Bundespräsident Joachim Gauck tritt aus Altersgründen nicht für eine zweite Amtszeit an. Der 76-Jährige sagte am Montag im Schloss Bellevue in Berlin: „Diese Entscheidung ist mir nicht leichtgefallen. Ich möchte für eine erneute Zeitspanne von fünf Jahren nicht eine Energie und Vitalität voraussetzen, für die ich nicht garantieren kann.“
Die CDU-Vorsitzende und Bundeskanzlerin Angela Merkel strebt parteiübergreifende Beratungen über die Nachfolge an. „Wir werden nicht nur zwischen CDU und CSU Gespräche führen. Sondern wir werden darüber hinaus auch Gespräche führen“, sagte sie in Berlin. Die Kanzlerin ließ erkennen, dass sie mit der Entscheidung mindestens bis zum Herbst warten will: „Wir haben ja zwei Landtagswahlen auch noch zu bestehen“, sagte sie.
Gemeint sind die Abstimmungen in Mecklenburg-Vorpommern am 4. September und in Berlin am 18. September. Je nach Ausgang der Wahlen kann sich die Zusammensetzung der Bundesversammlung noch ändern, die im Februar 2017 das nächste Staatsoberhaupt wählt.
Gauck sagte, er sei „von Herzen dankbar“ für die zahlreichen Worte der Ermutigung, auch über den kommenden März hinaus weiter im Amt zu bleiben. Gauck betonte: „Unser Land hat engagierte Bürger, und es hat funktionierende Institutionen. Der Wechsel im Amt des Bundespräsidenten ist in diesem Deutschland daher kein Grund zur Sorge. Er ist vielmehr demokratische Normalität - auch in fordernden, auch in schwierigen Zeiten.“
Der frühere Pastor in der DDR und ehemalige Chef der Stasi-Unterlagenbehörde war 2012 als Nachfolger des zurückgetretenen Christian Wulff (CDU) ins höchste Staatsamt gewählt worden. Bereits 2010 war er als Kandidat von Rot-Grün angetreten, damals aber gegen Wulff unterlegen.
Gaucks Wegmarken
Diese Rede schlug Wellen: Im Januar 2014 forderte Gauck in einer Ansprache vor der Münchner Sicherheitskonferenz über „Deutschlands Rolle in der Welt“ mehr Mut zu einer aktiven deutschen Außenpolitik - eventuelle Militäreinsätze eingeschlossen. Deutschland könne sich nicht um seine Verantwortung drücken, wenn es um die Verteidigung von Menschenrechten und die Beilegung von Konflikten gehe. Gauck tat mit der Rede das, was ein Bundespräsident idealerweise tut: Er trat eine Debatte los. Sie brachte ihm Anerkennung, aber auch den Vorwurf der Kriegstreiberei ein.
Aufmerksamkeit war Gauck immer dann gewiss, wenn er sich von Kanzlerin Merkel distanzierte. So sagte er im Mai 2012: Merkels Aussage, dass Israels Sicherheit für Deutschland Staatsräson sei, könne sie noch "in enorme Schwierigkeiten" bringen. Kurz darauf beklagte Gauck, die Politik mache den Bürgern das Vorgehen in der Euro-Schuldenkrise nicht ausreichend verständlich: Merkel habe die "Verpflichtung", mehr zu erklären. Wie schnell aus solchen Worten Schlagzeilen werden, erstaunte Gauck selbst. Mit öffentlicher Kritik an Merkel hielt er sich fortan zurück.
Als mutmaßlich letztem Vertreter der Kriegsgeneration im Präsidentenamt war sie Gauck ein Herzensanliegen: die Aussöhnung mit Europäern, die unter der deutschen Besatzung zu leiden hatten. Gauck besuchte Orte, die im Weltkrieg von Deutschen gezielt zerstört worden waren: Lidice in Tschechien, Oradour in Frankreich, Lyngiades in Griechenland, Sant'Anna di Stazzema in Italien. Treffen mit Zeitzeugen endeten mit Umarmungen, Tränen, tiefer Rührung. Mit solchen Begegnungen verlieh Gauck dem Amt auch jenseits der großen Schlagzeilen eine eigene Prägung.
In der Flüchtlingskrise bezog Gauck eine Sowohl-als-auch-Position. Er brachte sie auf den Nenner: „Unser Herz ist weit. Doch unsere Möglichkeiten sind endlich.“ Die Aufnahmekapazität sei bei allem guten Willen begrenzt, „auch wenn noch nicht ausgehandelt ist, wo diese Grenzen liegen“. Kritiker hätten sich ein beherzteres Eintreten für Flüchtlinge gewünscht. Gauck verwies auf seine Sorge vor einer gesellschaftlichen Spaltung und einem Erstarken rechter Kräfte. Auch dafür fand Gauck einen Begriff, der aufhorchen ließ: Er sprach von einem „Dunkeldeutschland“, in dem Fremde angefeindet würden. Bei einem Besuch im sächsischen Bautzen wurde er dann ausgebuht und als „Volksverräter“ beschimpft.
Als leidenschaftlicher Demokrat nutzte Gauck sein Amt zur Warnung vor autoritärer Machtausübung. In der Türkei kritisierte er 2014 das Demokratiedefizit - und zog sich eine verärgerte Replik von Präsident Recep Tayyip Erdogan zu: „Er hält sich wohl immer noch für einen Pastor.“ Auch die Ambitionen von Kreml-Chef Wladimir Putin machten Gauck Sorgen: Aufhorchen ließ er 2014 in Danzig mit einer Warnung vor russischer Aggression. Eine Einladung zu den Olympischen Spielen in Sotschi schlug er aus. Auch gegenüber seinen eigenen Landsleuten in Deutschland trat Gauck gerne als „Demokratielehrer“ auf.
Einen eigenen geschichtspolitischen Akzent setzte Gauck im Umgang mit den Massakern an den Armeniern im Osmanischen Reich. Aus Rücksicht auf türkische Befindlichkeiten vermied die Bundesregierung traditionell die Bezeichnung „Völkermord“. Gauck wich 2015 in seiner Rede zum 100. Jahrestag der Ereignisse von dieser Linie ab und sprach deutlich vom „Völkermord an Armeniern“ – wie danach dann auch der Bundestag. Die Türkei reagierte verärgert: Sie werde dem Bundespräsidenten die Rede „nicht vergessen und nicht verzeihen“, erklärte das Außenministerium in Ankara.
Staatsbesuche zählen zum Kerngeschäft des Bundespräsidenten. Einen heiklen Besuch absolvierte Gauck im März 2014 in Griechenland, wo er auf Vorbehalte wegen Deutschlands strengem Auftreten in der Schuldenkrise und wegen der griechischen Forderungen nach Kriegsreparationen stieß. Gauck machte Mut zu Reformen, äußerte Unbehagen über den Umgang mit der deutschen Kriegsschuld – lehnte Reparationen aber ab. Er wolle „Möglichkeiten von Wiedergutmachung“ sondieren, sagte er. Ergebnisse liegen bislang aber noch nicht vor.
Nach der seit dem Wochenende erwarteten Absage Gaucks müssen sich die Parteien nun auf eine Nachfolge einigen. Dabei zeichnen sich schwierige Gespräche ab. In der Bundesversammlung, die am 12. Februar 2017 den Präsidenten wählt, hat die Union zwar mit Abstand die meisten Sitze, aber keine eigene Mehrheit.
Zuerst hatte die „Bild“-Zeitung berichtet, Gauck habe sich nach langem Abwägen entschieden, nicht mehr anzutreten. Der Bericht blieb ohne Bestätigung, heizte aber bereits die Debatte über die Nachfolge an.
Genannt werden unter anderem Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) und Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD). „Der Spiegel“ berichtete am Wochenende, aus taktischen Gründen könnten CDU und CSU kurz vor der Bundestagswahl keinen gemeinsamen Kandidaten mit SPD oder Grünen präsentieren. Aus der Linken und der SPD wurden Stimmen laut, die einen gemeinsamen rot-rot-grünen Bewerber forderten.
Union, SPD und Grüne hatten eine zweite Amtszeit Gaucks befürwortet. Auch Kanzlerin Angela Merkel (CDU) sprach sich für seine Wiederwahl aus. Zuletzt meinten 70 Prozent der Bundesbürger in einer Umfrage, Gauck solle weitermachen.
Auf einer China-Reise im März sagte der Bundespräsident bereits, es sei ein schönes Gefühl zu spüren, dass viele Menschen sich eine Fortsetzung seiner Arbeit wünschten. „Dabei muss man aber auch seine eigenen physischen und psychischen Kräfte bedenken.“
Bis zuletzt war darüber spekuliert worden, ob er wegen der Auswirkungen der Flüchtlingskrise und angesichts des Erstarkens der rechtspopulistischen AfD aus einem Bewusstsein der Verantwortung heraus noch einmal antreten würde. Gauck betonte aber auch, dass sich Deutschland trotz aller Herausforderungen nicht in einer Staatskrise befinde. „Das Staatsschiff ist nicht im Orkan, aber es gibt Wellen“, sagte er im Mai beim Katholikentag in Leipzig.
Das sind die möglichen Gauck-Nachfolger
Norbert Lammert (67): Seit 2005 ist der CDU-Mann aus Bochum Präsident des Bundestages, der Umzug ins Schloss Bellevue wäre ein naheliegender Karriereschritt. Lammert gilt als wortmächtig und intellektuell brillant, was er andere auch gerne spüren lässt.
Ursula von der Leyen (57): Ihr Name fällt immer, wenn es um Spitzenämter geht, auch als künftige Kanzlerin ist die CDU-Frau im Gespräch. Schon 2010 war die amtierende Verteidigungsministerin als mögliche Kandidatin für das Präsidenten-Amt im Gespräch.
Volker Bouffier (64): Früher eher dem rechten Flügel der CDU zugeordnet, führt er seit 2014 relativ geräuschlos und erfolgreich die schwarz-grüne Landesregierung in Hessen. Ein Signal für Schwarz-Grün auch im Bund also.
Frank-Walter Steinmeier (60): Beinahe so etwas wie der natürliche Kandidat für das höchste Amt im Staate. Beliebt bei den Bürgern, angesehen über Parteigrenzen hinweg, diplomatisch erfahren. Aber hat ein SPD-Mann diesmal überhaupt eine Chance?
Martin Schulz (60): Der Präsident des Europaparlaments wird immer wieder genannt, wenn die SPD nach Kandidaten für Spitzenämter sucht. Doch abgesehen von der Schwierigkeit, eine Mehrheit zu finden: Kanzlerin Angela Merkel gilt nicht als Schulz-Fan.
Annegret Kramp-Karrenbauer (53): Die CDU-Ministerpräsidentin aus dem Saarland genießt Ansehen auch bei der SPD und den Grünen. Sie ist linker und jünger als andere CDU-Kandidaten, und sie ist eine Frau.
Winfried Kretschmann (68): Der grüne Ministerpräsident aus Baden-Württemberg ist nicht nur in seiner Heimat populär. Sein landesväterlicher Habitus könnte auch für die Rolle des Bundespräsidenten passen. Wenn sich Union und SPD nicht einigen können, wäre er ein Kompromiss.
Gauck war in der Endphase der DDR 1989 als Unterstützer der Bürgerrechtsbewegung bekannt geworden. Nach der Wende wurde er als Kandidat für das Bündnis 90 in die letzte DDR-Volkskammer gewählt. Von 1991 bis 2000 war er Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen.
Ein Schwerpunkt seiner ersten Amtszeit war das Bemühen, Deutschlands Rolle in der Welt neu zu definieren und mehr Verantwortungsbewusstsein einzufordern. Auch militärisches Engagement dürfe nicht mit dem Hinweis auf die nationalsozialistische Vergangenheit ausgeschlossen werden, sagte er 2014 auf der Münchner Sicherheitskonferenz. Auch die Flüchtlingskrise machte er zu seinem Thema.