Wie kräftezehrend das abgelaufene Jahr für die Mitarbeiter des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) war, lassen die Zahlen nur erahnen, die Bundesinnenminister Thomas de Maizière am 16. Januar vor der Hauptstadtpresse referiert. Mehr als 600.000 Asylanträge hat die Behörde 2017 entschieden, die Zahl der Altverfahren von 433.719 auf 68.245 reduziert. „Die Rückstände sind praktisch abgebaut“, sagt de Maizière.
Es liegt in der Natur der Sache, dass es bei der jährlichen „Vorstellung der Asylzahlen“ vor allem um beachtliche Zahlen geht. Befremdlich wirkt es dagegen, dass die Behördenleitung ihre Mitarbeiter, die über das Grundrecht auf Asyl entscheiden und deren Entscheidungen sicherheitsrelevant sind, über Monate vor allem auf das Erreichen beachtlicher Zahlen gedrillt hat.
Gespräche mit Mitarbeitern, Mails aus der Controlling-Abteilung, von Abteilungsleitern und Referatsleitern sowie interne Unterlagen, die der WirtschaftsWoche vorliegen, machen deutlich, wie sehr Zahlenziele das Handeln im BAMF zwischen Oktober 2017 und Januar 2018 bestimmten.
Zahl der Asylanträge in Deutschland
149.139
151.700
143.429
138.319
117.648
118.306
91.471
67.848
50.152
42.908
30.100
30.303
28.018
33.033
48.589
53.347
77.651
127.023
202.834
476.649
745.545
222.683
Controlling und Abteilungsleiter reichen Forderungen aus der Politik in Form immer neuer Zielwerte an die Referatsleiter durch. Die wiederum versuchen mit ihren Mitarbeitern, den Vorgaben irgendwie gerecht zu werden. Mitunter entscheiden die Mitarbeiter dann über Asylverfahren, die noch nicht entscheidungsreif sind. Am Ende stehen erschöpfte Entscheider und nicht wenige Asylbescheide, die Verwaltungsgerichte wieder aufheben und zurück ans BAMF geben. Die beeindruckenden Zahlen? Ein Pyrrhussieg.
Den Höhepunkt erreicht der Druck innerhalb der Behörde Anfang Dezember. Grund dafür ist ein Gespräch zwischen Bundesinnenminister de Maizière und Mitgliedern der Leitungsrunde des BAMF. Aus diesem Gespräch wird berichtet im Rahmen einer Telefonkonferenz der Abteilung 6, der größten Asylabteilung. Das Protokoll vom 5. Dezember, das mit „Verschlusssache – Nur für den Dienstgebrauch“ gekennzeichnet ist, liegt der WirtschaftsWoche vor. Der Minister lobte das BAMF demnach „für die bisherige Arbeit, sprach aber gleichzeitig die Höhe der anhängigen Altverfahren an. Es erfolgt eine Umpriorisierung auf den Abbau der Altverfahren (2016 und älter) bis 12.01.2018.“
Vier Tage nach Ablauf der Frist steht die Pressekonferenz an. „Der Minister will der Öffentlichkeit anhand von Zahlen zeigen, dass die Altverfahren im Griff sind – und wir müssen eben liefern“, sagt ein Entscheider. Ein Sprecher des Bundesamts äußerte sich auf Nachfrage nicht explizit zu dem Vorwurf, sagte aber, die anhängigen Asylverfahren würden „insbesondere im Interesse der Antragssteller“ abgebaut, auch zu Beginn dieses Jahres werde der Abbau „weiter besonders im Fokus stehen“. Die interne Kommunikation der nächsten Wochen legt allerdings den Eindruck nahe, dass die Interessen der Antragsstellenden im Bundesamt eher zweitrangig sind.
Wie das BAMF die Identität von Flüchtlingen klärt
Anhand der Fingerabdrücke, die jeder Asylbewerber spätestens bei der Antragstellung abgeben muss, erkennt die Nürnberger Behörde, wenn jemand verschiedene Namen benutzt. Zu diesen „Mehrfachidentitäten“ können auch Schreibfehler oder zulässige unterschiedliche Schreibweisen eines Namens führen. „Diese Alias-Identitäten werden bei uns alle gelistet, miteinander verknüpft und nicht gelöscht“, erläutert eine BAMF-Sprecherin. „Wir sehen, wenn jemand einen anderen Namen oder ein anderes Herkunftsland angibt.“ So war der Berliner Attentäter Anis Amri in Deutschland mit 14 verschiedenen Identitäten unterwegs, was dem BAMF bekannt war.
Dies ist deutlich schwieriger: Denn nur etwa 40 Prozent der Antragsteller haben nach Schätzungen des BAMF ein Identifikationsdokument bei sich. Dieses wird genau überprüft - bei Zweifeln auch von Experten in der Nürnberger Zentrale.
Wenn die Menschen jedoch keine Papiere bei sich haben, folgt eine aufwendige Prüfung. Um ein neues Dokument ausstellen zu können, wird etwa das Herkunftsland angeschrieben. Außerdem wurde beim Bundesverwaltungsamt eine Datenbank für gefundene Pässe eingerichtet.
Um die Angaben der Asylbewerber zu prüfen, fragen die Mitarbeiter des BAMF sie in ihrer Anhörung etwa nach Sitten und Bräuchen, aber auch nach Orten in ihrem angegeben Herkunftsland. Wenn ein Mann zum Beispiel vorgibt, Student aus Damaskus zu sein, aber nicht weiß, in welchem Stadtteil dort die Universität liegt, ist das verdächtig. Die Angaben des Schutzsuchenden könnten außerdem „durch das Auswärtige Amt, Botschaften und in bestimmten Ländern auch durch eigenes Verbindungspersonal vor Ort überprüft werden“, erklärt das BAMF. Auch Sprachgutachten sind möglich.
Laut BAMF kann es auch „Einzelfälle“ geben, in denen es Menschen darauf anlegen, gar nicht ins Asylverfahren zu kommen und sich bei keiner Behörde melden. Sie bleiben sozusagen unter dem Radar. Das sei jedoch nicht Sache des BAMF, sondern von Polizei und Sicherheitsbehörden, so die Sprecherin.
Am 12. Dezember, eine Woche nach der Telefonkonferenz, schreibt Michael Hartard, Leiter der Abteilung 6 und damit eine der einflussreichsten Personen im BAMF in einer Mail: „Wenn ich aktuell die täglichen Entscheidungszahlen anschaue, kann ich noch keinen richtigen Schwenk in Richtung Altverfahren erkennen.“ Er bittet alle Referatsleiter, die „notwendigen Steuerungsmaßnahmen vorzunehmen, damit wir unser Ziel erreichen“.
Fünf Tage später, am 17. Dezember, schreibt Hartard an die Referatsleiter: „Unser Ziel ist es bis zum 12.01.2018 möglichst viele Entscheidungen zu treffen.“ Die Zahl der Verfahren solle, „wenn es irgendwie möglich ist“, bei unter 60.000 liegen. „Ich denke, dass dies nur mit Altverfahren schwierig wird.“ Deswegen sollten nun auch wieder Neuverfahren entschieden werden. Zwölf Tage nach der Telefon-Konferenz ist der Fokus auf die Altfälle also passé. Die neue Vorgabe lautet: So viel entscheiden wie möglich.