Bildungspolitik Welche Bildungsangebote brauchen Flüchtlinge?

Nach Ansicht vieler hat auch fehlende Integration dafür gesorgt, dass Übergriffe wie in Köln geschehen konnten. Angeblich weiß man heute besser, wie Integration gelingt. Doch die Konzepte bleiben vage. Ein Gastbeitrag.

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Welche Bildungsangebote brauchen Flüchtlinge? Und wie lässt sich Integration möglichst erfolgreich gestalten? Quelle: dpa

Während europapolitisch immer noch die Frage im Vordergrund steht, ob und inwiefern eine Begrenzung des Flüchtlingsstromes herbeigeführt werden kann, ist auf Länderebene bereits eine nachgeordnete Frage von ebenso großer Relevanz, die bildungspolitischer Natur ist: Welche Bildungsangebote brauchen Flüchtlinge? Wie lässt sich Integration möglichst erfolgreich gestalten? Zwar wird von Bildungspolitikern aller Couleur immer wieder betont, dass aus der Vergangenheit gelernt worden ist und man heute besser weiß, wie die Integration von Flüchtlingen gelingen kann.

Bei Nachfragen und Konkretisierungen muss allerdings festgestellt werden, dass Ideen und Konzepte vage sind und häufig auch auf dieser Ebene das bloße „Wir schaffen das!“ dominiert. So wichtig eine positive Einstellung gegenüber Herausforderungen ist, sie alleine wird die bildungspolitische Verantwortung nicht tragen können. Hierfür sind tiefergehende pädagogische Überlegungen notwendig.

Klaus Zierer ist ein deutscher Erziehungswissenschaftler und seit 2015 Ordinarius für Schulpädagogik an der Universität Augsburg. Zuvor war er Professor an der Universität Oldenburg.

Das didaktische Dreieck – das Grundmodell pädagogischen Denkens und Handelns, das seine Wurzeln bereits in der Antike bei Aristoteles hat – kann helfen, um eine wissenschaftstheoretische Grundlage zu erhalten. Demzufolge lässt sich institutionelle Bildung in der Interaktion zwischen Lernenden und Lehrenden beschreiben, die sich in einem Unterrichtsgegenstand begegnen. Die Kernfrage für erfolgreiche Integration von Flüchtlingen lautet demzufolge aus bildungspolitischer Sicht: Wer lernt unter Unterstützung von wem was?

Flüchtlinge können Fachkräftemangel nicht beheben

Mit dem Aspekt „Wer lernt?“ ist die Frage eröffnet, wodurch sich Flüchtlinge auszeichnen, die gegenwärtig nach Deutschland kommen. Um Lernende angemessen unterstützen zu können, ist es wichtig zu wissen, wo diese stehen, welche Kompetenzen sie haben. Aus bildungsökonomischer Sicht hat Ludger Wößmann in einem kürzlich erschienen Artikel in der Zeitschrift „Forschung & Lehre“ diese Frage zu beantworten versucht.

Er macht deutlich, dass Flüchtlinge die Fachkräftelücke nicht schließen werden. Denn lediglich zehn Prozent der Flüchtlinge haben einen Hochschulabschluss und etwa zwei Drittel können nicht einmal auf einen berufsqualifizierenden Bildungsabschluss zurückgreifen. Vergleicht man diese Zahlen mit Personen ohne Migrationshintergrund in Deutschland, so wird das Ausmaß der Herausforderung sichtbar: In Deutschland erreichen knapp zwanzig Prozent einen Hochschulabschluss und nur vierzehn Prozent haben keinen berufsqualifizierenden Bildungsabschluss.

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Während also gut zwei Drittel der jungen Syrer in ihrer Muttersprache nur einfachste Aufgaben lösen können, sind es in Deutschland nur gut fünfzehn Prozent der Achtzehnjährigen.

Nach Jahren ohne Bildung kommen viele Angebote zu spät

Nun könnte man geneigt sein einzuwenden, dass es Kennzeichen des Menschseins ist, ein Leben lang lernen zu können. Das ist unbestritten richtig. Ebenso zweifelsfrei ist aber auch, dass vorausgehende Bildungserfahrungen Einfluss nehmen auf nachfolgende – der Matthäus-Effekt lässt also grüßen – und zu spät einsetzende Bildungsangebote selbst unter größtem Aufwand nicht mehr greifen können. Insofern wird die Aufgabe, Flüchtlinge an ein Bildungsniveau heranzuführen, das für europäische Verhältnisse notwendig ist, um am wirtschaftlichen Leben teilzunehmen, nicht einfacher, sondern schwieriger.

Letzteres vor allem auch deswegen, weil die Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen, häufig monatelang, manchmal sogar jahrelang in Flüchtlingslagern lebten, ohne vernünftig beschult worden zu sein, und zudem traumatische Erfahrungen gemacht haben, die wesentlicher Bestandteil der individuellen Bildungsbiographie sind und erst einmal aufgearbeitet werden müssen.

Was die Bildungspolitik leisten muss

Ernüchternder, weil noch wichtiger als eine Analyse aus bildungsökonomischer Sicht, ist ein Blick auf die Lebenskulturen von Flüchtlingen: Die Kultur des Glaubens, die Kultur der Familie, die Kultur der Arbeit und in diesem Sinn auch die Kultur der Bildung sind nicht miteinander vergleichbar. Während das christliche Abendland im Licht der Aufklärung steht und somit eine Bildungstradition im Zeichen der Humanität vorweist, zeichnet sich der Nahe Osten durch andere, weit weniger humanistische Traditionen aus.

Die Rolle der Religion, die Rolle der Frau, die Rolle der Arbeit und letztendlich auch die Rolle der Bildung sind völlig anders zu bewerten. Bildungsangebote für Flüchtlinge lassen sich folglich nicht nur aus bildungsökonomischer Sicht beleuchten, sondern erfordern eine tiefgreifende Analyse der Lebenskulturen, die das ganze Ausmaß der Herausforderung sichtbar werden lässt.

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Dieser Blick auf die Flüchtlinge soll nicht, dies sei an dieser Stelle betont, als Argument gegen die Aufnahme von Flüchtlingen dienen. Dennoch soll er deutlich machen, dass politisch keine unrealistischen Erwartungen geweckt werden dürfen. Letztendlich ist auch aus bildungspolitischer Sicht eine noch nie da gewesene Herausforderung zu bewältigen. Am günstigsten für erfolgreiche Bildung erscheinen vor diesem Hintergrund folglich die Jüngsten unter den Flüchtlingen, sofern durch Krieg und Flucht die traumatischen Erlebnisse und die Brüche in familiären Beziehungen noch zu bewältigen sind.

Der Aspekt „Unter Unterstützung von wem?“ stellt die Frage nach dem Lehrer: Während in der Vergangenheit vielfach das Ehrenamt diese Aufgabe übernommen hat, versuchen Bildungspolitik und Bildungsorganisationen langsam aber sicher einen Masterplan für die Qualifizierung von Integrationspersonal zu erstellen.

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Die Ideen, die sich hier aber auftun, überzeugen lediglich aus finanzieller Sicht, weniger aber aus erziehungswissenschaftlicher: So gibt es beispielsweise den Vorschlag, frische Absolventen eines Lehramtsstudiums mit der Aufgabe zu betrauen, Flüchtlinge zu unterrichten. Für den Staatshaushalt mag dies durchaus überzeugen, weil durch befristete und kostengünstige Verträge Personallücken geschlossen werden können. Mit Blick auf die bildungspolitische Herausforderung ruft dieser Vorschlag aber mehr Bedenken hervor: Wie sollen Neulinge im Lehramt ohne zweite Phase die großen Aufgaben der Integration angehen können? Auf welche Erfahrungen, gerade im Umgang mit schwierigen Kindern und Jugendlichen, können Neulinge zurückgreifen? Welche didaktischen und pädagogischen Kompetenzen haben Neulinge im Hinblick auf Migration und Integration? Welche Voraussetzungen sind notwendig, um auf Traumatisierung infolge von Krieg und Flucht sinnvoll eingehen zu können?

Pensionierte Lehrer statt Lehramtsstudenten

All diese Fragen werden aktuell nur am Rand beantwortet. Für eine erfolgreiche Bildungsarbeit sind sie aber evident und entscheiden nicht nur darüber, ob Integration gelingt, sondern auch, ob die ersten Berufserfahrungen zur Stärkung der Pädagogenpersönlichkeit führen oder zu seiner Schwächung. Letzteres wäre vor dem Hintergrund einer bildungspolitischen Verantwortung und einer damit verbundenen Fürsorgepflicht des Dienstherren durchaus ein nicht zu unterschätzendes Problem.

Sinnvoller als frische Absolventen eines Lehramtsstudiums mit der Aufgabe zu betrauen, Flüchtlinge zu unterrichten, erscheint es, die ältere Generation zu gewinnen. Dies nicht nur deswegen, weil angesichts eines demographischen Wandels ein große Quantität vorhanden ist, sondern auch bezüglich einer Berufsprofessionalität eine große Kapazität aus qualitativer Sicht. Warum also nicht pensionierte Pädagogen für diese Aufgabe gewinnen und das Ehrenamt, das von diesen schon so häufig bedient wird, attraktiver machen?

Bildung ist auch Kultur, Werte und Normen

Drittens noch der Aspekt "was wird gelernt?": Geradezu gebetsmühlenartig wird gefordert, Integration gelingt umso besser, je schneller Flüchtlinge in Arbeit gebracht werden – und deshalb rangiert die Sprachförderung an erster Stelle. So wichtig Arbeit für das Leben des einzelnen Menschen ist, so wenig erschöpft sich Integration, geschweige denn Bildung darin. Mag es aus bildungsökonomischer Sicht noch gerechtfertigt sein, den Wert des Menschen an seinem Humankapital zu bemessen, bildungsphilosophisch ist es das nicht.

Denn unter diesem Blickwinkel ist nicht die Frage entscheidend, wie viel Geld ich verdiene, wie groß mein Anteil am wirtschaftlichen Wachstum meines Unternehmens ist oder wie viel Geld ich in das Sozialsystem eingezahlt habe, sondern die Frage, was ich aus meinem Leben gemacht habe, ob es mir gelungen ist, ein erfülltes und glückliches Leben gelebt zu haben. Dass Sprache hierfür wichtig ist, ist nicht erst seit Wilhelm von Humboldts Überlegungen zum Zusammenhang von Bildung und Sprache bekannt.

Bildung ist mehr als lesen und schreiben können

Insofern ist die Fokussierung auf eine Sprachförderung auf Seiten der Flüchtlinge sicherlich gerechtfertigt. Aber bleiben die Bemühungen hierbei stehen, wird der Zusammenhang von Bildung und Sprache nur gestreift. Denn Sprache ist mehr als der mündliche und schriftliche Sprachgebrauch. Sprache ist Begegnung von Mensch zu Mensch, ist gelebte Kultur, enthält Werte und Normen, die in einer Gesellschaft gelten und für wichtig und richtig erachtet werden. Folglich wird es im Zug von Bildungsbemühungen zur Integration von Flüchtlingen auch darum gehen müssen, neben der Sprache auch die Kultur und die Werte zu thematisieren.

Integration erfordert Enkulturation. Die Worte von Johann Wolfgang von Goethe geben in diesem Kontext einen wichtigen Hinweis: „Wer fremde Sprachen nicht kennt, weiß nichts von seiner eigenen.“ Soll heißen: Bildungsangebote für Flüchtlinge dürfen sich nicht nur darauf beschränken, Bildungsinhalte anzubieten, die für das zukünftige Leben in Freiheit wichtig und in einer neuen Heimat grundlegend sind, sondern auch Bildungsinhalte aufzugreifen, die das bisherige Leben bestimmt haben – die Muttersprache, Kultur und Werte der alten Heimat, Gründe für Krieg und Fragen von Religion, um nur eine Reihe von Beispielen zu nennen. Die Frage, wohin ich gehe, lässt sich nur beantworten auf der Basis der Frage, woher ich komme.

Was Flüchtlinge dürfen

Letztendlich darf es auch bei Bildungsangeboten für Flüchtlinge nicht nur um Wissen und Können gehen, sondern um eine allseitige Bildung, wie sie in allen Länderverfassungen verankert ist. So heißt es beispielsweise in der Bayerischen Verfassung: „Schulen sollen nicht nur Wissen und Können vermitteln, sondern auch Herz und Charakter bilden.“ Dieser Grundsatz, Kompetenz und Haltung als Kern von Bildung zu betrachten, geht zurück bis in die Antike und kennzeichnet im Kern Humanität. Als Leitmotiv für die Integration von Flüchtlingen könnte er gerade im Hinblick auf die Frage nach den Bildungsangeboten eine wichtige Rahmung sein.

Keine separaten Flüchtlingsklassen

Bleibt zu guter Letzt die Frage nach den Strukturen: Welche Rahmenbedingungen benötigt erfolgreiche Integration aus bildungspolitischer Sicht? Auch hier dominiert eine Maßnahme den Diskurs: Flüchtlinge brauchen „Integrationsklassen“, „Sonderkurse“ und „Spezialprogramme“. So wichtig und richtig eine Separierung an dieser Stelle ist, um mögliche Defizite gezielt aufzubereiten, so kurz greifen sie auf längere Sicht: Die Macht der Peers ist einer der einflussreichsten Faktoren für Bildungsprozesse. Insofern wäre es wichtig, Flüchtlinge so früh wie möglich mit den Gleichaltrigen in Deutschland zusammenzubringen.

Wichtiger als alles bisher Gesagte ist folgender Punkt, der sich an einem schulischen Beispiel verdeutlichen lässt: Wie kommt es, dass in Parallelklassen ein und derselben Schule größte Leistungsunterschiede auftreten können, obschon die beiden Klassenlehrer genau nach demselben Lehrplan unterrichten und den gemeinsam entwickelten Unterrichtsstunden vorgehen?

Die Antwort hierauf gibt die Expertenforschung: Erfolg ist nicht nur eine Frage der Kompetenz, also des Wissens und des Könnens, hier der übereinstimmenden Rahmenbedingungen, Lerninhalte und Unterrichtsmethoden. Vielmehr ist Erfolg im Kern eine Frage der Haltung, also des Wollens und Wertens. Pädagogisches Denken und Handeln ist immer ein ethisches Handeln. Menschen haben folglich immer Gründe, warum sie etwas machen oder auch nicht machen. In der Frage der Integration von Flüchtlingen wird es demzufolge entscheidend sein, ob die Pädagogen nicht nur die nötigen Kompetenzen, sondern auch die erforderlichen Haltungen besitzen.

Bei der Qualifikation und Auswahl des Integrationspersonals kommt es also in besonderer Art und Weise darauf an, nicht nur danach zu fragen, ob entsprechendes Wissen und Können vorhanden ist, um die damit verbundene bildungspolitische Herausforderung zu bewältigen, sondern auch das hierfür grundlegende Wollen und Werten – beispielsweise die Überzeugung, dass es meine Pflicht als Pädagoge ist, allen Menschen Lebenshilfe anzubieten, es immer und immer wieder zu versuchen, auch wenn Scheitern zum Wesen des Pädagogischen gehört, Menschen jeglicher Kultur mit Würde zu begegnen und nicht nach ihrem Wert zu fragen, Schwierigkeiten und Probleme nicht als Hindernis, sondern aus Herausforderung zu sehen. Kompetenz und Haltung der Pädagogen sind somit die Garanten für eine erfolgreiche Bildungsangebote für Flüchtlinge.

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