Bundesarbeitsgericht Kirchenmitarbeiter dürfen streiken

Gleiches Arbeitsrecht für alle: Mitarbeiter in kirchlichen Einrichtungen dürfen künftig unter bestimmten Umständen für bessere Arbeitsbedingungen streiken. Das hat das Bundesarbeitsgericht entschieden.

  • Teilen per:
  • Teilen per:
Die großen Wohlfahrtsverbände
Mit Kerzen wurde das Wort Caritas geschrieben Quelle: obs
FSJler zeigen das Zeichen der Diakonie Quelle: dpa
Einsatzkräfte des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) während einer Katastrophenübung Quelle: dpa
Ein Altenheim Quelle: dpa
Obdachlose stehen für eine Portion Essen an Quelle: REUTERS
Angehende Rabbiner in einem jüdischen Bildungszentrum Quelle: dpa

Mitarbeiter in kirchlichen Einrichtungen dürfen künftig für bessere Arbeitsbedingungen streiken. Das entschied das Bundesarbeitsgericht am Dienstag in Erfurt (1 AZR 179/11, 1 AZR 611/11). Die Kirchen dürfen aber auch den sogenannten dritten Weg wählen und mit den Gewerkschaften verbindliche Verhandlungsergebnisse vereinbaren. Von dem Urteil betroffen sind rund 1,3 Millionen Menschen, die für Caritas und Co. tätig sind.

Die christlichen Kirchen als Arbeitgeber

Vor dem Urteil des Bundesarbeitsgerichts zum Streikverbot in kirchlichen Einrichtungen hatte Verdi-Chef Frank Bsirske den Kirchen die Missachtung von Grundrechten vorgeworfen. Das Grundrecht auf Streik müsse für alle gelten, forderte Bsirske. Es müsse Schluss sein mit der „vordemokratischen Situation“, die die Beschäftigten der beiden Kirchen und ihrer Wohlfahrtsverbände unter Sonderrecht stelle. Diakonie-Präsident Johannes Stockmeier verteidigte hingegen den sogenannte Dritten Weg, bei dem in paritätisch besetzten Kommissionen Tarife und Arbeitsbedingungen ausgehandelt werden und den das Gericht ebenfalls zugelassen hat.

Keine Verkürzung der Morgenandacht

Die Vertreter der Gewerkschaften haben vor dem Bundesarbeitsgericht ihre Forderung nach einem Streikrecht in kirchlichen Einrichtungen bekräftigt. Es gehe schließlich nicht um die Verkürzung der Morgenandacht, sondern um die arbeitsvertragliche Gerechtigkeit, sagte ver.di-Anwalt Henner Wolter in der Verhandlung am Dienstag in Erfurt. Das Streikrecht für Mitarbeiter von Diakonie und Caritas sei notwendiges und zwingendes Mittel der Koalitionsfreiheit, weil sonst nichts anderes als "kollektives Betteln" übrigbleibe. Die Beeinträchtigung der im Grundgesetz gewährleisteten Koalitionsfreiheit sei bei einem Streikverbot "wesentlich höher" als die Nachteile, die die Kirche hinnehmen müsse, wenn gestreikt werde, sagte der ver.di-Anwalt.

Kirchen wollen vor den Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte

Was die Kirchen leisten
Was die Kirchen leistenEin junges katholisches Paar (beide 35 Jahre) zahlt Kirchensteuer. Sie planen ihre Hochzeit. In drei Jahren wollen sie ihr erstes Kind bekommen, zwei Jahre später das zweite. Der Mann verdient 45.000 Euro, die Frau 40.000 Euro. Ihr Gehalt steigt um zwei Prozent pro Jahr. Insgesamt zahlen sie bis an ihr Lebensende 70 861 Euro Kirchensteuer. Die Rechnung geht davon aus, dass die aktuellen Steuerregeln dauerhaft gelten und im Ruhestand keine Kirchensteuer anfällt.Gesamtkosten Steuer:70 861 Euro Quelle: AP
Als erstes planen die beiden ihre Hochzeit. Sie führen ein mehrstündiges Gespräch mit dem Pfarrer, der bei der Trauung eine persönliche Predigt hält. Der Organist spielt ihre Musik. Nach einer Umfrage der WirtschaftsWoche unter fünf freien Theologen und Festrednern aus dem ganzen Bundesgebiet hätten diese für eine alternative Hochzeit inklusive Vorbereitung im Durchschnitt 730  Euro berechnet. Mit der Miete von Kirche oder Saal und Musik hätte das Paar für die alternative Feier 1000 Euro gezahlt. Ihr Glück: Der Treueschwur hält. Die Hochzeitskosten wären also nur einmal im Leben angefallen.Leistung: 1000 Euro Quelle: dpa
Wenige Jahre später lassen die beiden ihre Kinder taufen. Auch die Taufe findet in der Ortskirche statt. Für alternative Willkommensfeiern hätten die freien Theologen und Festredner durchschnittlich 368 Euro genommen. Findet die Feier zum Beispiel im Garten statt und wird nur ein Musiker engagiert, müssten sie für eine solche Feier 500 Euro einplanen. Bei zwei Kindern sind die Taufen also 1000 Euro wert.Leistung: 1000 Euro Quelle: dapd
An Weihnachten lieben die Kinder das Krippenspiel. Zwar fragt der Pfarrer nicht nach der Mitgliedschaft, aber für die Familie ist das Ehrensache. Würden sie stattdessen in die Oper gehen, zum Beispiel in Hänsel und Gretel, würde das die Familie jedes Jahr 50 Euro kosten. In den ersten zehn Jahren mit kleinen Kindern sparen sie also 500 Euro. Leistung: 500 Euro Quelle: dpa
Dank des kurzen Drahts zum Pfarrer bekommt das Paar für die Kinder einen Platz im kirchlichen Kindergarten. Die Gebühren gleichen aber denen eines städtischen Kindergartens, das Paar hat einen Vorteil, spart aber kein Geld.Leistung: 0 Euro Quelle: dpa
Später schicken die Eltern ihre Kinder auf ein kirchliches Gymnasium, der Schulplatz ist ihnen sicher. Eine freie Privatschule würde 400 Euro im Monat kosten, bei der kirchlichen fallen nur 80 Euro an. Zwar können Eltern die Kosten zu 30 Prozent von der Steuer absetzen. Bei zwei Kindern und acht Jahren Schulzeit sparen sie netto trotzdem rund 56.947 Euro.Leistung: 56.947 Euro Quelle: dapd
Die Kinder entscheiden sich für eine Firmung oder Konfirmation. Als Fest der persönlichen Reife entscheiden sich viele nicht gläubige Jugendliche für ein alternatives Ritual. Vor allem in Ostdeutschland ist die Jugendweihe bekannt. Pro Kind fallen dafür etwa 100 Euro an, bei zwei Kindern also 200 Euro.Leistung: 200 Euro Quelle: dpa

Die Kirche plädierte in dem Prozess hingegen weiter für ihr Modell der einvernehmlichen Konfliktlösung ohne Streik und Aussperrung, den sogenannten Dritten Weg. Es müsse ein Ausgleich gefunden werden, bei denen beide Positionen möglichst wenig eingeschränkt würden, sagte Kirchen-Anwalt Christian von Tiling. Er schlug vor, Tarifkonflikte mit einer verbindlichen Schlichtung durch einen neutralen und objektiven Schlichter zu lösen. Dem Arbeitnehmer entstünde dadurch auch kein Schaden, weil als Schlichtungsperson jemand ausgesucht werde, der keine Verbindung zur Kirche habe.

Endgültige Entscheidung erst in Straßburg?

Ob Kita-Ausbau, Ganztagsschule oder Altenpflege: Unter dem Deckmantel der Gemeinnützigkeit erfinden Caritas und Diakonie sich selbst immer neue Aufgaben, der Staat gibt das Geld.
von Konrad Fischer

Nach Ansicht des Bundesarbeitsgerichts ist auch nach dem Urteil noch lange nicht das letzte Wort in dem Streit gesprochen. "Möglicherweise endet die Wegstrecke nicht in Erfurt oder Karlsruhe, sondern in Straßburg", sagte Gerichtspräsidentin Ingrid Schmidt. Das Urteil ist aber zumindest eine "richtungsweisende Zwischenetappe".

Vertreter beider Seiten hatten bereits im Vorfeld angekündigt, bei einer Niederlage in Erfurt vor das Bundesverfassungsgericht zu ziehen. Danach wäre eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg der nächste Schritt. Denn beim EGMR können auch nicht-staatliche Organisationen mit einer Individualbeschwerde gegen die Bundesrepublik Deutschland - beziehungsweise gegen deren höchste Gerichte - vorgehen.

Geklagt hatten kirchliche Arbeitgeber, die der Gewerkschaft Verdi und dem Marburger Bund den Aufruf zum Streik in diakonischen Einrichtungen untersagen lassen wollen. Bisher waren dort solche Arbeitskämpfe ebenso verboten wie etwa bei der Caritas. Der kirchliche Sonderweg war vor dem Hintergrund des wachsenden Konkurrenzdrucks im Sozialsektor mit Niedriglöhnen und Leiharbeit umstritten.

© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%