Im Ausland bewundert und daher von Mexiko bis Vietnam als Modell für eigene Reformen angesehen, steht es in Deutschland vor existentiellen Problemen. Einerseits durch den Mangel an Ausbildungswilligen, die sich stattdessen in Uni-Hörsälen drängen. Andererseits aber auch durch die sträfliche Vernachlässigung des Berufsschulwesens selbst. Es gibt nicht nur zu wenige Lehrer, sondern auch kaum noch grundständige Studiengänge für Berufsschullehrer.

Die Bildungspolitik, das wird immer deutlicher, steht vor den Trümmern eines einst funktionierenden Systems, das sie selbst kaputtreformiert hat. Das deutsche Bildungssystem ist Musterbeispiel dafür, dass politische Reformen bisweilen nicht Lösungen, sondern Probleme verursachen. Dass diejenigen, die das Zerstörungswerk zu verantworten haben, auch am besten dafür geeignet sind, es wieder zu errichten, ist zu bezweifeln.

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