Bildungspolitik Akademisierungswahn gefährdet berufliche Bildung

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Bildungspolitik nach dem Vorbild der EZB

Die Bildungspolitik hat sich offensichtlich die Inflationspolitik der Europäischen Zentralbank zum Vorbild genommen. So wie die EZB Geld in das Finanzsystem zaubert, indem sie die Zinsen senkt, sorgen die Schulministerien der Bundesländer durch allerlei das Niveau senkende Maßnahmen dafür, dass die Noten besser und die „Studierberechtigten“ zahlreicher werden. Dazu muss man keine öffentlich diskutierte Politik machen. Scheinbar unbedeutende Verwaltungsmaßnahmen gegenüber den Schulen genügen, zum Beispiel die Abschaffung von Fehlerindices bei Klassenarbeiten. Besonders wirkungsvoll ist zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen die Vorgabe an Lehrer, jedem Schüler, der eine „Fünf“ bekommt, einen individuellen Förderplan zukommen zu lassen. Das klingt wunderbar fürsorglich, hat aber vor allem dies zur Folge: Da auch Lehrer nur Menschen sind, geben sie vermutlich dann doch lieber eine Gnaden-Vier – damit der Fall für sie erledigt und der Feierabend gerettet ist.

Striche zählen und Werte ablesen

Doch nun, da mehr als die Hälfte eines Jahrgangs Abitur macht und die übergroße Mehrheit dieser jungen Menschen sich vom Dolby-Surround-Sirenengesang der Akademisierungspolitik an die Hochschulen locken ließ, fällt den Sirenen ein, dass es auch woanders „Chancen“ gibt. Kommando zurück! ruft also die oberste Bildungspolitikerin der Republik, Ministerin Johanna Wanka: „Es gibt allen Grund, die gesellschaftliche Wertschätzung der dualen Ausbildung wieder zu erhöhen.“

„Wieder“ - das verräterische Wörtchen offenbart immerhin, dass man sich im BMBF wohl doch bewusst ist, dass man auf dem falschen Trip ist und das Ruder herumreißen muss. Längst rufen auch immer mehr Professoren nach der Kehrtwende. Zuletzt etwa die Historikerin Ute Frevert, die klagte, dass Hochschulen zunehmend mit jungen Menschen konfrontiert würden, die nicht studierfähig seien. Da es aber auch an den Hochschulen eine Noteninflation gebe, könnten die Arbeitgeber sich nicht mehr auf die Aussagekraft von Zeugnissen verlassen.

Vor allem aber dürften die in jüngster Zeit laut werdenden Alarmrufe aus der Wirtschaft entscheidend sein. Das ist einigermaßen kurios, da die gesamte Akademisierungspolitik stets von ökonomischen Argumenten motiviert war, die die OECD, die Bertelsmann-Stiftung und andere wirtschaftsnahe Institutionen jahrelang öffentlichkeitswirksam predigten. Nun fällt aber immer mehr Arbeitgebern ein, dass sie eben längst nicht nur auf studierte Theoretiker, sondern auf praxisnah ausgebildeten Nachwuchs angewiesen sind.

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