Mitarbeiter in kirchlichen Einrichtungen dürfen künftig für bessere Arbeitsbedingungen streiken. Das entschied das Bundesarbeitsgericht am Dienstag in Erfurt (1 AZR 179/11, 1 AZR 611/11). Die Kirchen dürfen aber auch den sogenannten dritten Weg wählen und mit den Gewerkschaften verbindliche Verhandlungsergebnisse vereinbaren. Von dem Urteil betroffen sind rund 1,3 Millionen Menschen, die für Caritas und Co. tätig sind.
Die christlichen Kirchen als Arbeitgeber
Die christlichen Kirchen sind mit rund 1,3 Millionen Beschäftigten nach dem öffentlichen Dienst der zweitgrößte Arbeitgeber in Deutschland.
Sie hat nach den jüngsten veröffentlichten Zahlen (Stand 2010) rund 222.700 Beschäftigte, davon sind rund 21.488 Theologen. Hinzu kommen weitere rund 452.600 Beschäftigte, die für den evangelischen Wohlfahrtsverband Diakonie arbeiten, vorwiegend in Pflege- und Erziehungsberufen.
Die katholische Kirche beschäftigt in Deutschland nach eigenen Angaben hauptamtlich rund 650.000 Menschen, davon 150.000 direkt bei der Kirche. Darunter sind rund 14.800 Priester. Beim katholischen Wohlfahrtsverband Caritas arbeiten mehr als 500.000 Menschen, unter anderem in Diensten der Gesundheitshilfe, Kinder- und Jugendhilfe, Altenhilfe und Behindertenhilfe.
Vor dem Urteil des Bundesarbeitsgerichts zum Streikverbot in kirchlichen Einrichtungen hatte Verdi-Chef Frank Bsirske den Kirchen die Missachtung von Grundrechten vorgeworfen. Das Grundrecht auf Streik müsse für alle gelten, forderte Bsirske. Es müsse Schluss sein mit der „vordemokratischen Situation“, die die Beschäftigten der beiden Kirchen und ihrer Wohlfahrtsverbände unter Sonderrecht stelle. Diakonie-Präsident Johannes Stockmeier verteidigte hingegen den sogenannte Dritten Weg, bei dem in paritätisch besetzten Kommissionen Tarife und Arbeitsbedingungen ausgehandelt werden und den das Gericht ebenfalls zugelassen hat.
Keine Verkürzung der Morgenandacht
Die Vertreter der Gewerkschaften haben vor dem Bundesarbeitsgericht ihre Forderung nach einem Streikrecht in kirchlichen Einrichtungen bekräftigt. Es gehe schließlich nicht um die Verkürzung der Morgenandacht, sondern um die arbeitsvertragliche Gerechtigkeit, sagte ver.di-Anwalt Henner Wolter in der Verhandlung am Dienstag in Erfurt. Das Streikrecht für Mitarbeiter von Diakonie und Caritas sei notwendiges und zwingendes Mittel der Koalitionsfreiheit, weil sonst nichts anderes als "kollektives Betteln" übrigbleibe. Die Beeinträchtigung der im Grundgesetz gewährleisteten Koalitionsfreiheit sei bei einem Streikverbot "wesentlich höher" als die Nachteile, die die Kirche hinnehmen müsse, wenn gestreikt werde, sagte der ver.di-Anwalt.
Kirchen wollen vor den Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte
Die Kirche plädierte in dem Prozess hingegen weiter für ihr Modell der einvernehmlichen Konfliktlösung ohne Streik und Aussperrung, den sogenannten Dritten Weg. Es müsse ein Ausgleich gefunden werden, bei denen beide Positionen möglichst wenig eingeschränkt würden, sagte Kirchen-Anwalt Christian von Tiling. Er schlug vor, Tarifkonflikte mit einer verbindlichen Schlichtung durch einen neutralen und objektiven Schlichter zu lösen. Dem Arbeitnehmer entstünde dadurch auch kein Schaden, weil als Schlichtungsperson jemand ausgesucht werde, der keine Verbindung zur Kirche habe.
Endgültige Entscheidung erst in Straßburg?
Nach Ansicht des Bundesarbeitsgerichts ist auch nach dem Urteil noch lange nicht das letzte Wort in dem Streit gesprochen. "Möglicherweise endet die Wegstrecke nicht in Erfurt oder Karlsruhe, sondern in Straßburg", sagte Gerichtspräsidentin Ingrid Schmidt. Das Urteil ist aber zumindest eine "richtungsweisende Zwischenetappe".
Vertreter beider Seiten hatten bereits im Vorfeld angekündigt, bei einer Niederlage in Erfurt vor das Bundesverfassungsgericht zu ziehen. Danach wäre eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg der nächste Schritt. Denn beim EGMR können auch nicht-staatliche Organisationen mit einer Individualbeschwerde gegen die Bundesrepublik Deutschland - beziehungsweise gegen deren höchste Gerichte - vorgehen.
Geklagt hatten kirchliche Arbeitgeber, die der Gewerkschaft Verdi und dem Marburger Bund den Aufruf zum Streik in diakonischen Einrichtungen untersagen lassen wollen. Bisher waren dort solche Arbeitskämpfe ebenso verboten wie etwa bei der Caritas. Der kirchliche Sonderweg war vor dem Hintergrund des wachsenden Konkurrenzdrucks im Sozialsektor mit Niedriglöhnen und Leiharbeit umstritten.