Wenn Frank-Walter Steinmeier am Sonntag zum Bundespräsidenten gewählt wird, ist das eine Niederlage für unsere Demokratie. Nicht etwa, weil seine Wahl undemokratisch wäre. Die Mitglieder der Bundesversammlung, also Bundes- und Landtagsabgeordnete sowie von den Parteien nominierte Wahlleute, sind frei in ihrer Entscheidung. Es ist auch keine Niederlage, weil Steinmeier womöglich ein schlechter Kandidat für das erste Amt im Staat wäre.
Vielmehr geht es um die Art und Weise, wie Steinmeier in dieses Amt kommt. Irgendwann in den vergangenen Monaten hat sich der bisherige Bundesaußenminister überlegt, dass er Joachim Gauck nachfolgen möchte, nachdem der aus gesundheitlichen Gründen auf eine erneute Kandidatur verzichtet hatte. Der Noch-SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel hatte Steinmeier dann als Kandidaten der SPD ausgerufen. Die Union war verunsichert, suchte fieberhaft nach einem geeigneten Mann oder besser noch einer Frau, der beziehungsweise die in der Bundesversammlung gegen den beliebten Steinmeier bestehen könnte. Doch CDU-Chefin Angela Merkel handelte sich eine Absage nach der nächsten ein, am Ende hatte die Union keinen eigenen (aussichtsreichen) Kandidaten und erklärte SPD-Mann Steinmeier unterstützen zu wollen.
Für Sigmar Gabriel war das ein riesiger Erfolg. Nach Joachim Gauck ist es ihm zum zweiten Mal gelungen, seinen Kandidaten durchzusetzen. Es ist ein strategischer Coup, den selbst der politische Gegner neidvoll anerkennt. Gabriel, der Präsidentenmacher. Steinmeier wird nun Bundespräsident, weil drei Leute es so wollen: Er selbst, Gabriel und Merkel. Letztere nur, weil sie zu schwach war, um Steinmeier einen eigenen Kandidaten entgegen zu halten. Steinmeier, dafür muss man kein Prophet sein, wird wohl mit überwältigender Mehrheit gewählt werden, selbst wenn manch frustrierte Wahlleute der Union ihm die Stimme verweigern sollten.
Das Problem daran: Demokratie lebt von der Wahl. Wenn aber die führenden Politiker des Landes unter sich ausmachen können, wer Bundespräsident werden soll, und nur einen Kandidaten nominieren, wird die Demokratie ad absurdum geführt. 2010 hatte es diese Wahl noch gegeben, als die SPD Joachim Gauck gegen CDU-Mann Christian Wulff ins Rennen schickte. Zwar wurde Gauck damals noch nicht Präsident. Stattdessen trat Wulff seine Kurzzeitpräsidentschaft an. Aber es gab eine echte Wahl. Wulff musste um die Stimmen seiner Leute kämpfen und wurde erst im dritten Wahlgang mit einfacher Mehrheit gewählt.
Zwei Jahre später trat Wulff zurück und Gauck wurde sein Nachfolger. Einen Gegenkandidaten hatte der einstige Pastor nicht. Und dieses System scheint sich nun zu etablieren, wie auch die Nominierung von Martin Schulz zeigt. Der designierte SPD-Kanzlerkandidat und künftige SPD-Vorsitzende wurde von nur einem Mann bestimmt. Sigmar Gabriel. Der Vizekanzler hatte sich die Kanzlerkandidatur nicht zugetraut und eine Niederlage befürchtet. Also kürte er Schulz per Interview im Stern zum Kandidaten, die SPD darf das nur noch abnicken.
Einen Aufschrei unter den Genossen gibt es nur aus einem Grund nicht – sie finden Schulz super. Und tatsächlich zeigt der Aufschwung in den Umfragen, dass Gabriels Verzicht richtig war. Seine Analyse, dass er zu sehr für die Große Koalition und eine Zusammenarbeit mit Angela Merkel steht, ist richtig. Schulz hat diesen Ballast nicht. Ob der frühere Präsident des Europaparlaments die Hoffnungen erfüllen und die SPD wieder über die 30-Prozent-Hürde hieven kann, wissen wir in acht Monaten. Doch selbst wenn Schulz Kanzler wird. Die Art und Weise, wie er nominiert wurde, war bizarr und undemokratisch.
Der richtige Weg
Dabei weiß die SPD, wie es besser geht. Als Sigmar Gabriel vor sieben Jahren Vorsitzender der Sozialdemokraten wurde, regte er eine Urwahl für künftige SPD-Kanzlerkandidaten an. Das wäre der richtige Weg gewesen. Die Grünen haben sich für dieses Verfahren entschieden. Sicher, das war ein langer Prozess und hat auch Verlierer produziert. Aber die Partei hat diskutiert und um die besten Ideen gestritten. Noch zahlt sich das in den Umfragen für die Grünen nicht aus, weil viele inhaltliche Streitigkeiten noch nicht abgeräumt sind. Aber die Partei hat partizipiert und geht mit großer Geschlossenheit in den Wahlkampf.
Die Wechsel an der SPD-Spitze
Der Saarländer entreißt im November 1995 dem glücklosen Rudolf Scharping den Vorsitz in einer Kampfabstimmung. Nach dem SPD-Sieg bei der Bundestagswahl 1998 verschärfen sich die Gegensätze zu Bundeskanzler Gerhard Schröder, dem Lafontaine als Kanzlerkandidat weichen musste. Außerdem ist von Differenzen in der Steuerpolitik die Rede. 2005 tritt Lafontaine aus der SPD aus. Heute ist er bei der Konkurrenz-Partei Die Linke.
Der SPD-Kanzler übernimmt im März 1999 von Lafontaine den Parteivorsitz. Schröders einschneidende Sozial- und Wirtschaftsreformen („Agenda 2010“) stoßen insbesondere beim linken Flügel und den Gewerkschaften auf Kritik. Unter ihm verliert die Partei mehr als 140.000 Mitglieder, mehrfach gibt es zweistellige Verluste bei Landtagswahlen.
Auf Schröder folgt im März 2004 der damalige Fraktionsvorsitzende Müntefering. Doch auch er kann weder Mitgliederschwund noch Wahlniederlagen stoppen. Als die Parteilinken seinen Vorschlag für den Posten des Generalsekretärs verwerfen, gibt er auf.
Der Ministerpräsident von Brandenburg setzt ab November 2005 auf klassische SPD-Positionen. Bei seinem Start gilt der Müntefering-Nachfolger als Hoffnungsträger. Bevor Platzeck Wegmarken setzen kann, tritt er völlig überraschend nach 146 Tagen aus gesundheitlichen Gründen zurück.
Im Mai 2006 übernimmt der rheinland-pfälzische Ministerpräsident. Beck will mit der Abkehr von Teilen der Agenda-Politik das Profil der Partei wieder schärfen. Das ungeklärte Verhältnis zur Linkspartei und sein Zögern in der Frage der Kanzlerkandidatur beschleunigen seinen Abgang. Beck begründet seinen Rückzug mit internen Intrigen. Sein Nachfolger wird im Oktober 2008 Müntefering - zum zweiten Mal.
Nach der Niederlage bei der Bundestagswahl 2009 und dem schlechtesten SPD-Ergebnis seit 1949 übernimmt der Umweltminister im November 2009 den Parteivorsitz. Zur Bundestagswahl 2013 lässt Gabriel dem ehemaligen Finanzminister Peer Steinbrück die Kanzlerkandidatur. Trotz des zweitschlechtesten Wahlergebnisses wackelt Gabriels Stuhl nicht.
Ein Blick in die Vereinigten Staaten vor acht Jahren ist zudem Beleg genug, wie sehr Urwahlen eine Partei vitalisieren können. Barack Obama kam damals zum einen ins Amt, weil es eine Wechselstimmung gab. Zum anderen, weil er sich nach einem langen Vorwahlkampf gegen Hillary Clinton durchgesetzt hatte. Danach kannte jeder Demokrat Obama. Die Partei war ein eingeschworener Haufen geworden.
Die SPD hätte diesen Weg ebenfalls gehen können. Gabriel und Schulz hätten für sich in einem längeren innerparteilichen Wahlkampf werben können. Womöglich wäre auch jemand wie Heiko Maas, seit drei Jahren Bundesjustizminister, ins Rennen eingestiegen – oder Olaf Scholz, der Erste Bürgermeister von Hamburg. Die Chancen für Martin Schulz wären trotz der starken Konkurrenz groß gewesen. Nur dass der wahrscheinliche Kandidat Schulz am Ende noch stärker gewesen wäre, er hätte noch mehr Rückenwind gehabt. Die SPD ist jetzt schon berauscht. Hätte es eine Urwahl gegeben, wäre sie wohl mit nahezu unendlichem Selbstvertrauen in den Wahlkampf gegangen.
Die beiden Fälle Schulz und Steinmeier zeigen, dass es die berüchtigte Hinterzimmerpolitik noch immer gibt. Sie passt aber nicht mehr in die heutige Zeit. Künftig sollten die Parteien grundsätzlich auf Urwahlen setzen, um Spitzenkandidaten für den Wahlkampf zu finden. Und in Sachen Bundespräsidentenwahl zeigt unser Nachbar Österreich, wie es geht. Zwar hätte sich der Rechtspopulist Norbert Hofer in der Stichwahl beinahe gegen den Grünen Alexander van der Bellen durchgesetzt. Demokratie und Wahlen bedeuten eben immer ein Risiko. Am Ende entschieden sich die Österreicher aber für den grünen Kandidaten, der auch von Bürgerlichen, Sozialdemokraten und Liberalen unterstützt wurde. Es war ein wochenlanges Drama mit einer Stichwahl, die sogar wiederholt werden musste. Diese Wahl war anstrengend und nervenraubend – aber sie war urdemokratisch.
In Deutschland heißt es oft, dass eine solche Direktwahl unserem politischen System schaden würde. Schließlich gäbe es dann einen direkt gewählten Bundespräsidenten, der im Zweifel stärker demokratisch legitimiert wäre als der indirekt gewählte Kanzler. Was, wenn der Bundespräsident irgendwann die Richtlinienkompetenz für die Regierung beanspruchen würde, weil das Volk ihn dazu drängt? Zugegeben, das ist ein Risiko. Aber unser Grundgesetz regelt die Kompetenzen eindeutig. Und die Österreicher zeigen, dass ein solches Modell im Alltag funktioniert. Es gibt keine Argumente dagegen: Wir sollten mehr direkte Demokratie wagen.