In den Festwochen der Demoskopie vor den Bundestagswahlen am 24. September gehen die beiden interessantesten Zahlen regelmäßig unter: 45 Prozent der Deutschen glauben, die Wahl sei bereits entschieden. 46 Prozent der Deutschen sind sich noch unsicher, welcher Partei sie ihre Stimme geben werden.
Zahl Nummer eins spricht dafür, dass die Wahlbeteiligung vergleichsweise gering ausfallen wird. Zahl Nummer zwei ist ein Indiz dafür, dass die politische Stimmung in Deutschland viel volatiler ist als es die – seit Wochen fast wie in Stein gemeißelten - Werte bei der „Sonntagsfrage“ vermuten lassen. Und beide Zahlen zusammen lassen eigentlich nur einen Schluss zu: Es wird so spannend wie seit dem Regierungswechsel 2005 nicht mehr.
Wenn auch auf ganz andere Weise, als Angela Merkel (CDU) und Martin Schulz (SPD) es sich kurz vor dem „TV-Duell“ vorstellen. Denn wen werden wir Sonntagabend zu sehen bekommen? Einerseits eine selbstanspruchslose Kanzlerin, die meint, die Deutschen abermals im Zeichen der Raute sedieren, sie zur müden, möglichst passiven Zustimmung zu ihrer Nicht-Politik bewegen zu können – ein fataler Irrtum.
Andererseits einen Kandidaten, der seine ganze Kraft darauf verwendet, sich selbst weis zu machen, er habe noch eine Chance, ins Kanzleramt einzuziehen: als eine Art väterliches Pendant zur mütterlichen Kanzlerin, unter dem es noch ein klein wenig fürsorglicher zugehen würde – eine fast schon bemitleidenswert tote Hoffnung.
Nein, wirklich spannend ist dieses TV-Duell nur auf indirekte Weise: Es läutet einen „Zweikampf“ ein, aus dem die vier vier kleineren Wettbewerber als große Gewinner hervorgehen werden: Linke, Grüne, FDP und AfD - sie alle werden mit zehn Prozent plus durchs Ziel gehen.
Anders gesagt: Die Wahl am 24. September wird nicht für Merkel oder Schulz ein Albtraum - sondern für beide. Die Union verliert in den nächsten Wochen auf Kosten von FDP, AfD und Grünen – und die SPD fällt ins Bodenlose, weil linke Wähler der Linken um Sahra Wagenknecht vielleicht nicht mehr Lösungskompetenz, wohl aber mehr Einfühlungs-, Analyse- und Oppositionsvermögen zusprechen. Eine persönliche Umfrage bei mir selbst kommt zu folgendem vorläufigen Endergebnis: Union 32 Prozent, SPD 19, Linke 12, AfD 12, FDP 11, Grüne 10.
Merkel gegen Schulz: Die wichtigsten Themen und Positionen vor dem TV-Duell
Vier TV-Sender übertragen das TV-Duell zwischen Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und dem SPD-Kanzlerkandidaten Martin Schulz am 3. September um 20.15 Uhr live im Fernsehen: ARD, ZDF, RTL und Sat.1.
Große thematische Überraschungen sind an diesem Sonntag nicht zu erwarten. Ein Überblick zu den voraussichtlich wichtigsten Themen und Positionen:
Quelle: dpa
Hier dürfte der Herausforderer hoffen, am meisten punkten zu können. Merkel weiß: Bei Sozialthemen kann sie gegen den Sozialdemokraten traditionell kaum gewinnen. Es gilt für sie, sich wenigstens keine Blöße zu geben. Schulz wirft Merkel vor, sie interessiere sich nicht für die Sorgen der „kleinen Leute“.
Schulz will die Schulpolitik umkrempeln - und mit Milliardenschecks die zuständigen Länder für eine „nationale Bildungsallianz“ gewinnen. Die strikte Trennung der Kompetenzen von Ländern und Bund bei der Bildung war 2006 von Union und SPD in die Verfassung geschrieben worden. 2014 und 2017 wurde das Verbot von der großen Koalition gelockert, damit der Bund mehr Geld für Hochschulen und zur Sanierung maroder Schulgebäude an die Länder geben kann.
Im Themenfeld „Gerechtigkeit“ dürfte es neben der klassischen Sozialpolitik auch um den Arbeitsmarkt gehen. Beim aktuellen Thema Air-Berlin-Rettung, wo es um Tausende Arbeitsplätze geht, gibt es zwischen Union und SPD kaum Reibungspunkte. Merkel könnte versuchen, Schulz' punktuelles Abrücken von Schröders Reformagenda-2010 aufzuspießen, um so auch vor Rot-Rot-Grün zu warnen.
Schulz hält Merkel Versagen in der Rentenpolitik vor. Dies werde dazu führen, dass die Renten sinken und die Beiträge steigen. Das sei „Altersarmut auf Programm“, warnt er. Die Union entgegnet, mit der Rentenreform der großen Koalition von 2007 seien Rentenniveaus und -beiträge bis 2030 geklärt.
Schulz hat den Ton gegenüber der Kanzlerin am Wochenende verschärft, sie persönlich attackiert und ihr Abgehobenheit vorgehalten. Indem sie mit Flugzeugen und Hubschraubern der Flugbereitschaft der Regierung günstig unterwegs sei, mache sie Wahlkampf auf Kosten der Steuerzahler. Merkel konterte, die Bezahlung der Flüge sei rechtlich geregelt. Sie sei schließlich immer im Dienst.
Beim Streit über die Zukunft des Dieselmotors gibt es eigentlich nicht viele Knackpunkte zwischen Schulz und Merkel. Beide betonen, der Diesel werde noch lange gebraucht. Schulz hat aber angekündigt, er werde die umstrittene und von seiner Partei mitgetragene Pkw-Maut rückgängig machen, wenn er Kanzler werde. Merkel bekennt sich dagegen zu dem von ihr ursprünglich auch abgelehnten, aber von der CSU durchgesetzten Maut-Projekt.
Dass Schulz Merkel einen zu laschen Umgang mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan vorwerfen wird, gilt als ausgemacht. Er fordert im Konflikt um die in der Türkei inhaftierten Deutschen ein Ultimatum. Wenn Erdogan die Gefangenen nicht unverzüglich freilasse, müsse die EU die Verhandlungen über eine Ausweitung der Zollunion abbrechen. Merkel hält von Ultimaten grundsätzlich nichts, weil sie Verhandlungen nur schwerer machen. Sie hat Schulz aber inhaltlich schon den Wind aus den Segeln genommen, als sie ankündigte, Berlin werde die Verhandlungen über eine Ausweitung der Zollunion blockieren.
Schulz könnte Merkel vorhalten, dass sie von ihrer Willkommenspolitik im Jahr 2015 abgerückt sei und nun auf Abschottung setze. Schwierig dürfte für ihn dabei aber sein, dass die SPD in der großen Koalition alle Verschärfungen in der Asyl- und Migrationspolitik als kleiner Regierungspartner mitgetragen hat. Gut möglich, dass der SPD-Chef den Finger in die Unions-Wunde Flüchtlings-Obergrenze legt. Der Streit zwischen Merkel und CSU-Chef Horst Seehofer über eine Obergrenze für Flüchtlinge ist nur bis zu möglichen Koalitionsverhandlungen auf Eis gelegt.
Innere Sicherheit, Terrorismus, Kriminalität: Hier ist es umgekehrt wie beim Thema soziale Gerechtigkeit. Der Union wird traditionell die größere Kompetenz zugeschrieben. Außerdem haben die Sozialdemokraten nach den islamistischen Anschlägen in Deutschland die Verschärfung der Gesetzgebung im Sicherheitsbereich mitgetragen.
Eines der jüngsten Lieblingsthemen von Schulz und Außenminister Sigmar Gabriel. Gabriel hat Merkel vorgeworfen, sich US-Präsident Donald Trump zu unterwerfen, weil sie das Zwei-Prozent-Ziel für den Verteidigungsetat ins Wahlprogramm hat schreiben lassen. Laut SPD würde das jährlich 30 Milliarden Euro mehr für Rüstung bedeuten. Die Nato hatte sich 2014 auf die Formulierung verständigt, dass jedes Mitgliedsland die Verteidigungsausgaben bis 2024 in Richtung zwei Prozent erhöhen soll. Damals wurde dies von SPD-Außenminister Frank-Walter Steinmeier mitgetragen.
Ein Dauerthema in Deutschland. 2009 zog schon Frank-Walter Steinmeier damit in den SPD-Wahlkampf, auch FDP-Mann Guido Westerwelle probierte es. Gabriel unterstützt Schulz bei seiner Forderung nach einem Abzug der US-Atomwaffen. Bislang hat aber noch jede Regierung die offiziell gar nicht bestätigte Stationierung von US-Atomwaffen in Deutschland mitgetragen.
Fangen wir mit der Union an. Die Wahlkampfstrategie der Merkel-CDU ist bekannt: Demobilisierung. Entpolitisierung. Die größtmögliche Abwesenheit von Prinzipien, Grundsätzen, programmatischen Aussagen. Die Union meint, die Stimmung im Land auf diese Weise perfekt aufzunehmen: Die Welt draußen spielt verrückt - also ist die Sehnsucht nach Normalität in diesen Monaten besonders groß, also vertrauen die Wähler auf Merkel, auf den Zerberus, der uns die Politik vom Leibe hält.
Was die Union nicht versteht: Wenn knapp 40 Prozent der Deutschen sich eine Fortsetzung der Großen Koalition unter Merkels Führung wünschen, bedeutet das im Umkehrschluss: Mehr als 60 Prozent der Deutschen wollen das nicht.
Und so geht Angela Merkel, unter veränderten Vorzeichen, zum zweiten Mal nach 2005 der Demoskopie auf den Leim. Abermals nimmt sie Unterströmungen in der politischen Stimmung nicht wahr, die der Union das Ergebnis vermasseln werden. Damals, 2005, war Merkel reformbetrunken und veränderungsselig, versprach Deutschland (zwei Jahre nach den Schröder-Reformen!) mit Kopfpauschalen, Steuerreformen und Anti-Gewerkschafts-Rhetorik vom angeblich sozialistischen Kopf auf die liberalen Füße zu stellen. Die Folge: Merkel entging nach riesigem Vorsprung nur hauchdünn einer Blamage.
Diesmal wirkt sie, ganz im Gegenteil, satt und selbstzufrieden und verspricht nach vier Jahren einer Großen Koalition, die wirtschaftspolitisch geprägt waren von sozialdemokratischen Projekten: null und nichts. Die Folge wird sein, dass sich Merkels Demobilisierung diesmal gegen die eigene Partei wendet. Die Union hat keine Ziele, keine Projekte, außer der Macht, sie kann sich mit der SPD vermählen, mit der FDP oder auch den Grünen, ganz egal… - das mag ihren Funktionären reichen. Nicht aber ihren Wählern.
Die CDU-Anhänger fangen daher nicht erst am 26. September an, darüber nachzudenken, wann es mit Merkels Herrschaft (endlich) zu Ende geht. Sondern schon am Sonntag. Die Folge: Die Kanzlerin wird sich in drei Wochen bei Horst Seehofer bedanken müssen, dass die Union wenigstens bei 32 Prozent gelandet ist. Es wird sich heraus stellen, dass die CSU die AfD in Bayern deutlich besser auf Distanz gehalten hat als die CDU in Restdeutschland.
Die SPD tritt in diesem Wahlkampf gegen sich selbst an
Die SPD tritt in diesem Wahlkampf nicht gegen die Union an, so verbreitet dieser Irrtum auch ist. Sondern zum Beispiel gegen sich selbst. Nur sie zeichnet sich durch Parteigranden aus, die Merkel besser finden als Schulz (Klaus von Dohnanyi), die die Lindner-FDP besser finden als Schulz (Wolfgang Clement) - und die sich selbst besser finden als Schulz (Gerhard Schröder).
Davon abgesehen, sitzt die SPD zwischen allen Stühlen: Was immer sie vorschlägt und anpackt, wird von zwei Seiten attackiert und auseinandergenommen. Und deshalb gibt es für die SPD, so seriös und ernsthaft ihre Reformprojekte auch sind, an der Meinungsbildungsfront nichts zu gewinnen. Die Bürgerlichen werfen ihr zu viel Umverteilung vor, die Linken zu wenig. Die Besitzenden schreien: Haltet den Dieb! Und die Besitzlosen fühlen sich verraten. Für Martin Schulz gibt es daher auf den letzten Metern nichts mehr zu gewinnen, aber noch viel zu verlieren. Prognose: 19 Prozent.
Wahl-ABC: Vom aktiven Wahlrecht bis zur Zweitstimme
Wer mindestens 18 Jahre alt ist und einen deutschen Pass hat, darf wählen. Mit ihren beiden Stimmen entscheiden die Wähler und Wählerinnen über die Zusammensetzung des Bundestages. Um als Abgeordneter gewählt zu werden, muss man ebenfalls mindestens 18 Jahre alt sein.
Wer seine Stimme nicht im Wahllokal abgeben mag - aus welchen Gründen auch immer -, kann auf Antrag bereits vor der Wahl per Brief abstimmen. Bei der letzten Wahl machte fast jeder Vierte davon Gebrauch.
Erfolgreichen Kandidaten winkt eine üppige Bezahlung. Als Abgeordnete erhalten sie derzeit monatlich eine steuerpflichtige „Aufwandsentschädigung“ von 9542 Euro. Hinzu kommt eine steuerfreie Kostenpauschale von 4318 Euro, die nicht belegt werden muss. Auf Kosten des Steuerzahlers geht auch eine beitragsfreie Altersversorgung.
Am Wahlabend debattieren die Vorsitzenden der Bundestagsparteien im Fernsehen das Ergebnis. TV-Geschichte schrieb die turbulente „Berliner Runde“ 2005, die von Vertretern von ZDF und ARD moderiert wurde. Kanzler Gerhard Schröder (SPD) wollte seine Niederlage nicht zugeben.
Bei der Sitzverteilung werden nur Parteien berücksichtigt, die mindestens fünf Prozent der gültigen Zweitstimmen erreicht haben - es sei denn, sie erobern drei oder mehr Direktmandate (Grundmandate). Die Stimmen für die an der Hürde gescheiterten Parteien gehen verloren. So 2013 die der FDP, die mit 4,8 Prozent erstmals nicht in den Bundestag einzog.
Niemand soll erkennen oder kontrollieren, wie jemand wählt. Dazu dienen etwa die Wahlkabine. Dort ist das Fotografieren und Filmen ausdrücklich verboten.
Im Verlauf des Wahlabends liefern amtliche Teilergebnisse Hinweise auf den Ausgang. Im Unterschied zu Hochrechnungen beruhen die zuvor um Punkt 18 Uhr verbreiteten Prognosen auf der Befragung von Wählern.
Rund drei Millionen junge Leute dürfen erstmals den Bundestag wählen. Beim letzten Mal machten sich nur etwa 60 Prozent die Mühe. Den größten Rückhalt bei den Jungwählern fand die Union, gefolgt von der SPD. Auch die Grünen wurden zweistellig.
Der Bund erstattet den Ländern für deren Gemeinden Kosten etwa für Porto und „Erfrischungsgeld“ für Hunderttausende Wahlhelfer. In diesem Jahr werden schätzungsweise 92 Millionen Euro fällig.
Die sogenannten Social Bots können in den sozialen Netzwerken menschliche Nutzer simulieren, etwa zur politischen Stimmungsmache. Bei den vergangenen Präsidentenwahlen in den USA sorgten die Meinungsroboter für Irritationen.
Bei der Wahl 2013 blieben 17,6 Millionen Wahlberechtigte zu Hause, zuvor waren es mehr als 18 Millionen.
Über eigene Webseiten und Angebote in sozialen Medien verbreiten die Parteien ihre Botschaften. Wie herkömmlich auf Plakaten und Veranstaltungen setzen sie auch hier auf ihr Spitzenpersonal.
Die Parteien bestimmen selbst, wer auf ihren Listen kandidiert. Die für vier Jahre gewählten Abgeordneten entscheiden dann stellvertretend für die Bürger über wichtige Angelegenheiten.
Wer nur in einigen Dingen einen Betreuer braucht, darf wählen. Wer aber „in allen Angelegenheiten“ betreut werden muss, darf das nicht. Das gilt auch für psychisch kranke Straftäter.
Mit ihnen ziehen die meisten Parteien in den Wahlkampf, um ein persönliches Gesicht zu präsentierten. Beide Unionsparteien treten mit Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) als Kanzlerkandidatin an, bei der SPD ist Parteichef Martin Schulz der Frontmann. Linke und Grüne haben jeweils eine Doppelspitze.
Hier erleben die Zuschauer der vier großen Fernsehsender ARD, ZDF, RTL und Sat.1 die Kanzlerin und ihren Herausforderer live im direkten Vergleich. Trotz schwacher Umfragen hofft SPD-Kandidat Schulz auf eine Wende. Seit 2002 zählen die Fernsehduelle zu den Höhepunkten des Wahlkampfs.
Sie entstehen, wenn eine Partei in einem Bundesland mehr Erststimmenmandate gewinnt, als ihr nach Zweitstimmen zustehen. Seit 2013 werden für Überhangmandate sogenannte Ausgleichsmandate vergeben. So entspricht die Zahl aller Sitze im Bundestag wieder dem Anteil der Zweitstimmen.
Wer etwa mehrere Parteien ankreuzt oder Bemerkungen auf dem Stimmzettel macht, wählt ungültig. Das gilt auch für Menschen, die gar nichts ankreuzen. Einfluss auf das Wahlergebnis hat das alles keinen. Allerdings werden ungültige Stimmen bei der Wahlbeteiligung mitgezählt.
Sie zeigt, wie viele an die Urnen gegangen sind oder per Brief abgestimmt haben. Zuletzt waren es nur gut 71 Prozent. Weil keine Mindestzahl vorgeschrieben ist, wäre eine Wahl auch gültig, wenn 99 Prozent der Wahlberechtigten zu Hause blieben.
Sie wird auf der rechten Hälfte des Stimmzettels für die sogenannte Landesliste einer Partei angekreuzt. Nur die Zahl dieser Stimmen ist für die Sitzverteilung im Bundestag ausschlaggebend. Die Erststimme entscheidet über die Direktkandidaten in den 299 Wahlkreisen.
Womit wir bei den Linken und bei der AfD wären. Beide Parteien werden bis weit in bürgerliche Milieus hinein auf je ihre Weise als eine Opposition wahrgenommen, die diesen Namen auch verdient. Beide Parteien sind Gegenentwürfe gegen die kränkelnden Liberalismen der westlichen Welt: gegen den Wirtschaftsliberalismus der Weltkonzerne, die am Abbau der Sozialen Marktwirtschaft arbeiten - und gegen den Kulturliberalismus der Pluralisten und Permissiven, die am Abbau des Nationalen, der Identität, der Heimat und altfamiliären Ordnung arbeiten. Und schließlich geben beide Parteien den Gekränkten und Abgehängten eine Stimme, den Zeitarbeitern, Niedriglöhnern und Hartz-IV-Anhängern, für die Merkels Selbstzufriedenheit eine Provokation ist und Schulz’ angestrebtes Sozialreförmchen ein Witz.
In weiten Teilen Ostdeutschlands werden sich daher nicht Merkel-CDU und Schulz-SPD, sondern die Linke und die AfD das eigentliche Duell liefern. Für Westdeutschland gilt: Der Zuspruch für beide Parteien wird wachsen - weil es nach vier Jahren der Großen Koalition, nach Bankenrettung und Abgasskandal, infolge der Flüchtlingskrise und explodierender Mietpreise, noch nie so gute Gründe gab, mit „dem Geld“ und „den Mächtigen“ unzufrieden zu sein. Prognose: jeweils 12 Prozent.
Die FDP ist die heimliche Oppositionspartei der CDU - und als eine Art freie Radikale den Linken und der AfD durchaus verwandt: Während die Union rein gar nichts ändern will, will die FDP im Namen eines Neuanfangs alles zurück auf Null drehen. Dabei überdreht sie mal wieder gewaltig. Versucht mal, der AfD ein wenig Wasser abzugraben (Lindner gibt die Krim verloren) - und gibt sich ansonsten, in Abgrenzung zur Großen Koalition, demonstrativ zukunftsselig, optimistisch, unbesorgt: „Digital first - Bedenken second“.
Die FDP fischt mit ihrer Kampagne sehr zielgenau
Die emphatische Bejahung des Entfesselten, Künftigen und Möglichen ist nicht nur theoretisch niederschmetternd, weil gelingender Fortschritt in demokratischen Gesellschaften immer aus dem In- und Gegeneinander von neuen technischen Möglichkeiten und ihrer kulturellen Befragung resultiert. Sondern auch politisch frustrierend: als sei die Bedenkenlosigkeit der FDP (Selbstverpflichtungen der Wirtschaft, Deregulierung des Bankensektors, Wahrung des Bankgeheimnisses) stets Garant und nie Hemmschuh des Fortschritts gewesen.
Gleichwohl: Die FDP fischt mit ihrer Kampagne sehr zielgenau. Bei Menschen, die in der Union eine zweite SPD erblicken. Bei Gründern und Hipstern in den Städten. Und bei den Erstwählern der Facebook-Generation. Prognose: elf Prozent.
Schließlich die Grünen. Für sie müsste eigentlich alles perfekt laufen. Spektakuläre Wetterphänomene, Fipronil-Skandal und Diesel-Desaster - das Nachrichten-Drehbuch der vergangenen Wochen meint es wahrlich gut mit einer Partei, die sich dem Kampf gegen den Klimawandel, die Massentierhaltung und Autogesellschaft auf die Fahnen geschrieben hat.
Trotzdem tun sich die Grünen schwer - weil ihnen der irrationale Überschuss fehlt, der sie immer ausgezeichnet hat. Weil ihnen einer wie Jürgen Trittin fehlt, der auch mal zynisch und böse sein konnte, eine wie Claudia Roth, die auch mal nervte mit ihrem beseelten Engagement. Stattdessen sind die Grünen, neben der Union, die zweite Partei der Mitte: nie war der „Marsch durch die Institutionen“ so endgültig besiegelt wie in diesem Jahr.
Das Kuriose daran: Was die Winfried-Kretschmann-Grünen bei den Jungen und Linken verlieren, gewinnen sie auf Kosten der Union hinzu - unter Wählern, die sich der Mitte verpflichtet fühlen, die sich dabei aber wenigstens ein klein wenig in eine Richtung bewegen wollen, von der sie annehmen, es sei die richtige. Katrin Göring-Eckardt und Cem Özdemir stehen Angela Merkel unter allen Spitzenkandidaten besonders nahe - und punkten gegenüber ihr auf der Zielgeraden mit dem kleinen moralischen Surplus, das sie auszeichnet: mit der Kraft der Guten, die die Welt ein klein wenig besser einrichten wollen als sie ist - wie schön. Prognose: zehn Prozent.
So. Und jetzt sind Sie dran, liebe Leser. Ran an die Fernseher am Sonntag. Und ran an die Urnen in drei Wochen. Auch wenn meine prognostiziertes Ergebnis ganz sicher eintreffen wird.