Bundestagswahl Deutschland döst

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Selbstzufriedenheit, Überschätzung, Hybris

Es gibt noch eine andere Realität da draußen. Etwa jene, die der britische Economist fand, als er Deutschland eine Titelgeschichte widmete und der Bundesrepublik Selbstzufriedenheit, Überschätzung und Hybris bescheinigte. Der Schweizer „Tages Anzeiger“ schrieb neulich verächtlich: „Deutschland döst“. Natürlich sind da auch noch all die Warnungen der Unternehmer, Mittelständler und Manager: vor Innovationsstau bei der Industrie 4.0, vor Fachkräftemangel auf dem Land, vor Bildungschaos in den Städten und der maroden Infrastruktur in weiten Teilen der Republik. 

Und so erlebt, wer dieser Tage durchs Land reist, eine gespaltene Republik. Während sich die eine Hälfte, inklusive der Kanzlerin, darauf verlegt zu haben scheint, sich auf dem momentanen Erfolg auszuruhen, fehlt der anderen Hälfte die Kraft, die Idee und womöglich auch das politische Gespür, um die Probleme wirklich anzusprechen. Die WirtschaftsWoche geht in der aktuellen Titelgeschichte genau diesem Gegensatz nach: Drinnen Wohlfühlromantik, draußen Probleme. Dieser Tage erscheint zudem eine WiWo-Sonderausgabe zur Wahl: 49 Thesen, wie Deutschland auch in Zukunft seinen Wohlstand sichert.

Klar ist schon jetzt: Die allgemeine Selbstzufriedenheit nützt vor allem Merkel, entsprechend gelassen tritt die Kanzlerin im Wahlkampf auf. Die SPD von Martin Schulz ist derweil in einem Dilemma gefangen: Um neue Wähler anzusprechen, müsste sie das Land und die Lage entschiedener schlecht reden und Merkel verstärkt von links angreifen. Damit würde die SPD aber wohl zufriedene und gemäßigte Bürger abzuschrecken. Auch Grüne, Linke, FDP und AfD scheinen momentan kaum der richtige Katalysator. Im Bemühen, ihre eigene Klientel an die Urnen zu bekommen, fehlt es an grundsätzlichen Debatten und Ideen für die großen volkswirtschaftlichen Probleme - zumal diese sowieso erst noch ihren Weg in einen etwaigen Koalitionsvertrag finden müssten.

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So bleibt Deutschland vier Wochen vor der Wahl stecken im bequemen Ist-Zustand. Und die Deutschen scheinen eine Verabredung mit sich selbst getroffen zu haben: lasst uns noch ein wenig die schöne Illusion, behelligt uns nicht mit zu viel Meckerei.

Den Bundesbürgern mag das einen ruhigen Sommer bescheren. Im Ausland ist man derweil besorgt um den Zustand hierzulande. Nicht nur der britische Economist folgerte gerade nach seiner Deutschland-Reise: Das Land ignoriere die großen gesellschaftlichen Herausforderungen. Auch die in London erscheinende Times zeigte sich besorgt von einer Kanzlerin, die der „Bild“-Zeitung kürzlich bestätigte, zu glauben mit jedem Jahr ihrer Regentschaft noch besser zu werden.

Das grenze, so die Redaktion, an „Hybris“. Merkels beste Tage seien schließlich gezählt.

Und auch das Fazit des Züricher Tages-Anzeigers klingt eher besorgt, als erregt: Deutschland, schrieben die Redaktoren, könne sich solch Mutlosigkeit wie in diesem Wahlkampf nicht erlauben. So gut es dem Land heute auch gehe: „Die nächsten Jahre werden große Herausforderungen bringen, sei es bei der Neuerfindung der EU, der Migration, in der gefährlich unübersichtlich gewordenen Weltpolitik, beim Umbau der Maschinen- in eine digitalisierte Industrie oder bei der Ausarbeitung eines neuen Gesellschaftsvertrags.“

Wahl-ABC: Vom aktiven Wahlrecht bis zur Zweitstimme

All das aber vermissen die internationalen Beobachter bislang im Wahlkampf. Dabei würde sich die Auseinandersetzung dazu doch lohnen. „Wer glaubt, aus den Leistungen der Vergangenheit auf Erfolge in der Zukunft schließen zu können, irrt sich. Wer sich auf dem Erreichten ausruht, vergeudet die Zukunft“, bilanziert der Tages-Anzeiger.

Wenn schon ein ansonsten neutrales Land wie die Schweiz so deutliche Worte findet, ist wohl wirklich Eile geboten.

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