Bildungspolitik Das bundesweite Zentralabitur ist eine Lachnummer

Das Zentralabitur sollte für ein einheitlich hohes Niveau in allen Bundesländern sorgen. Schon vor seiner ersten Durchführung in diesem Jahr entpuppt es sich als ein weiterer Schritt des Niveauverlustes.

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Abiturprüfung im Fach Englisch in einer Schul-Turnhalle. Quelle: dpa Picture-Alliance

Schon Ende des letzten Jahrzehnts häuften sich die Beschwerden über die unterschiedlichen Anforderungen im Abitur der einzelnen Bundesländer. Die Kultusministerkonferenz sah sich unter Handlungsdruck gesetzt und beschloss bereits 2012 ein bundesweites Zentralabitur ab dem Jahre 2017.

Ziel sollte es sein, die teilweise erheblichen Unterschiede vor allem in den fachlichen Anforderungen der einzelnen Bundesländer nicht weiter auseinander driften zu lassen. Wegen der zunehmenden Zulassungsbeschränkungen fühlten sich Länder mit niedrigen Abiturientenquoten bei der Zulassung ihrer Absolventen massiv benachteiligt.

Die Länder Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Bayern, Sachsen, Schleswig-Holstein und Niedersachsen erklärten sich in einer ersten Erprobungsphase dazu bereit, gemeinsame Aufgabenstellungen zu verwenden und Druck auf die Länder auszuüben, die sich diesem Vorhaben verweigern wollten. Schon bei Bekanntwerden der Modalitäten dieses „gemeinsamen Zentralabiturs“ tauchten erste Zweifel an dem Vorhaben auf, da man sich nur darauf einigen konnte, in den Fächern Mathematik, Deutsch und Englisch jeweils nur eine Teilaufgabe von den Schülern der beteiligten Bundesländer gemeinsam bearbeiten zu lassen.

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Auch für das kommende „bundesweite Zentralabitur“ 2017 gilt dieser Minimalkonsens. Die Herkunft der Aufgaben stammt dabei aus den Ländern selbst, die von einer Expertengruppe des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) in Berlin bearbeitet und modifiziert wurden. Aus diesem Pool, der nun auch das Fach Französisch enthält, können sich die einzelnen Bundesländer auf freiwilliger Basis bedienen.

Die Antwort aus einem der beteiligten Ministerien auf die Frage, ob nur Teilaufgaben aus dem Pool genommen würden, bestätigt diese Annahme: „Ja. Das liegt daran, dass in den Ländern verschiedene rechtliche und organisatorische Rahmenbedingungen vorliegen, die nicht ohne entsprechenden zeitlichen Vorlauf angeglichen werden können.“

Der eigentliche Sinn eines derartigen bundesweiten Zentralabiturs ist nicht mehr zu erkennen, selbst unter der Voraussetzung, dass diese Vorgaben einmal vereinheitlicht sein sollten. Die gesamte Abiturnote setzt sich nämlich zu zwei Drittel aus den Noten der "Qualifikationsphase" (früher Oberstufe) und zu einem Drittel aus der Abiturprüfung selbst zusammen.

Striche zählen und Werte ablesen

Diese enthält je nach Bundesland neben drei oder vier schriftlichen Fächern auch ein oder zwei mündliche Fächer, die zudem noch in den einzelnen Bundesländern unterschiedlich gewichtet werden. Das gesamte Zentralabitur beträgt also in der Regel kaum mehr als ein Viertel der Gesamtabiturnote. Nimmt ein Bundesland jetzt also nur eine Teilaufgabe aus dem gemeinsamen Aufgabenpool aus einem der vier beteiligten Fächer heraus, macht dieser Anteil nur einen geringen Prozentsatz der Gesamtaufgabe aus, da diese je nach Bundesland eine unterschiedliche Anzahl an weiteren Teilaufgaben enthält und länderspezifisch auch noch unterschiedlich gewichtet wird. Noch viel geringer ist der prozentuale Anteil dieser Teilaufgabe am Zentralabitur und geradezu vernachlässigbar gering an der gesamten Abiturnote.

Diese Einschätzung wird durch eine weitere Mitteilung des Ministeriums bestätigt: „Rein mathematisch ist der jeweilige Prozentsatz somit in der Tat rudimentär. Es ist abzusehen, dass sich hier auch über die Nutzung des ländergemeinsamen Aufgabenpools keine tiefgreifende Änderung ergibt.“

Abiturienten können sich vor Mathematik drücken

Warum also so viel Aufwand um so wenig Gemeinsames, dass sich bei genauerem Hinsehen weiter minimiert? Da die Schüler in der Abiturprüfung verschiedene Aufgabenfelder abdecken müssen, werden sie selbst bei Entnahme von Aufgabenteilen aus allen vier Fächern maximal auf zwei Teilaufgaben aus dem Pool stoßen. Schließlich gibt es für die meisten im schriftlichen Zentralabitur einzubringenden Fächer in dem bisherigen Kanon des IQB noch gar keine Aufgaben.

Bezogen auf das Fach Mathematik, für das ja eigentlich verbindlich Bildungsstandards entwickelt wurden, gibt es zudem immer mehr Länder, die selbst den Minimalkonsens geschickt unterlaufen: Mathematik gehört da nicht mehr zum verpflichtenden Abiturkanon. Nicht nur in NRW können Schüler der Mathematik im gesamten Abitur komplett ausweichen. Indem sie beispielsweise im bilingualen Zweig die Leistungskurse Deutsch und Englisch wählen, dazu Erdkunde bilingual als drittes und Biologie als mündliches vierten Abiturfach. Sachsen-Anhalt hat gerade beschlossen, Mathematik aus dem verpflichtenden Kanon der Abiturprüfung ganz zu entfernen.

Rechtschreibschwächen, Noteninflation und Niveauverlust. Bildungsforscher Hans Peter Klein beklagt die politisch gewollte Nivellierung der Ansprüche in deutschen Bildungseinrichtungen.

Erschwerend kommt hinzu, dass es im IQB mehrere Aufgabenpools gibt. Grund: Aufgrund der unterschiedlichen Ferienzeiten der Bundesländer ist eine zeitgleiche Bearbeitung nicht möglich. Für die Sprachen gibt es wohl zwei verschiedene Pools zu zwei unterschiedlichen Zeitpunkten, in Mathematik nur einen. Es wird also keinesfalls dazu kommen, dass die Schüler aller Bundesländer auch nur eine komplette Abituraufgabe, ja nicht einmal eine Teilaufgabe gemeinsam bearbeiten werden. Ob sich überhaupt alle Bundesländer und in welchem Umfang aus dem Aufgabenpool bedienen werden, ist derzeit wohl noch völlig offen. Man darf gespannt sein.

Auf die Frage nach dem Sinn dieser seltsamen Vorgehensweise antwortete ein Ministerium wie folgt: „Bei dem Einsatz von Prüfungsaufgaben aus dem zentralen Abituraufgabenpool geht es nicht in erster Linie um den prozentualen Anteil, den eine einzelne Aufgabe an dem Gesamtergebnis ausmacht, sondern um die normierende Wirkung der Poolaufgaben auf alle im Abitur der Länder eingesetzten Aufgaben“. Die Folgen dieser Normierung konnte man gerade in Hamburg eindrucksvoll nachvollziehen. Eine geschriebene Probeklausur im Fach Mathematik hat dort zu einem Erdbeben geführt: Da der Notendurchschnitt auf 3,9 drastisch gesunken war, entschied der Bildungssenator, alle erzielten Noten um eine ganze Note nach oben zu setzen. Er verordnete außerdem zusätzliche Stundenkontingente im Fach Mathematik zur Vorbereitung auf die kommenden Abiturprüfungen. Ein derartiger Frevel soll sich nicht wiederholen.

Schaut man sich nun die Probeklausur aus Hamburg an, ist man überrascht über die geringen Anforderungen: Sie besteht beim "grundlegenden Niveau" zunächst aus der Überprüfung einiger Definitionen der Oberstufe und der rechnerischen Verwendung elementarer Unter- und Mittelstufenkenntnisse. Für die erste „hilfsmittelfreie“ Aufgabe sollen Schüler Ableitungen skizzieren statt ausrechnen. Statt Integrieren sollen sie Kästchen zählen. Höhepunkt ist dann die Erkenntnis, dass der Graph einer Funktion um zwei Einheiten nach unten sackt, wenn beim zugehörigen Funktionsterm "2" subtrahiert wird.

Die Aufgabe zur Stochastik ist – wenn man von der einfachen Definition des Erwartungswertes als Summe von Produkten der beteiligten Zahlen absieht – eine Aufgabe für Neuntklässler, bei der ein paar fehlende Zahlen in einem Baumdiagramm mit zweimal zwei Verzweigungen unter Verwendung der Grundrechenarten ergänzt werden sollen. Auf erhöhtem Anforderungsniveau sind die Aufgaben ähnlich – mitunter kommt eine offensichtliche Umformung hinzu, über die frühere Leistungskursschüler nur geschmunzelt hätten.

Fachlicher Unsinn in der Mathematikklausur

Das einzige, was an der Klausur schwer ist, ist die mit dem Taschenrechner zu bearbeitende Modellierungsaufgabe, die sich in langen Texten mit einer unwirklichen Problematik beschäftigt. Es soll ein Planspiel betrachtet werden, bei dem die Welt so vorgestellt wird, wie die Experten derartiger Aufgabenstellungen sie gerne hätten. Es gibt nur auf einfachste Weise zu behandelnde Funktionstypen, die vorgegeben werden. Die Abiturienten können existentielle Entscheidungen über die Ernährung der Bevölkerung fällen, indem sie Funktionswerte der Größe nach vergleichen.

Das Modell ist so angelegt, dass man eigentlich nie wirklich rechnen muss. Zur Sicherheit werden aber trotzdem – selbst auf erhöhtem Anforderungsniveau – noch Funktionswerte oder Ableitungen dieser einfachen Funktionen vorgegeben. Die in der Aufgabe vorgegebene Pseudomodellierung nimmt einen großen Teil der Klausur ein und ist so konstruiert, dass man allerdings die verschiedenen Zutaten des Kontextes leicht durcheinander werfen kann. So sollte man unbedingt die Worte „zulässige Einwohnerzahl“ von „tatsächliche Einwohnerzahl“ auseinanderhalten. Es handelt sich hier nicht einmal propädeutisch um eine Anwendung von Mathematik, sondern um fachlichen Unsinn, der für nichts gut ist. Solche eine Aufgabe unterläuft die von den Hochschulen eingeforderte Mathematik komplett.

Fazit: Die verwendeten Operatoren behaupten eine fachliche Auseinandersetzung mit den Inhalten, sind aber nur Hinweise auf die kompetenzkonditionierten Lösungsschemata und möglichen Taschenrechnergebrauch. Für die Entwicklung eines mathematischen Verständnisses völlig kontraproduktiv ist die Vielzahl der Aufgaben, die auch von den Schülern vehement kritisiert wurde. Mathematik ist kein Blitzschach, das sollte sich auch schon bis ins IQB herum gesprochen haben. Die normierende Wirkung derartiger Aufgabentypen verstärkt die Katastrophe, da nunmehr der bisher in einigen Bundesländern zumindest noch ansatzweise vorhandenen Fachlichkeit der finale Garaus gemacht wird.

Es ist schon mehr als verwunderlich, dass sich in Hamburg noch jemand darüber aufregt, dass der nicht nur dort auf die Schienen gesetzte Kompetenzzug mittlerweile eine Schneise der Verwüstung insbesondere an grundlegendem Basiswissen hinterlässt, und das längst nicht nur in Mathematik. Ein Lehrer in Hamburg kommentierte die Vorgänge dort wie folgt: „Erst wird durch die zwangsverordnete Kompetenzorientierung verhindert, dass die Schüler etwas lernen, dann versuchen die Verantwortlichen, die Spuren durch Notendumping zu verwischen. Das Abitur wird weiter in Richtung Lachnummer entwertet. Ein erbärmliches Schauspiel. Leider sitzen die schlimmsten Feinde der Bildung an der Spitze der zuständigen Behörden und Fortbildungsanstalten. Die Fixierung auf Ranking und Marktwert zerstört nicht nur die Grundlagen einer freien Bildung, sondern führt auch konsequent zum Betrug.“

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