Das Wichtigste vorweg: Was Union und SPD da aus lauter Angst vor ihrem Koalitionspartner ausgehandelt haben, ist kein Regierungsprogramm, sondern ein Vierjahresplan. Ob Mindestlohn, Mietpreisbremse, Maut oder Mütterrente, ob neue Regeln für die Teilzeitarbeit und Werksverträge, für die Quote und das Schließen geschlechtsabhängiger Lohnlücken, ob der künftige Europakurs, die doppelte Staatsbürgerschaft oder die Reform des Erneuerbaren-Energien-Gesetzes – es gibt buchstäblich nichts, was Angela Merkel (CDU), Sigmar Gabriel (SPD) und Horst Seehofer (CSU) nicht auf 185 langen Seiten vereinbart, festgezurrt, beschlossen und zwecks Erledigung bis 2017 in Stein gemeißelt hätten. Selbst dass es künftig weniger Staus gibt, die Bahn pünktlicher fährt und es WLAN für alle gibt, hat diese große Koalition dekretiert. Wozu braucht es eigentlich noch ein Kabinett? Wozu die Richtlinienkompetenz der Bundeskanzlerin und die Ressorthoheit der Minister? Würden nicht auch ein paar Spitzenvollzugsbeamte reichen, die die Vorhaben des großkoalitionären Triumvirats irgendwann in den nächsten 48 Monaten in Gesetzesform gießen und den Parteichefs zur Abzeichnung vorlegen?
Das Land steht erst an zweiter Stelle
Sicher, man kann den Koalitionsbildungszirkus der vergangenen Wochen auch anders bilanzieren. Etwas weniger freundlich. Nach dieser Lesart hat die große Koalition keinen Vierjahresplan, sondern überhaupt keinen Plan. Insofern haben Union und SPD das Maximum dessen, was man von ihnen erwarten kann, bereits vor Regierungsantritt erreicht. Der Höhepunkt ihrer Zusammenarbeit war jene 17-stündige Sitzung in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch vergangener Woche, in der sich das Triumvirat aus lauter Erschöpfung darauf einigte, das Land zu schröpfen. Schließlich ging es beiden Seiten von Anfang an nicht darum, eine auf Dauer angelegte Koalition einzugehen, die der Republik zugutekommt und den Deutschen nützt. Sondern darum, spontan eine Koalition zu bilden, die die Parteivorsitzenden nicht beschädigt und schon gar nicht die jeweiligen Kernwählerschaften entsetzt. Daran hat in ganz unverblümter Weise zuletzt noch einmal Horst Seehofer erinnert: „Das erste Interesse“ von Union und SPD musste sein, so Seehofer, dass jeder „seine Wahlversprechen hält und durchsetzt“ – und erst „das zweite, dass das Land in vier Jahren mindestens genauso gut dasteht wie heute“.
Es ist kein Trost, dass der gesetzgeberische Ausarbeitungseifer der großen Koalition in spe daher keinen ideologischen, sondern bloß einen strukturellen Urgrund hat. Wir sind in den vergangenen Tagen und Wochen nicht Zeugen einer „Sozialdemokratisierung der Republik“ im Sinne eines politisch gewollten, aus Überzeugung eingeleiteten Linksrucks geworden, sondern von Stabilisierungsarbeiten an einer Beziehung, die keiner will. Union und SPD haben einen Ehevertrag ausgehandelt, der ihre alsbaldige Scheidung vorwegnimmt, der die Partner, so gut es eben geht, für die Zeit nach der Trennung absichern soll. Das Ergebnis der nächtlichen Verhandlungsrunde ist kein Koalitionsvertrag mühsam ausgehandelter Kompromisse, sondern ein Koalitionsvertrag addierter Rücksichtnahmen. Schwarz-Rot – das ist die kostspielige Summe der Nachsicht, die Union und SPD, „dem Auftrag der Wähler“ gehorchend, aneinander üben.
Gesamtnutzen der Koalition ist bereits erreicht
Die große Koalition hat sich in den zurückliegenden Verhandlungswochen ganz bewusst keine schwarz-roten Regierungsspielräume eröffnet, sondern sich – und damit die Politik insgesamt – höchst einvernehmlich in Ketten gelegt. Sie hat sich bis 2017 zur freiwilligen Geisel all der Anfänge, Prüfaufträge und Vorhaben gemacht, die sie meinte sich um des bloßen Funktionierens willen auferlegen zu müssen. Ihr Grenznutzen ist deshalb bereits vor ihrer Vereidigung überschritten. Das Beste, was sie zu bieten hat, liegt bereits hinter ihr – und dieses Beste war eine beinah erheiternde, sehr adventliche Do-ut-des-Politik des Gebens und Nehmens. Man jonglierte mit 620 Milliarden Euro Steuereinnahmen, zauberte bis zu 40 Milliarden Euro schwere Geschenke aus dem Ärmel, verteilte reichlich Bonbons an die (ältere) Stammkundschaft – und vertraut nun darauf, dass auch in der Politik der mathematische Grundsatz gilt, wonach das Minus der Union (Maut und Mütterrente) mal das Minus der SPD (Mindestlohn und Rente mit 63) am Ende Plus (Senkung der Staatsschulden von 80 auf unter 60 Prozent des BIPs) ergibt. Früher nannte man so etwas Milchmädchenrechnung. Heute nennt man es „Politik für die Menschen“ (Union) oder „Politik für die kleinen Leute“ (SPD).
Mehrausgaben aus künftigen Einnahmerekorden
Offen bleibt, wer oder was die Großkoalitionäre aus der Berliner Manege wieder zurück ins Leben holt. Die Rückkehr der Euro-Krise? Ein konjunktureller Einbruch? Eine Zinserhöhung der EZB? Oder doch schon die humorlose SPD-Basis? Dass die große Koalition bei Regierungsantritt – zumal im europäischen Vergleich – das wirtschaftlich gesündeste anzunehmende Deutschland vorfindet und ganz ohne Not einem unkalkulierbaren Belastungstest unterzieht, wird sich schon bald als ihre schwerste Hypothek erweisen.
Tatsächlich reicht die Gültigkeit des stolz präsentierten Koalitionsvertrags nicht weiter als bis zur nächsten Steuerschätzung. Alles, was die drei Parteichefs an Mehrausgaben beschlossen haben, basiert auf der ziemlich kühnen Annahme, dass Bund, Länder und Gemeinden auch künftig Einnahmerekorde vermelden – eine Annahme, die umso optimistischer ist, je weniger so manche Beschlüsse der großen Koalition (Teilzeit, Mindestlohn) zu der Hoffnung Anlass geben, sie könnten die Wirtschaft stimulieren.
Teuer, unsinnig und moralisch vergiftet
Das Thema Steuererhöhung ist daher so wenig vom Tisch wie das Thema Neuverschuldung, im Gegenteil: Nicht ob die Koalition in den nächsten vier Jahren vor einer Zerreißprobe steht, ist die Frage, sondern nur wann. Ein anderes Beispiel: der Mindestlohn. 8,50 Euro mit Ausnahmen für Auszubildende und Praktikanten, teils schrittweise eingeführt bis 2017 – das hört sich zunächst einmal fast vernünftig, jedenfalls recht maßvoll an. Aber was, wenn zwischenzeitlich die Konjunktur lahmt, die Unternehmen entlassen, die Nachfrage wegbricht? Will die Union dann allen Ernstes an einem Plan festhalten, der mutmaßlich die Arbeitslosigkeit fördert und Jugendlichen ohne Ausbildung vor allem in ostdeutschen Bundesländern keine Chance lässt – nur weil sie sich der SPD gegenüber auf die Einhaltung eines solchen Plans verpflichtet hat?
An Stellen wie diesen reißt im Koalitionsvertrag der entscheidende Unterschied zwischen den Herzensanliegen auf, die sich die Lebensabschnittspartner großmütig erfüllt haben: Während die Wünsche der Union bloß teuer (Mütterrente) und unsinnig (Maut) sind, sind die der SPD auch moralisch vergiftet. Ihnen liegt die vollkommen irrige Annahme zugrunde, Fortschritt, Wachstum, das Wohl der Menschen und die soziale Gerechtigkeit ließen sich mit politischer Herbeiplanung unbedingt besser befördern als ohne. Statt die komplexe Wirklichkeit sich möglichst differenziert und ergebnisoffen vollziehen zu lassen, sie schiedsrichterlich zu beobachten und behutsam korrigierend zu begleiten, neigt die SPD (noch immer) dazu, das Gutgemeinte in eine unvorhersehbare Zukunft hinein gesetzgeberisch festnageln zu müssen – koste es, was es wolle.
Merkel navigiert am liebsten ohne Kompass
Während die Merkel-Union das Prinzip der schmerzlindernden Nachsorge verfeinert, indem sie zum Beispiel laufend ihre Energie- und Europapolitik revidiert, berichtigt, verbessert und innenpolitisch den ein oder anderen Missstand am Arbeitsmarkt behebt, ist die Gabriel-SPD vom Prinzip Vorsorge durchdrungen, will ständig beschützen, bewahren und eingreifen, will die Rechte von Arbeitnehmern und Niedriglöhnern retten, Frauen, Kinder und Arme in Obhut nehmen.
Welchen Politikstil die Deutschen bevorzugen, darüber haben sie am 22. September abgestimmt: Merkels Palliativpolitik für alle qualifiziert die CDU zur großen Volkspartei – Gabriels Präventivpolitik für jeden Einzelnen die SPD zu Merkels Juniorpartner. Allein: Eine rahmensetzende Ordnungspolitik, die am ehesten helfen könnte, das vollmundige Versprechen des Koalitionsvertrags („Deutschlands Zukunft gestalten“) einzulösen, ist weder von Union noch SPD zu erwarten. Merkel navigiert am liebsten ohne Kompass auf offener See. Während Gabriel gern mit Sozialweltkarte und Gerechtigkeitssextant über Gewerkschaftskanäle schippert. Und Seehofer? Nun, der ist, was er ist: der größte anzunehmende Freistaatskapitän, der stets verlässlich hart am Wind segelt.
CDU ist als Dauerregierungspartei definiert
Dennoch: Die drei Parteichefs sind fraglos die großen Gewinner des Koalitionsvertrags. Allen voran Angela Merkel. Die Kanzlerin ist 2005 als große Reformerin ins Rennen um historische Größe gegangen, gewiss: Deutschland stehe im internationalen Wettbewerb, tönte sie damals, das Land dürste nach Deregulierung, Flexibilität und Veränderung. Nun – niemand hat sich seither so konsequent dereguliert, so flexibel und veränderungsbereit gezeigt wie Merkel selbst. Die Kanzlerin hat die Undefiniertheit der Union definitiv und die Unkonkretheit von Regierungspolitik konkret gemacht. Immer wenn sie davon spricht, dass die Union drei Wurzeln hat – eine liberale, eine konservative, eine christlich-soziale –, erinnern sich die CDU-Mitglieder daran, dass Merkel sie ihrer politischen Heimat beraubt hat. Merkels Führung erschöpft sich (und uns) in situativer, ideell anspruchsloser, bestenfalls pragmatisch-professioneller Politik nach Vorschrift und Geschäftslage. Ein gesellschaftliches Leitbild, ein ordnendes Ziel, der Wille zur politischen Gestaltung – das alles fehlt ihr. Ihre CDU ist geradezu definiert als Dauerregierungspartei, die dem Lauf der Dinge hinterheramtiert, um sich stets auf der Höhe der gegenwärtigen Mehrheitsmeinung zu befinden. Das ist alles.
Und das ist mehr als genug. Angela Merkels Unberührbarkeit hat in den vergangenen zehn Wochen beinah schon göttliche Züge angenommen. Die große Koalition ist von den Medien ex ante verprügelt, von der SPD-Linken angegriffen und von der CSU unter Bedingungen gestellt worden – allein Merkel stand nie zur Debatte. Gerhard Schröder, Helmut Kohl, Helmut Schmidt, ihre Vorgänger – sie alle hafteten persönlich für ihre Politik, sie alle wurden angegiftet, verhöhnt, zuweilen diffamiert. Merkel nicht. Es ist, als würde sie als eine Art Heiliger Geist ihrer selbst umgehen: unfassbar, unantastbar, erhaben über alle Händel – ganz gleich, ob sie für Atomkraft, den Mindestlohn und die doppelte Staatsbürgerschaft ist oder dagegen. Offenbar fühlen sich die Deutschen gerade deshalb bei Merkel gut aufgehoben, weil sie jedweder Gesinnungsfestigkeit abhold ist.
Die Lizenz zum Regieren
Ihre vornehmste Aufgabe bestünde dann darin, die programmatischen Überspanntheiten der Parteien und Interessenverbände kenntlich zu machen und quasipräsidial zu temperieren. Und diese Aufgabe erfüllt Merkel mit Bravour. Sie personifiziert, ob neben Guido Westerwelle (2009) oder zwischen Gabriel und Seehofer (2013), den Ausgleich, die Mitte – das angenehme Antitestosteron.
Die äußere Ruhe, mit der Merkel in den vergangenen Wochen die öffentlich ausgebreiteten Befindlichkeitsstörungen von politischen Großkalibern wie Hannelore Kraft, Ralf Stegner und Florian Pronold (alle SPD) ertragen hat – das war ja beinahe überirdisch. Noch nie hat die Union in wenigen Wochen so viel verloren wie seit dem Abend ihres Triumphes. Acht Prozentpunkte mehr und ein Minister weniger – das war das eine. Viel schwerer wog, dass die überragende Wahlsiegerin hilflos mit ansehen musste, wie das gesamte Land von den größten aller Wahlverlierer, von den Linken in der SPD, in Geiselhaft genommen wurde. Tatsächlich schauten die Deutschen zum ersten Mal seit der Demission von Gerhard Schröder (2005) mal wieder mit einer gewissen Faszination auf die deutsche Sozialdemokratie. Schauten auf einen Parteitag, bei dem sich die SPD für eine Koalition mit Volker Kauder (CDU) locker machte und zugleich für eine künftige Koalition mit Sahra Wagenknecht (Die Linke). Und schauen jetzt auf die Genossen in Essen-Kupferdreh und Duisburg-Ruhrort, die Gabriel zum Vizekanzler begnaden und Merkel widerwillig die Lizenz zum Regieren erteilen.
Merkel wird immer gut dastehen
Die Deutschen werden es Merkel nicht vergessen. Sie konnte in den vergangenen Wochen nicht fröhlich flotte Leitartikel verfassen, in denen von Linksruck, Sozialismusgefahr und dem Ende des wirtschaftlichen Sachverstands die Rede war. Sie musste als strahlende 42-Prozent-Siegerin eine Notregierung zimmern, Kompromisse schmieden, Kreide fressen, Kröten schlucken. Angela Merkel saß ruhig und machte ihre Arbeit, wie sie sagt – wie immer. Sie stellte fest, dass aus vielen Flexibilisierungen des Arbeitsmarktes „Missbrauch entstanden“ ist, und reagierte – das ist nicht links, sondern nüchtern. Ihr Lohn: Sie wird auch dann gut dastehen, wenn der Konjunkturmotor ins Stottern geraten sollte. Denn dann wird es heißen: Nicht Merkel wollte einen „Politikwechsel“, sondern die SPD.
Aber auch Gabriel gebührt Respekt, der den SPD-Mitgliederentscheid mit Leidenschaft und Mut zum Risiko zu einer innerparteilichen Richtungswahl stilisiert hat: Entweder ihr weint und greint weiter, liebe Genossen, weil die Deutschen alle vier Jahre so blöd sind, 100 Prozent eurer Beglückungsangebote auszuschlagen – oder ihr setzt jetzt mehr von eurem Wahlprogramm um, als es das Ergebnis zulässt. Anders gesagt: Gabriel lässt darüber abstimmen, ob die SPD eine Partei der moralisierenden Rechthaber und zerquälten Oppositionsnarzissten bleiben oder doch mal wieder in die Nähe von 30 Prozent kommen will. Für viele Genossen ist das eine Zumutung, gewiss. Für die SPD ist es vielleicht eine Befreiung.
Nach dem Vertrag ist vor der Politik – warten wir es also ab. Den SPD-Mitgliederentscheid. Die übliche Schonfrist von 100 Tagen. Die große Koalition kann keine Erwartungen enttäuschen, das ist kein kleiner Vorteil. Vor allem aber hat sie einen Vertrag der detaillierten Planlosigkeit abgeschlossen, von dem nur gewiss ist, dass die Realität sich ihm entziehen wird.
Ob die Pläne dann den Realitäten angepasst werden oder die Realität den Plänen – allein davon wird am Ende abhängen, ob die Koalition glückt oder nicht.