Nun versucht Martin Schulz es also mit Europapolitik. Mit Frankreich und Emmanuel Macron. An der Pariser Elite-Universität Sciences Po hielt der SPD-Kanzlerkandidat am Donnerstagnachmittag ein Plädoyer für mehr Europa. Deutschland habe in Europa „zu oft einen eisernen Händedruck geboten, zu selten die Hand gereicht“, rief Schulz den Studenten auf Französisch entgegen. „Wir könnten heute schon viel weiter sein.“ Dann zog Schulz weiter in den Elysee-Palast. Dort traf er am Abend Frankreichs Präsident Emanuel Macron. Es gebe eine enorme Übereinstimmung zwischen Macron und ihm hinsichtlich der nötigen Reformen für Europa, erklärte Schulz anschließend. Frankreichs Präsident bezeichnete Schulz als seinen "Freund Emmanuel" – und hoffte wohl, dass so ein wenig von Macrons Frische und Glanz an ihm hängen bleiben würde.
Der Wahlkampf-Trip nach Paris ist der nächste Versuch, die Mission Schulz-Kanzler doch noch einmal mit Schub zu versorgen. Seit Wochen hetzt Schulz von einem Termin zum nächsten: Besuch bei Audi in Ingolstadt, Kicken mit Nachwuchsfußballerinnen in Köln, Rundgang durch das verwüstete Hamburger Schanzenviertel nach den G20-Krawallen. Dazu etliche Grundsatzreden. Ein Bildungskonzept. Ein Rentenkonzept. Ein Steuerkonzept. Ein Zehn-Punkte-Plan. Am Sonntag wird Schulz seine europapolitischen Pläne vorstellen.
Martin Schulz' Zukunftsplan für den deutschen Arbeitsmarkt
Jeder Erwachsene über 18 mit festem Wohnsitz in Deutschland, schlägt die SPD vor. Aber auch Bürger ausländischer Herkunft sollen nicht leer ausgehen. Sind sie schon lange im Land und verfügen über ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht, sollen sie ebenfalls das Konto erhalten.
Den Sozialdemokraten schwebt zum Start ein Guthaben von 5000 Euro vor. Langfristig sollte es auf 15 000 bis 20 000 Euro anwachsen. Schwachpunkt des Vorschlags ist, dass die SPD nicht sagt, wie teuer das für die Steuerzahler wird und wer das finanziert. Es gibt Ideen, Geld, das der Staat aus einer höheren Erbschaftsteuer kassieren könnte, für die Erwerbskonten zu verwenden.
Nein. Das neue Instrument soll bestehende staatliche Leistungen nicht ersetzen oder zu Doppelstrukturen führen. Während des Bezugs von Arbeitslosengeld oder Hartz IV (Grundsicherung) würde das „Chancenkonto“ eingefroren. Auch soll darauf geachtet werden, dass Arbeitgeber ihre freiwilligen Weiterbildungsangebote nicht zurückschrauben, nur weil der Staat mit dem Konto für jedermann auf dem Markt ist.
Ja, so ist es geplant. Die Förderungen von Studenten und Auszubildenden über Bafög und Aufstiegs-Bafög soll durch das neue Instrument nicht berührt werden.
Unklar. Zunächst müsste das nach der Wahl in den Koalitionsverhandlungen zwischen den beteiligten Parteien geklärt werden. Im Haus von Ministerin Nahles wird an Vorschlägen gearbeitet. Auch der Industrieländer-Club OECD treibt das Modell voran und wirbt dafür, jeden Arbeitnehmer zu ermutigen, seine Erwerbsbiografie persönlich zu gestalten.
Es soll jeden Arbeitnehmer motivieren, sich Zeit für Weiterbildung zu nehmen, den eigenen Lebenslauf zu stärken, um auf dem digitalen Arbeitsmarkt überleben zu können. Angesprochen werden sollen vor allem junge Leute, die ihre Startchancen auf dem Arbeitsmarkt verbessern sollen.
Soziologen und Arbeitsmarktexperten hoffen, dass mit staatlich unterstützen Erwerbskonten die Chancengleichheit steigt. Berufseinsteiger aus ärmeren und bildungsfernen Haushalten haben schlechtere Bedingungen als Kinder aus wohlhabenden Familien, wo die Eltern auch mal „irgendwas mit Medien“ oder ein Alibi-Studium finanzieren, selbst wenn das am Ende nichts wird.
Die Union will nach der Wahl Familienzeitkonten einführen. Mit angesparter Zeit sollen Familien die Chance auf Elternzeit, Weiterbildung oder Sabbaticals bekommen. „Das Familienzeitkonto hilft Familien in jeder Lebensphase“, sagte die Vorsitzende der Frauen Union, Annette Widmann-Mauz (CDU, dem „Focus“. Die Grünen wollen jedem, der eine gute Firmenidee hat, einmalig ein flexibles und zinsfreies Darlehen von bis zu 25 000 Euro zahlen.
Dieses Modell hat viele Fans, darunter Topmanager wie Siemens-Chef Joe Kaeser oder der Inhaber der dm-Drogeriemarkt-Kette, Götz Werner. Letzterer fordert, jedem Bürger bis zu 1200 Euro monatlich auszuzahlen. Arbeitsministerin Nahles hält davon nichts. Ein Grundeinkommen - unabhängig von Bedürftigkeit und Arbeit - sei keine adäquate Antwort, berge erhebliche ökonomische Risiken, heißt es aus dem Ministerium. Mehr Gerechtigkeit sei fraglich: „In der Konsequenz ist zu befürchten, dass das bedingungslose Grundeinkommen eher zur Spaltung der Gesellschaft führt und insbesondere benachteiligte Menschen zunehmend ausgegrenzt würden.“ Die OECD warnt nach einem 23-Länder-Vergleich, im Schnitt würde ein bedingungsloses Grundeinkommen knapp 50 Prozent unter der Armutsgrenze liegen.
Den Vorwurf, kein Programm zu haben, hat Schulz somit abgeräumt. Sein Steuerkonzept ist genauso detailliert wie das der Union. Das Konzept einer Investitionspflicht mag streitbar sein, bildet aber eine Alternative zu Schäubles Sparpolitik. Und ein individuelles Chancenkonto für Fortbildungen ist zumindest eine frische Idee.
Trotzdem kommt Schulz nicht voran. Im Gegenteil: Seit Wochen geht es in Umfragen abwärts für seine SPD. Auch der Schulz-Hype ist längst vorbei. Laut einer Umfrage des Instituts für angewandte Sozialwissenschaft (infas) können sich für Martin Schulz derzeit nur 15 Prozent der Deutschen „richtig begeistern“. Enthusiasmus für Angela Merkel hegen dagegen 36 Prozent der Bürger.
Marcus Maurer ist Professor für Politische Kommunikation an der Universität Mainz. Seit Jahren beschäftigt er sich mit Wahlkämpfen, damit wie Politiker Wähler mobilisieren können, wie Medien kurzfristige Wahlentscheidungen beeinflussen. Zuletzt hat er über nonverbale politische Kommunikation geforscht und darüber wie Politiker ihre Agenda im politischen Tagesgeschäft verankern können.
Maurer ist einer der wenigen, die bereits während des Schulz-Hypes im Frühjahr vor dem ebenso schnellen Absturz des SPD-Hoffnungsträgers warnten. Nun, im Rückblick, erzählt Maurer die Geschichte eines kurzen, heftigen Aufstiegs – und eines kontinuierlichen Falls.
Ein erfolgreicher Angriff auf Merkel ist fast unmöglich
Am Anfang profitierte Schulz vom Überraschungseffekt. Davon, dass er sich als politischer Außenseiter verkaufen konnte, als Aufsteiger, der frisch aufspielen konnte im festgefahrenen Berliner Politikbetrieb. Seine Partei inszenierte Schulz als Popstar, nahm Vorlagen aus dem Internet geschickt auf. Doch irgendwann merkten die Deutschen, dass Schulz kein Popstar ist, kein Schröder und auch kein Macron. Das Gefühl, dass mit Schulz ein neuer Spieler eingetreten sei ins politische Kräftemessen der Republik, war plötzlich weg.
„Jetzt befindet sich Martin Schulz in einer Zwickmühle“, sagt Kommunikationsexperte Maurer im Gespräch mit der WirtschaftsWoche. Schulz liege hinten, müsse also etwas tun. „Ihm bleibt nur der Angriff“, sagt Maurer. Allerdings zählt Maurer drei Dinge auf, die einen erfolgreichen Angriff erschweren.
Erster Punkt: Die aktuelle Themenlage. Die Leute interessiere derzeit vor allem die innere Sicherheit. Schulz dagegen habe lange auf soziale Gerechtigkeit gesetzt. „Den meisten Leuten geht es aber ganz gut“, sagt Maurer. Deswegen ziehe das Thema nicht. Überhaupt sei es fast unmöglich für Schulz aus dem Nichts seine Themen in den Vordergrund zu drängen. „Schulz kann nicht einfach sagen: ‚So jetzt reden wir über Wirtschaftspolitik‘, während der Rest der Republik über die G20-Randale und Sicherheit debattiert.“
Zweiter Punkt: Wer angreift, macht sich unbeliebt. „Mit Attacken kann man seine Stammwähler mobilisieren“, sagt Maurer. Gleichzeitig verschrecke man unentschlossene Wähler. „Die Leute mögen politische Schlammschlachten einfach nicht.“
Dritter Punkt: Das Paradoxon der konkreten Vorschläge. Schulz sei lange vorgehalten bloß auf Emotionen zu setzen und inhaltlich wage zu bleiben. Darauf habe Schulz mit allerlei konkreten Plänen und Konzepten reagiert. „Das Problem ist aber, dass die Wähler zwar konkrete Pläne fordern, sie aber nicht goutieren“, erklärt Maurer. Je konkreter ein Vorschlag sei, desto größer werde die Gefahr, bei bestimmten Wählern anzuecken. „Deswegen ist es leider eine gute Strategie, so unkonkret wie möglich zu bleiben.“
Genau das macht Merkel. Sie befinde sich allerdings in einer ganz anderen Ausgangslage. „Die Kanzlerin hat jede Menge außenpolitische Termine und kann sich somit als souveräne Staatsdienerin darstellen“, sagt Maurer. Innenpolitisch müsse sie sich deswegen kaum positionieren. „Sie kann also auch keine Leute verschrecken.“
Maurers Prognose für Schulz fällt deswegen pessimistisch aus. „Ich wüsste gar nicht, was man ihm in der derzeitigen Situation raten soll“, sagt der Kommunikationsprofi. Zu verzwickt die Lage für Schulz, zu komfortabel die Position der Kanzlerin. „Merkel kann sich eigentlich zurücklehnen und abwarten“, sagt Maurer. „Schulz hat nur noch eine Chance, wenn sich Merkel einen dicken Patzer erlaubt.“