Unmittelbar vor der Grundsteinlegung für das umstrittene Bahnprojekt Stuttgart 21 (S21) sind schwere Vorwürfe des Bundesrechnungshofs gegen das Bundesverkehrsministerium bekannt geworden. In seinem Prüfbericht nehmen die Finanzkontrolleure das Ressort von Alexander Dobrindt (CSU) in die Pflicht, das Milliardenvorhaben des Staatskonzerns besser zu kontrollieren. Durch eine Weigerung des Ministeriums, S21 begleitend zu überwachen, drohten „bedeutende finanzielle Risiken für den Bundeshaushalt“.
Die Finanzkontrolleure fordern: „Deshalb hält es der Bundesrechnungshof für dringend geboten, dass das Bundesverkehrsministerium als wichtiger Zuwendungsgeber künftig seine Überwachungs- und Steuerungsmöglichkeiten beim Projekt Stuttgart 21 konsequent ausschöpft.“ Das Papier, das der Deutschen Presse-Agentur vorliegt, war am Donnerstag dem Haushaltsausschuss des Bundestages überreicht worden. Auch die „Schwäbische Zeitung“ und die Blätter der Funke-Mediengruppe hatten darüber berichtet.
Die Bahn feiert am Freitag unter anderem mit Konzernchef Rüdiger Grube die Grundsteinlegung für den Tiefbahnhof - nun überschattet nicht nur durch die angekündigten Proteste der Gegner, sondern auch vom Rüffel des Rechnungshofes an den Bund.
Das Verkehrsministerium verteidigte sich gegen die Kritik und sieht die Bahn selbst in der Hauptverantwortung. „Stuttgart 21 ist ein eigenwirtschaftliches Projekt der Bahn“, hieß es am Donnerstag. Der feste Betrag, den der Bund übernehme, beziehe sich zudem nur auf denjenigen Anteil, der den Anschluss der Neubaustrecke Wendlingen-Ulm an den Knoten Stuttgart abdeckt. „An Mehrkosten beteiligt sich der Bund nicht. Diese sind von der Bahn und den Projektpartnern alleine zu tragen.“ Der Überwachung komme man über den Aufsichtsrat nach.
Die Pannen bei Stuttgart 21
Der für Stuttgart 21 zuständige Bahn-Vorstand Volker Kefer hatte im Sommer 2013 eingeräumt, mit 80-prozentiger Wahrscheinlichkeit werde das Vorhaben 2022 fertig, mit 40-prozentiger erst 2023. Vor diesem Hintergrund scheint es wenig realistisch, dass die Inbetriebnahme 2022 zu halten ist. Offiziell hält die Bahn am Fertigstellungstermin für den Stuttgarter Bahnknoten Ende 2021 fest, auch um den Druck auf beteiligte Firmen aufrecht zu erhalten. Gegner wie Baden-Württembergs Verkehrsminister Winfried Hermann (Grüne) halten 2025 für machbarer.
Der Baufortschritt wird immer wieder durch neue Auflagen etwa beim Brand- oder Artenschutz gebremst. Ein weiterer Grund sind schleppende Baugenehmigungen - dabei ist unklar, ob das Eisenbahnbundesamt als Aufsichtsbehörde mit zu wenig Fachpersonal oder die Bahn mit womöglich unvollständigen Unterlagen verantwortlich ist. Die Verzögerungen schlagen insofern zu Buche, als dass die Bahn Firmen länger vorhalten muss als vorgesehen. Und die Erlöse aus dem Betrieb des Bahnhofs rücken immer weiter in die Ferne.
Der Puffer im vom Bahn-Aufsichtsrat 2013 beschlossenen Finanzierungsrahmen von 6,526 Milliarden Euro ist laut einer neuen Prognose des Unternehmens fast ausgeschöpft. Wenn alle neu identifizierten Risiken einträten, verblieben nur noch 15 Millionen Euro für weitere Unwägbarkeiten in den nächsten Jahren. Daraus ergibt sich ein sogenannter Gegensteuerungsbedarf von 524 Millionen Euro, der in internen Unterlagen für die nächste Aufsichtsratssitzung an diesem Mittwoch (15. Juni) in Berlin zu finden ist. Dort wird sich der Bahn-Vorstand Berichten zufolge auf starke Kritik gefasst machen müssen. Vize-Chefaufseher Alexander Kirchner sagte der Deutschen Presse-Agentur, er werde Aufklärung vom Management fordern.
Es gibt erste Überlegungen - wie den Schichtbetrieb an den Baustellen auszuweiten, eine neue Autobrücke am Bahnhof zu errichten, um die Bauarbeiten zu erleichtern, und die Bauabläufe weiter zu optimieren.
Es gibt drei große Posten. Mehrkosten von 144 Millionen Euro könnten durch eine veränderte Tunnelbauweise entstehen, um Schäden durch das aufquellende Mineral Anhydrit zu vermeiden. 147 Millionen Euro gehen auf Risiken zurück, die mit über 50-prozentiger Wahrscheinlichkeit auftreten, zum Beispiel beim Arten- und Lärmschutz. Der größte Block sind 290 Millionen Euro, die womöglich durch einen langsameren Fortschritt wegen schleppender oder neu beantragter Baugenehmigungen verursacht werden. So kamen Verzögerungen zustande, weil die Bahn im Tiefbahnhof die Fluchttreppen an die Enden der Bahnsteige verlegt und den Brandschutz für deutlich stärkere Feuer auslegen muss.
In den Koalitionsverhandlungen war das Thema heftig umstritten. Die CDU wollte der Bahn Entgegenkommen signalisieren; die Grünen wollten auf jeden Fall die bisherige strikte Ablehnung, sich an Mehrkosten zu beteiligen, nicht aufweichen. Laut Koalitionsvertrag will das Land in möglichen neuen Finanzierungsgesprächen darauf bestehen, „dass über die im Vertrag genannten Kostenanteile in Höhe von 930,6 Millionen Euro hinaus von Seiten des Landes keine Zahlungen zu leisten sind“. Beim Treffen des Lenkungskreises am 30. Juni muss die Bahn den Projektpartnern von Land, Landesflughafen, Stadt und Region Stuttgart die Lage erklären. Diese fordern vehement mehr Transparenz ein.
Das S-21-Tunnelsystem von knapp 60 Kilometern Länge ist zu einem Viertel erstellt. Die Grundsteinlegung der Bodenplatte des Tiefbahnhofs ist für spätestens September 2016 anvisiert. Aus Bahn-Sicht ist dieses Ereignis der größte Meilenstein vor der Inbetriebnahme der neuen Station - wann auch immer diese sein mag.
Das Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21 meint: ja. Ein modernisierter Kopfbahnhof sei verkehrstechnisch sowie finanziell weit günstiger als die bisherige Durchgangslösung, die die Kritiker auf Kosten von 9,8 Milliarden Euro taxieren. Und was soll mit der Grube geschehen? Die kann nach Ansicht der S-21-Gegner als Bahnhof für Fernbusse dienen.
Bahnhofsarchitekt Christoph Ingenhoven empörte sich, dass prominente Grünen-Politiker der Einladung zur Feier nicht gefolgt waren. Die Absagen seien „erschreckend“, sagte er der Deutschen Presse-Agentur.
Zugleich wurde bekannt, dass der Bahn-Aufsichtsrat bei einer Sondersitzung Mitte Oktober das von ihm in Auftrag gegebene Gutachten der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KMPG zur Kosten- und Terminsituation diskutieren wird. Dem Vernehmen nach kommt der Bundesrechnungshof in einem gesonderten Bericht zu einem Kostenrahmen von bis zu 10 Milliarden Euro. Die Bahn beziffert die Kosten bislang auf bis zu 6,5 Milliarden Euro.
In dem vorliegenden Bericht heißt es lediglich: „Eine Prüfung der unternehmerischen Betätigung des Bundes bei der Bahn hat weitere Kostenrisiken für das Projekt Stuttgart 21 ergeben.“ Vor dem Hintergrund der ungeklärten Mehrkosten-Übernahme müsse das Ministerium sich möglichst rasch um die Gesamtfinanzierung kümmern.
Gegenstand intensiverer Kontrolle muss nach Überzeugung des Rechnungshofes auch die Bauqualität sein. Mittel- und langfristige Folgelasten für den Bundeshaushalt durch Qualitäts- und Kapazitätseinbußen müssten verhindert werden. Kapazitätsengpässe haben auch die Gegner stets vorhergesagt. Nach Ansicht der Kontrolleure könnte der Kostendruck die Bahn verleiten, die Bauausführung und Dimensionierung zu „vereinfachen“.
Der grüne Haushaltspolitiker im Bundestag, Sven-Christian Kindler, sagte: „Dieser Bericht ist eine schallende Ohrfeige für Verkehrsminister Dobrindt. (...) Es gibt kein Controlling, keine Überwachung der eingesetzten Mittel und keine Transparenz über weitere Kosten“, monierte der Abgeordnete. Linken-Verkehrsexpertin Sabine Leidig sprach von einem Häuserkampf zwischen dem Bundesrechnungshof einerseits sowie den beiden Bundesministerien für Verkehr und Infrastruktur und Finanzen andererseits.