Wie ist es um die Meinungsfreiheit in Deutschland bestellt? Dürfen Medien, Politiker und Bürger nur noch das sagen, was vom rot-grünen Mainstream geduldet ist? Werden abweichende Sichtweisen von einem neuen Tugendterror verfolgt? Diese Themen sind es wert, gründlich diskutiert zu werden. Gut also, könnte man meinen, dass sich Thilo Sarrazin, der wohl streitbarste Autor des Landes, der Sache annimmt. „Der neue Tugendterror – Über die Grenzen der Meinungsfreiheit in Deutschland“ heißt sein neues Buch, das ab Montag im Handel ist.
Doch Sarrazin enttäuscht diesmal recht schnell die Erwartungen derer, die eine knallharte Abrechnung mit dem linksgerichteten Zeitgeist erwartet haben. Der Ex-Bundesbanker und ehemalige Innensenator von Berlin holt zunächst einmal weit aus und nähert sich dem Thema Meinungsbildung theoretisch mit Verweisen auf Niccolò Machiavelli, Alexis de Tocqueville und Sigmund Freund. Er bleibt seiner Rolle treu - auch seine früheren Bücher lebten ja eher von dem, was Fans wie Kritiker hineinlasen oder als vermeintlich skandalöse Halbsätze daraus hervorzerrten, oft genug verzerrten und ihn einem schockierten oder wahlweise begeistertem Publikum vorführten wie ein wildes Wundertier.
Aber Sarrazin ist kein scharfzüngiger Polemiker, sondern eher eine Art Privatgelehrter, der sich auf vielen Feldern tummelt und von Ihnen reiche Ernte einfährt, die er mit vielen Fußnoten vor dem wissbegierigen Leser ausbreitet. Und so erfährt der Leser zwar, dass Tabu „ein polynesisches Wort“ ist und Sarrazin als junger Mann „viel Sigmund Freud gelesen“ habe. Mit der Debatte um mögliche Grenzen der Meinungsfreiheit in Deutschland im Jahre 2014 hat das aber alles zunächst recht wenig zu tun.
Die wichtigsten Stationen im Leben von Thilo Sarrazin
Am 12. Februar 1945 wurde Thilo Sarrazin im Nachkriegsdeutschland in Gera geboren. Aufgewachsen ist der Sohn eines Arztes in Recklinghausen.
Nach eigenen Angaben lernte Sarrazin bereits mit drei Jahren und vier Monaten den Begriff "Währungsreform". Die Vorstellungen was sich hinter dem Begriff verstecken könnte waren noch gering, sollten sich mit dem wachsenden Interesse an Wirtschaft aber bald klären.
Nach dem Erlangen des Abiturs im Jahre 1965 trat Thilo Sarrazin den Wehrdienst in Oldenburg an. Während dieser Zeit entdeckte er sein wirtschaftliches Interesse und die Wirtschaftsteile der FAZ, des Spiegels und der Zeit wurden zur täglichen Lektüre.
In den Jahren von 1967 bis 1971 studierte Sarrazin Volkswirtschaftslehre an der Universität Bonn. 1973 promovierte er.
Im Jahre 1973 trat Sarrazin der SPD bei. Bis heute ist er Mitglied, musste sich aufgrund von provokanten Thesen jedoch bereits zwei Parteiausschlussverfahren entgegen stellen.
Anfang des Jahres 1975 nahm Thilo Sarrazin eine Tätigkeit im Bundesministerium der Finanzen auf. Zunächst arbeitete er im steuerpolitischen Grundsatzreferat, dann im Referat "Finanzfragen der gewerblichen Wirtschaft".
Im Jahre 2000 begann Sarrazin seine anderthalbjährige Beschäftigung bei der Deutschen Bahn. Er bekleidete die Ämter des Leiters der Konzernrevision und des Vorstandsmitglieds der DB Netz. Im Dezember 2001 trennte sich der damalige Vorstandsvorsitzende Hartmut Mehdorn aufgrund von Nichteinhaltung gemeinsamer Beschlüsse durch Sarrazin. Während seiner Beschäftigungszeit entwickelte dieser das Volksaktienmodell der Deutschen Bahn.
Ab dem Jahre 2002 bekleidete Thilo Sarrazin das Amt des Senators für Finanzen in Berlin. Er führte eine strenge Spar- und Haushaltspolitik, welche Berlin im Hochkonjunkturjahr 2007 zum ersten Mal einen Haushaltsüberschuss bescherte (80 Millionen Euro). Im Juni 2008 war der fleißige Sarrazin mit 46 Nebentätigkeiten das Senatsmitglied mit den meisten Nebentätigkeiten.
2009 wurde Thilo Sarrazin Vorstandsmitglied der Deutschen Bundesbank und war verantwortlich für die Bereiche Bargeld, Risiko-Controlling und Informationstechnologie. Auch hier fühlte sich der Volkswirt und Autor unterfordert und langweilte sich nach eigenen Angaben bereits Dienstagnachmittags, was der Fertigstellung seines Politik-Sachbuchs zugute kam. Nach dem Vorwurf des Reputationsschadens und Konflikten über provokante Interview-Äußerungen wurde Sarrazin im Oktober 2010 von seinem Amt entbunden.
Am 30.08.2010 erschien das von Thilo Sarrazin verfasste Politik-Sachbuch "Deutschland schafft sich ab - Wie wir unser Land aufs Spiel setzen". Trotz der von vielen Bürgern geäußerten Kritik wurde das Buch, welches besonders durch die verfassten Gen-Thesen als Provokation galt, 1,5 Millionen mal verkauft (Stand: 01.2012).
Sarrazin ist aber auch nicht der Populist, als den ihn viele sehen wollen. Die heftige, sicherlich oft weit überzogene Kritik verletzte ihn wohl zutiefst. Und so kommt es, dass er auf über 70 Seiten sein umstrittenes Buch „Deutschland schafft sich ab“ rechtfertigt und sich dabei in Rage schreibt. Dass die Politik sein Buch nicht gutgeheißen habe, könne er noch verstehen. Schließlich habe er sie „auf dem falschen Fuß erwischt“. „Sie sollten plötzlich Antworten auf Probleme geben, deren Existenz sie am liebsten leugneten“, schreibt der SPD-Politiker. Per se aber seien die meisten Abgeordneten doch eher einfach gestrickt. „Ihre historischen und wirtschaftlichen Kenntnisse sind meist überschaubar, ihre Allgemeinbildung auch“, bilanziert Sarrazin. Immerhin: „Es gibt Ausnahmen.“ Mit den Journalisten, die sein Buch kritisch bewerteten, ist der Finanzexperte weniger nachsichtig. Sarrazin will zeigen, „dass viele Journalisten nicht selbst lesen, sondern das übernehmen, was sie woanders gelesen oder gehört haben“. Tatsächlich belegt er seitenweise, dass viele Qualitätsjournalisten schlampig, oft sogar fehlerhaft, gelegentlich wahrheitswidrig arbeiten - weil uninformiert, vorurteilsbeladen oder manipulativ unterwegs. Das mag gelegentlich eine falsche Verallgemeinerung sein oder auch Ausdruck mangelnder Selbstkritik - aber es geht auch für viele Journalisten nicht gut aus, wenn Sarrazin deren Arbeit zerpflückt und sie so vorführt, wie sie es auch mit ihm machen: Sarrazin schreibt ein komplettes Buch zurück. Detailgenau führt er die Fehler der Alpha-Journalisten und ihrer Nachschreiber vor. Es ist wohl auch Strategie.
Sarrazin, so soll dem Leser vermittelt werden, ist der Revoluzzer. Der Mann, der sich von Politik und Medien nicht stoppen lässt. Der Sozialdemokrat kann kaum verbergen, wie sehr er sich darüber gefreut hat, dass ein Sturm der Entrüstung auf einige Medien hereinbrach. Dass sich viele Bürger auf seine Seite geschlagen haben. „Die einvernehmliche Ablehnung meiner Analysen und Aussagen durch Politik und Medien [hatte] letztlich bei den meisten Menschen keinen durchschlagenden Erfolg“, bilanziert Sarrazin.
An diesem Punkt könnte es spannend werden: Wie kann es geschehen und was passiert, wenn veröffentlichte Meinung und öffentliche Meinung so weit auseinander fallen? Was bedeutet das für die Medien, für die Politik? Und sind die Menschen und Medien die ihm folgen wirklich eine medial unterdrückte Mehrheit? Immerhin hat er diesen Menschen ja Ausdruck verliehen.
Leider bleibt Sarrazin da vage. Er rechtfertigt sich, wobei die Debatte um „Deutschland schafft sich ab“ sich nicht erneuern kann und die Beschäftigung damit den Blick weg von der im Titel versprochenen Debatte lenkt. Die beginnt so richtig in Kapitel 6, ab Seite 217 und ist zum Teil lesenswert und durchweg diskussionswürdig. Und es gibt offensichtlich ein Bedürfnis danach. Abweichende Meinung gibt es zu selten, Pro und Contra wie im angelsächsischen Journalismus ist oft fremd, bilanziert beispielsweise in der Woche des Erscheinens auch die Zeitschrift Cicero: "Verkürzt lässt sich der deutsche Mainstream-Konsens so zusammenfassen: mehr soziale Gerechtigkeit, mehr Nachhaltigkeit, mehr Pazifismus, weniger Markt, weniger individuelle Freiheit, mehr Staat. Stille Voraussetzung: Wir Deutsche stehen immer auf Seiten des Reinen und Guten.....Ein solches Meinungsklima fordert von so manchem Journalisten Selbstzensur; häufig werden Texte im Sinn der „erwünschten Wahrheiten“ zurechtgeschliffen. Kein Wunder also, dass konsenskonforme hohle Phrasen unhinterfragt bleiben und sich dadurch selbst verstärken. Wir sind heute so weit, dass selbst die dümmsten Klischees des Mainstream gar nicht mehr als solche erkannt, sondern als feinsinnige Verdichtung der Wahrheit beklatscht werden." Und in ebendieser Woche veröffentlicht die FAZ einen Text, der Schutz und Meinungsfreiheit auch für solche Menschen fordert, die sich gegen Homosexualität als neue Normalität aussprechen - im Meinungsmainstream würden sie als krank geächtet und sogar juristisch verfolgt.
"Wer reich ist, sollte sich schuldig fühlen"
Dazu passend stellt Sarrazin 14 Thesen und Trends vor, die gesellschaftlich eine deutliche Mehrheit finden, und bei denen Widerspruch nicht gern gesehen wird. So auch bei dem Satz: „Wer reich ist, sollte sich schuldig fühlen“.
Keine Frage, der Satz trifft den Zeitgeist. Eine Vermögensabgabe findet breiten Zuspruch, ebenso eine Erbschaftssteuer (obwohl der zu vererbende Besitz, ob die Immobilie oder das Ersparte vom Lohn, ja schon einmal besteuert wurde). Im deutschen Vier-Parteien-Parlament ist der Satz, wonach sich Leistung wieder lohnen muss, nur noch eine Floskel. An der kalten Progression wird nichts geändert, wer Leistung bringt und eine Lohnerhöhung bekommt, kann den Zuwachs direkt an den Fiskus weiterreichen. Dass sich Leistung auch lohnen muss, hat zuletzt Gerhard Schröder verteidigt („Es gibt kein Recht auf alimentierte Faulheit“). Steuersenkungen gelten selbst in Zeiten des Rekordaufkommens als gänzlich abwegig. Während Hunderte von Milliarden als Wählerbestechungsgeschenke verteilt werden gilt jede Milliarde, die an die Steuerzahler zurückgegeben werden könnte, als völlig unverzichtbar.
Sarrazin schreibt in seinem professoralen Ton: „Eine bestimmte Ungleichheit von Einkommen und Vermögen ist die unvermeidliche Folge einer jeden funktionierenden Marktwirtschaft. Der Korrektur durch staatliche Eingriffe sind deshalb stets Grenzen gesetzt.“ So weit, so richtig. Aber: Die wachsende Skepsis der Mehrheit der Bevölkerung ist nicht allein Folge eines Tugendterrors, sondern auch Resultat immer neuer Fehltritte der vermeintlichen Elite, seien es Boni-Zahlungen oder hemmungslose Steuervermeidungstricks. Vor allem aber: wie erklärt sich diese 180-Grad-Wende im Diskurs, der bis zur Finanzkrise ja von der Forderung nach Steuersenkung bestimmt war? Wie geht das?
Unstrittig ist, dass – wie Sarrazin deutlich macht – Wörter dazu da sind, Informationen zu vermitteln. Dass Hilfskräfte nun Assistenten sind und Arbeitslose doch besser Erwerbssuchende genannt werden sollen, ändert nichts am Fakt, dass diese Menschen zuarbeiten bzw. kein festes Anstellungsverhältnis haben. „Die Worte sind gleichgültig. Wo es Arbeitslosenunterstützung gibt, (…) da existiert auch eine Arbeitslosenstatistik, und dort gibt es auch Menschen, welche arbeitslos genannt werden (…) müssen“, unterstreicht Sarrazin. Diese Kritik an der umerzieherischen Neusprech einer auf Umerziehung ausgerichteten politischen und medialen Klasse ist hilfreich.
Der SPD-Mann wehrt sich dagegen, dass Unterschiede nivelliert werden. Dass „Ungleichheit schlecht ist. Und Gleichheit immer gut“, so eine weitere der 14 Thesen. Ja, auch in diesem Punkt hat Sarrazin Recht: Dass in einigen Sportklassen keine Siegerurkunden mehr vergeben werden, sondern nur noch Teilnahmeurkunden für alle, ist absurd. Schüler sollten früh an den Leistungswettbewerb heran geführt werden, und auch erleben, dass Niederlagen zum Leben dazu gehören und nicht gleichzusetzen sind mit einem Scheitern. Und auch die Zweifel sind berechtigt, wonach die Gemeinschaftsschule per se alle besser macht. „Nach dieser Logik könnte ja der FC Bayern München seine Profimannschaft mit der Kreisklasse trainieren. Und die GSG9 könnte auch Übergewichtige und Unsportliche beschäftigen, dem Training ihrer Spitzenkräfte würde es nicht schaden“, so Sarrazin.
Kulturgrenzen
Leider belässt es Sarrazin nicht dabei, sondern kommt unweigerlich auf Länder- und Kulturgrenzen zu sprechen. Er zweifelt an, dass der Islam eine Kultur des Friedens ist und Deutschland und Europa bereichert – und philosophiert darüber, welche (negativen) Eigenschaften „Zigeuner“ und Schwarzafrikaner hätten (schlechter gebildet, öfter kriminell) – und warum diese auch durch Umbenennung in „Sinti und Roma“ und von „Neger“ zu „Afroamerikaner“ blieben. „Die Verbindung von Roma mit Vorgängen wie Betteln, Diebstahl, Prostitution soll offenbar tabuisiert werden, indem man allenfalls von Zuwanderern aus Bulgarien und Rumänien redet. Das ist etwa so, als würde man im Zusammenhang mit dem Wort Mafia die Benutzung des Adjektivs „italienisch“ unterbinden wollen“, findet Sarrazin.
Er zündelt gern, das hat er gelernt. Es verschafft ein Maximum an Aufmerksamkeit. Denn natürlich ist es nicht rassistisch, in Polizeimeldungen die Nationalität eines Straftäters zu nennen. Doch Verallgemeinerungen – wie Sarrazin sie hier betreibt – überschreiten auch schnell die Grenze des guten Geschmacks. Sarrazin sollte sich darauf besinnen, dass, wie er selbst auch schreibt, grundsätzlich jede Gruppe das Recht hat, „den eigenen Namen selbst zu wählen. Außerhalb dieser Gruppe sollte man diese Wahl respektieren.“ Genau dieses Recht stellt Sarrazin aber infrage.
Und so verletzt er und grenzt aus, wobei die von ihm pauschaliert abgewerteten Gruppen ja ihrerseits auch Opfer falscher Etikettierungen sind: Dass der Multikulti-Opportunismus sie in die Opferrolle und der stets betreuungsbedürftigen Halbidioten zwingt und sie der Gängelung durch die selbsternannten Opferverbände unterwirft ist ja auch offensichtlich. Sarrazin hätte groß werden können, wenn er seine Kritik auf die deutschen Meinungstäter konzentriert hätte, die genannten Gruppen als Objekte des Gutmenschentums anerkennen würde und dadurch geholfen hätte, sie aus diesem Ghetto zu befreien. So aber grenzt er aus und ab.
Damit geraten viele der lesenswerten Diskussionen in den Hintergrund, weil der Leser nicht mehr nur der an sich richtigen Medienanalyse folgt, sondern auch in anderen Fragen Partei ergreifen soll. In dem Wunsch, zu polarisieren und seine Ausgangsthese zu rechtfertigen, schießt Sarrazin übers Ziel hinaus. Die Frage, wie es zu der Begrenzung der Meinungsfreiheit kommt, einer "freiwilligen Gleichschaltung" (so Evelyn Roll schon vor Jahren in der Süddeutschen Zeitung) in einer sonst so freiheitlichen, jeder Zensur abholden Gesellschaft, beantwortet er nur fragmentarisch und argumentiert über lange Strecken selbstbezüglich. Aber ohne Zweifel: Die Debatte ist notwendig - und beginnt sich Raum zu schaffen.