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Die WiWo-Wahl-Wette: Es wird spannend

Merkel vor Schulz – so viel ist klar. Viel interessanter ist: Der Wahlabend wird für beide ein Albtraum. Prognose einer Wahl voller Überraschungen.

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Prognose zur Bundestagswahl 2017 von Dieter Schnaas. Quelle: WirtschaftsWoche

In den Festwochen der Demoskopie vor den Bundestagswahlen am 24. September gehen die beiden interessantesten Zahlen regelmäßig unter: 45 Prozent der Deutschen glauben, die Wahl sei bereits entschieden. 46 Prozent der Deutschen sind sich noch unsicher, welcher Partei sie ihre Stimme geben werden.

Zahl Nummer eins spricht dafür, dass die Wahlbeteiligung vergleichsweise gering ausfallen wird. Zahl Nummer zwei ist ein Indiz dafür, dass die politische Stimmung in Deutschland viel volatiler ist als es die – seit Wochen fast wie in Stein gemeißelten - Werte bei der „Sonntagsfrage“ vermuten lassen. Und beide Zahlen zusammen lassen eigentlich nur einen Schluss zu: Es wird so spannend wie seit dem Regierungswechsel 2005 nicht mehr.

Wenn auch auf ganz andere Weise, als Angela Merkel (CDU) und Martin Schulz (SPD) es sich kurz vor dem „TV-Duell“ vorstellen. Denn wen werden wir Sonntagabend zu sehen bekommen? Einerseits eine selbstanspruchslose Kanzlerin, die meint, die Deutschen abermals im Zeichen der Raute sedieren, sie zur müden, möglichst passiven Zustimmung zu ihrer Nicht-Politik bewegen zu können – ein fataler Irrtum.

Andererseits einen Kandidaten, der seine ganze Kraft darauf verwendet, sich selbst weis zu machen, er habe noch eine Chance, ins Kanzleramt einzuziehen: als eine Art väterliches Pendant zur mütterlichen Kanzlerin, unter dem es noch ein klein wenig fürsorglicher zugehen würde – eine fast schon bemitleidenswert tote Hoffnung.

Nein, wirklich spannend ist dieses TV-Duell nur auf indirekte Weise: Es läutet einen „Zweikampf“ ein, aus dem die vier vier kleineren Wettbewerber als große Gewinner hervorgehen werden: Linke, Grüne, FDP und AfD - sie alle werden mit zehn Prozent plus durchs Ziel gehen.

Anders gesagt: Die Wahl am 24. September wird nicht für Merkel oder Schulz ein Albtraum - sondern für beide. Die Union verliert in den nächsten Wochen auf Kosten von FDP, AfD und Grünen – und die SPD fällt ins Bodenlose, weil linke Wähler der Linken um Sahra Wagenknecht vielleicht nicht mehr Lösungskompetenz, wohl aber mehr Einfühlungs-, Analyse- und Oppositionsvermögen zusprechen. Eine persönliche Umfrage bei mir selbst kommt zu folgendem vorläufigen Endergebnis: Union 32 Prozent, SPD 19, Linke 12, AfD 12, FDP 11, Grüne 10.

Merkel gegen Schulz: Die wichtigsten Themen und Positionen vor dem TV-Duell

Fangen wir mit der Union an. Die Wahlkampfstrategie der Merkel-CDU ist bekannt: Demobilisierung. Entpolitisierung. Die größtmögliche Abwesenheit von Prinzipien, Grundsätzen, programmatischen Aussagen. Die Union meint, die Stimmung im Land auf diese Weise perfekt aufzunehmen: Die Welt draußen spielt verrückt - also ist die Sehnsucht nach Normalität in diesen Monaten besonders groß, also vertrauen die Wähler auf Merkel, auf den Zerberus, der uns die Politik vom Leibe hält.

Was die Union nicht versteht: Wenn knapp 40 Prozent der Deutschen sich eine Fortsetzung der Großen Koalition unter Merkels Führung wünschen, bedeutet das im Umkehrschluss: Mehr als 60 Prozent der Deutschen wollen das nicht.

Und so geht Angela Merkel, unter veränderten Vorzeichen, zum zweiten Mal nach 2005 der Demoskopie auf den Leim. Abermals nimmt sie Unterströmungen in der politischen Stimmung nicht wahr, die der Union das Ergebnis vermasseln werden. Damals, 2005, war Merkel reformbetrunken und veränderungsselig, versprach Deutschland (zwei Jahre nach den Schröder-Reformen!) mit Kopfpauschalen, Steuerreformen und Anti-Gewerkschafts-Rhetorik vom angeblich sozialistischen Kopf auf die liberalen Füße zu stellen. Die Folge: Merkel entging nach riesigem Vorsprung nur hauchdünn einer Blamage.

von Thomas Schmelzer, Max Haerder, Christian Ramthun, Cordula Tutt, Christian Schlesiger

Diesmal wirkt sie, ganz im Gegenteil, satt und selbstzufrieden und verspricht nach vier Jahren einer Großen Koalition, die wirtschaftspolitisch geprägt waren von sozialdemokratischen Projekten: null und nichts. Die Folge wird sein, dass sich Merkels Demobilisierung diesmal gegen die eigene Partei wendet. Die Union hat keine Ziele, keine Projekte, außer der Macht, sie kann sich mit der SPD vermählen, mit der FDP oder auch den Grünen, ganz egal… - das mag ihren Funktionären reichen. Nicht aber ihren Wählern.

Die CDU-Anhänger fangen daher nicht erst am 26. September an, darüber nachzudenken, wann es mit Merkels Herrschaft (endlich) zu Ende geht. Sondern schon am Sonntag. Die Folge: Die Kanzlerin wird sich in drei Wochen bei Horst Seehofer bedanken müssen, dass die Union wenigstens bei 32 Prozent gelandet ist. Es wird sich heraus stellen, dass die CSU die AfD in Bayern deutlich besser auf Distanz gehalten hat als die CDU in Restdeutschland.

Die SPD tritt in diesem Wahlkampf gegen sich selbst an

Die SPD tritt in diesem Wahlkampf nicht gegen die Union an, so verbreitet dieser Irrtum auch ist. Sondern zum Beispiel gegen sich selbst. Nur sie zeichnet sich durch Parteigranden aus, die Merkel besser finden als Schulz (Klaus von Dohnanyi), die die Lindner-FDP besser finden als Schulz (Wolfgang Clement) - und die sich selbst besser finden als Schulz (Gerhard Schröder).

Davon abgesehen, sitzt die SPD zwischen allen Stühlen: Was immer sie vorschlägt und anpackt, wird von zwei Seiten attackiert und auseinandergenommen. Und deshalb gibt es für die SPD, so seriös und ernsthaft ihre Reformprojekte auch sind, an der Meinungsbildungsfront nichts zu gewinnen. Die Bürgerlichen werfen ihr zu viel Umverteilung vor, die Linken zu wenig. Die Besitzenden schreien: Haltet den Dieb! Und die Besitzlosen fühlen sich verraten. Für Martin Schulz gibt es daher auf den letzten Metern nichts mehr zu gewinnen, aber noch viel zu verlieren. Prognose: 19 Prozent.

Wahl-ABC: Vom aktiven Wahlrecht bis zur Zweitstimme

Womit wir bei den Linken und bei der AfD wären. Beide Parteien werden bis weit in bürgerliche Milieus hinein auf je ihre Weise als eine Opposition wahrgenommen, die diesen Namen auch verdient. Beide Parteien sind Gegenentwürfe gegen die kränkelnden Liberalismen der westlichen Welt: gegen den Wirtschaftsliberalismus der Weltkonzerne, die am Abbau der Sozialen Marktwirtschaft arbeiten - und gegen den Kulturliberalismus der Pluralisten und Permissiven, die am Abbau des Nationalen, der Identität, der Heimat und altfamiliären Ordnung arbeiten. Und schließlich geben beide Parteien den Gekränkten und Abgehängten eine Stimme, den Zeitarbeitern, Niedriglöhnern und Hartz-IV-Anhängern, für die Merkels Selbstzufriedenheit eine Provokation ist und Schulz’ angestrebtes Sozialreförmchen ein Witz.

Die Spitzenkandidaten der Parteien zur Bundestagswahl 2017
Angela Merkel Quelle: REUTERS
Martin Schulz Quelle: AP
Joachim Herrmann Quelle: dpa
Christian Lindner Quelle: REUTERS
Katrin Göring-Eckardt Quelle: dpa
Cem Özdemir Quelle: dpa
Alice Weidel Quelle: dpa

In weiten Teilen Ostdeutschlands werden sich daher nicht Merkel-CDU und Schulz-SPD, sondern die Linke und die AfD das eigentliche Duell liefern. Für Westdeutschland gilt: Der Zuspruch für beide Parteien wird wachsen - weil es nach vier Jahren der Großen Koalition, nach Bankenrettung und Abgasskandal, infolge der Flüchtlingskrise und explodierender Mietpreise, noch nie so gute Gründe gab, mit „dem Geld“ und „den Mächtigen“ unzufrieden zu sein. Prognose: jeweils 12 Prozent.

Die FDP ist die heimliche Oppositionspartei der CDU - und als eine Art freie Radikale den Linken und der AfD durchaus verwandt: Während die Union rein gar nichts ändern will, will die FDP im Namen eines Neuanfangs alles zurück auf Null drehen. Dabei überdreht sie mal wieder gewaltig. Versucht mal, der AfD ein wenig Wasser abzugraben (Lindner gibt die Krim verloren) - und gibt sich ansonsten, in Abgrenzung zur Großen Koalition, demonstrativ zukunftsselig, optimistisch, unbesorgt: „Digital first - Bedenken second“.

Die FDP fischt mit ihrer Kampagne sehr zielgenau

Die emphatische Bejahung des Entfesselten, Künftigen und Möglichen ist nicht nur theoretisch niederschmetternd, weil gelingender Fortschritt in demokratischen Gesellschaften immer aus dem In- und Gegeneinander von neuen technischen Möglichkeiten und ihrer kulturellen Befragung resultiert. Sondern auch politisch frustrierend: als sei die Bedenkenlosigkeit der FDP (Selbstverpflichtungen der Wirtschaft, Deregulierung des Bankensektors, Wahrung des Bankgeheimnisses) stets Garant und nie Hemmschuh des Fortschritts gewesen.

Gleichwohl: Die FDP fischt mit ihrer Kampagne sehr zielgenau. Bei Menschen, die in der Union eine zweite SPD erblicken. Bei Gründern und Hipstern in den Städten. Und bei den Erstwählern der Facebook-Generation. Prognose: elf Prozent.

Schließlich die Grünen. Für sie müsste eigentlich alles perfekt laufen. Spektakuläre Wetterphänomene, Fipronil-Skandal und Diesel-Desaster - das Nachrichten-Drehbuch der vergangenen Wochen meint es wahrlich gut mit einer Partei, die sich dem Kampf gegen den Klimawandel, die Massentierhaltung und Autogesellschaft auf die Fahnen geschrieben hat.

Trotzdem tun sich die Grünen schwer - weil ihnen der irrationale Überschuss fehlt, der sie immer ausgezeichnet hat. Weil ihnen einer wie Jürgen Trittin fehlt, der auch mal zynisch und böse sein konnte, eine wie Claudia Roth, die auch mal nervte mit ihrem beseelten Engagement. Stattdessen sind die Grünen, neben der Union, die zweite Partei der Mitte: nie war der „Marsch durch die Institutionen“ so endgültig besiegelt wie in diesem Jahr.

Das Kuriose daran: Was die Winfried-Kretschmann-Grünen bei den Jungen und Linken verlieren, gewinnen sie auf Kosten der Union hinzu - unter Wählern, die sich der Mitte verpflichtet fühlen, die sich dabei aber wenigstens ein klein wenig in eine Richtung bewegen wollen, von der sie annehmen, es sei die richtige. Katrin Göring-Eckardt und Cem Özdemir stehen Angela Merkel unter allen Spitzenkandidaten besonders nahe - und punkten gegenüber ihr auf der Zielgeraden mit dem kleinen moralischen Surplus, das sie auszeichnet: mit der Kraft der Guten, die die Welt ein klein wenig besser einrichten wollen als sie ist - wie schön. Prognose: zehn Prozent.

So. Und jetzt sind Sie dran, liebe Leser. Ran an die Fernseher am Sonntag. Und ran an die Urnen in drei Wochen. Auch wenn meine prognostiziertes Ergebnis ganz sicher eintreffen wird.

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