Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) geht mit vorsichtigem Optimismus in die vermutlich entscheidende Runde der Sondierungen über eine Jamaika-Koalition aus Union, FDP und Grünen. Es gebe zwar noch „gravierende Unterschiede“ zwischen den Parteien, eine Einigung sei aber möglich. „Ich glaube, es kann gelingen“, sagte die CDU-Vorsitzende am Donnerstag in Berlin.
In den kommenden Stunden seien der nötige Wille und harte Arbeit gefragt. „Ich hoffe, dass der Wille da ist, dass etwas gelingt. Die Verantwortung dafür haben wir. Und ich werde versichern, meinen Beitrag dazu zu leisten“, betonte Merkel. Die Jamaika-Parteien sollten vor Augen haben, dass bei einem gemeinsamen Erfolg „daraus etwas sehr Wichtiges für unser Land in einer Zeit großer Polarisierung entstehen kann“.
Zuletzt hatten sich die vier Parteien in wichtigen Themenfeldern wie Klima, Verkehr und Migration festgebissen. Merkel forderte alle Beteiligten auf, jetzt die entscheidenden Kompromisse zu machen: „Heute ist der Tag, an dem wir uns auch in die Situation des jeweils anderen hineinversetzen und fragen müssen, was ist für den wichtig.“ Wenn das gelinge, könne am Ende ein positives Ergebnis stehen. Nach Ansicht von Merkel werden die Gespräche „open end“ geführt, also voraussichtlich bis tief in die Nacht.
Jamaika: Perspektiven, Probleme und Unklarheiten
Der amtierende Bundesfinanzminister Peter Altmaier (CDU) sträubte sich zuletzt bei der Vorlage der Steuerschätzung dagegen, den Finanzspielraum auf 30 Milliarden Euro zu taxieren - obwohl die von ihm selbst vorgelegten nackten Zahlen dies so wiedergaben. In der FDP wird der Spielraum eher bei 40 Milliarden Euro gesehen, bei den Grünen geht man von weniger aus. Zuletzt pendelten sich die von den Sondierern genannten Zahlen in einem Bereich von 37 bis 39 Milliarden Euro ein, genannt wurde aber auch eine Summe von 45 Milliarden Euro. Dem gegenüber standen Berechnungen von Haushaltspolitikern, dass sich die Wünsche der Jamaika-Partner auf über 100 Milliarden Euro summieren würden.
Zum größten Streitpunkt in den Finanzverhandlungen hat sich die Forderung der FDP entwickelt, den Solidaritätszuschlag in dieser Legislaturperiode komplett abzuschaffen. Die Grünen lehnen einen völligen Verzicht in diesem Zeitrahmen ab, weil dies Gutverdienern sehr viel mehr zugute käme als den Beziehern geringer Einkommen. Zudem würde selbst ein Ausstieg am Ende der Legislatur, also 2021, den Bund Einnahmen von 21 Milliarden Euro kosten. Andererseits weisen einige Sondierer darauf hin, dass - anders als bei Einkommensteuer-Senkungen - die Bundesländer einen Soli-Ausstieg im Bundesrat nicht blockieren könnten.
Angesichts der Debatte über den Solidaritätszuschlag sind andere Maßnahmen in den Hintergrund gerückt, so auch die von Union und FDP im Wahlprogramm zugesagte Einkommensteuerreform. Ganz abrücken wollen vor allem der Wirtschaftsflügel der CDU und die FDP von dem Vorhaben aber nicht. Welchen finanziellen Umfang die Steuersenkungspläne am Ende haben könnten, ist unklar.
Im Gespräch sind bei den Sondierern weitere Maßnahmen, so die von der CSU gewünschte Ausweitung der Mütterrente oder ein Baukindergeld von 1200 Euro pro Jahr. Einig sind sich die Sondierer offenbar aber, dass das Kindergeld um 25 Euro und die steuerlichen Kinderfreibeträge auf 8000 Euro steigen sollen.
Um den Wohnungsbau zu fördern, wollen Union und FDP die degressiven Abschreibungsmöglichkeiten bei Neubauten für begrenzte Zeit wieder einführen: Investoren könnten dann ihre Kosten schneller steuerlich geltend machen. Die Grünen wollen dagegen gezielter in sozialen Wohnungsbau investieren. Wieviel Geld diese Maßnahmen unterm Strich verschlingen und welche davon in einem Koalitionsvertrag stehen werden, ist bisher offen.
Zusätzliches Geld in die Kasse könnten die Koalitionspartner bekommen, wenn sie sich von den restlichen Bundesbeteiligungen trennen, insbesondere an der Deutschen Telekom und der Post. An der Telekom könnte der Bund noch Anteile von 14,5 Prozent zu Geld machen. Das Unternehmen insgesamt wird derzeit mit rund 70 Milliarden Euro bewertet. An der Post, die rund 46 Milliarden Euro schwer ist, hält der Bund 21 Prozent.
Wenig Chancen hat aktuell dagegen ein Ausstieg des Bundes aus der Commerzbank, weil der Aktienkurs des Geldhauses weit unter dem ursprünglichen Kaufpreis liegt - den Bürgern müsste man also einen hohen Verlust erklären. Der Bund hält an der Commerzbank derzeit noch einen Anteil von 15,6 Prozent.
Anders sieht es beim Staatskonzern Deutsche Bahn aus. Hier hatte das Finanzministerium zuletzt wieder den Verkauf der Bahn-Logistiktochter Schenker ins Spiel gebracht, deren Wert auf etwa fünf Milliarden Euro taxiert wird.
Das Problem bei all diesen Verkaufsoptionen ist aber die Schuldenbremse im Grundgesetz, die dem Bund zwar jährlich neue Kredite von 0,35 Prozent des BIP erlaubt. Allerdings: Weil der Schuldenspielraum "strukturell", also auf Dauer, definiert ist, fällt er tatsächlich viel kleiner aus. So müssen konjunkturelle Effekte ebenso abgezogen werden wie Erlöse aus dem Verkauf von Staatsbeteiligungen. Theoretisch könnte also ein Bundes-Haushalt, der an sich ausgeglichen ist, verfassungswidrig werden, weil die Privatisierungserlöse den erlaubten Verschuldungsspielraum durch die Schuldenbremse übersteigen.
Unterdessen bestehen die Grünen weiter darauf, den Familiennachzug auch für Flüchtlinge mit eingeschränktem Schutzstatus zu ermöglichen. Bundestags-Vizepräsidentin Claudia Roth sagte in Berlin, diese Forderung würden die Grünen „mit aller Kraft“ durchsetzen wollen. Union und FDP wollen den Familiennachzug für subsidiär Geschützte weiter aussetzen. Vor allem die CSU müsse bei den Gesprächen nun zeigen: „Wollen sie es oder wollen sie es nicht?“, sagte Roth.
FDP-Generalsekretärin Nicola Beer rief zu einer sachlichen Debatte auf. „Ich gehe jetzt arbeiten, hochkonzentriert, sachorientiert“, sagte sie vor dem Start der Gespräche. „Wenn die Emotionen und insbesondere die Ideologie ein bisschen außen vor bleiben, dann kann das gelingen, aber das entscheiden noch mehr als nur die Freien Demokraten.“
Massive Differenzen vor letztem Jamaika-Sondierungstag
CDU, CSU, FDP und Grüne gehen nach rund vier Wochen der Sondierungen mit einem Bündel strittiger Punkte in die vermutlich entscheidende Verhandlungsphase. Nach einer Serie von Vorbesprechungen sollte die große Verhandlungsrunde um 18.00 Uhr zusammenkommen. Streit gibt es neben den Punkten Familiennachzug und Kohleverstromung auch zur Verkehrs- und Finanzpolitik.
Schwierig sind die Verhandlungen auch, weil die Wünsche der vier potenziellen Partner deutlich mehr kosten als Geld in der Kasse ist. Die Unterhändler von CDU, CSU, FDP und Grünen gehen von einem Finanzspielraum für die kommenden vier Jahre von 35 bis 40 Milliarden Euro aus. Auch von 45 Milliarden Euro ist die Rede. Die FDP beharrt auf der Abschaffung des Solidaritätszuschlages in dieser Wahlperiode. Damit würden dem Bund gut 20 Milliarden Euro an Steuereinnahmen wegbrechen.
Vorangekommen sind die Unterhändler bei den Themen Verbraucherschutz und bessere Ernährung. Bei Vergleichsplattformen im Internet solle Transparenz geschaffen werden, heißt es nach dpa-Informationen in einem Papier der zuständigen Sondierungsarbeitsgruppe. Bei Lebensmitteln soll ein umfassendes Programm für gesunde Ernährung erarbeitet werden. Umgesetzt werden soll auch eine Strategie für weniger Zucker, Fette und Salz in Fertigprodukten.
Die Grünen wollen auf ihre bisherige Forderung nach einer höheren Dieselsteuer verzichten, fordern aber von den anderen Parteien Gegenleistungen. Fraktionschef Anton Hofreiter zählte dazu am Donnerstag unter anderem strengere Regeln für den CO2-Ausstoß, ein Bonus-Malus-System in der Kfz-Steuer als Kaufanreiz für emissionsarme Pkw sowie wirksame Lösungen für gesunde Luft in den Städten.
In einem offenen Brief ruft eine Gruppe „engagierter Europäer“ die künftige Bundesregierung zu einem klaren europapolitischem Kurs auf. Zum Thema Europa sei in den Sondierungsgesprächen bisher „hauptsächlich geschwiegen“ worden, heißt es kritisch in dem Brief, den unter anderem der österreichische Schriftsteller Robert Menasse und der Grünen-Europapolitiker Daniel Cohn-Bendit unterzeichnet haben. „Nicht nur Frankreich und die sogenannten Krisenländer in Europa brauchen Reformen, Deutschland und ganz Europa brauchen sie auch“, heißt es weiter.