Tauchsieder

Schafft die Wahlumfragen ab!

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Es geht um den wettbewerbsverzerrenden Sog, den Meinungsumfragen erzeugen

Damit keine Missverständnisse aufkommen: Es geht hier nicht um Merkel oder Schulz. Sondern um den wettbewerbsverzerrenden Sog, den Medienstimmungen und Meinungsumfragen, die sich permanent ineinander spiegeln, in den letzten sechs Wochen vor der Wahl erzeugen. Norbert Röttgen, nur zum Beispiel, einer der klügsten Köpfe in der deutschen Politik, ist vor fünf Jahren als Spitzenkandidat der CDU in NRW in einen solchen Umfrage-Stimmungs-Sog geraten - und hat sich bis heute nicht davon erholt.

Es wäre für die politische Kultur in diesem Land viel gewonnen, wenn man sich darauf einigen könnte: Sechs Wochen vor der Wahl sind Umfragen tabu. Wir leben in einer Schaufenster-, sprich: Fernsehdemokratie, und viele Wähler - nicht nur die beiläufig Interessierten - entscheiden sich in diesen Tagen während unzähliger Sendungen in ARD und ZDF für die eine oder andere Partei. Das aber sollten sie so „frei und unabhängig“ von taktischen Erwägungen tun können wie möglich. Nach Überzeugungen, nicht nach Siegchancen. Nach Argumenten, nicht nach Stimmungslagen.

Zumal es mit der „Neutralität“ und „Unabhängigkeit“ der Umfrageinstitute nicht weit her ist, im Gegenteil: Insbesondere Forsa und INSA verstehen ihre leicht nuancierten „Werte“ stets auch als Botschaften, als politisch ausbeutbare Zahlen. Als etwa INSA die Grünen vergangene Woche auf sechs Prozent fallen sah, versuchten konservative Medienaktivisten, die sich für keine Blödheit zu schade sind, die Aktie Özdemir gleich unter die Fünf-Prozent-Marke zu prügeln. 

Es ist daher sehr wahrscheinlich, dass die Demoskopen, wieder einmal, am 24. September die größte Niederlage einfahren - weil sie ihrer eigenen Erzählung von einem „müden Wahlkampf“ mit recht „stabilen Umfragewerten“ auf den Leim gehen. Die Wahrheit ist: Die Demoskopie ist erschreckend unempfindlich für alles Brodeln im Biedermeier - und für die Spannung(en) in diesem Wahlkampf. Die Union kann bei 40 oder 30 landen, die SPD bei 26 Prozent oder 18, die AfD bei sechs oder 13 - genauso wie Linke, Grüne, FDP.

Nach dem 24. September wird daher nicht nur über die prozyklischen Wirkungen von Umfragen zu reden sein (in Bezug auf Merkel und Schulz), sondern auch von der unbotmäßigen Bevorzugung der beiden so genannten Volksparteien. Anders als in den USA, Großbritannien oder in Frankreich wählen die Deutschen in einer Woche ein Parlament und keinen Regierungschef. 

Trotzdem gibt es derzeit viele lange Abende, die die Fernsehdeutschen mit Merkel und Schulz, mit Ministern und Parlamentariern der Union und der SPD verbringen können - und vergleichsweise wenige mit Vertretern der vier „kleineren Parteien“, mit Linken, Grünen, Liberalen und Rechten. Das ist nicht nur fragwürdig, weil die repräsentative Demokratie in Deutschland im besonderen Maße von der politischen Vernehmbarkeit mehrerer Parteien abhängt (in Koalition wie Opposition).

Sondern das ist auch komisch, weil es ausgerechnet im Falle des mediendemoskopisch prophezeiten Ergebnisses - die Union gewinnt - nicht auf die Kanzlerpartei, wohl aber auf alle anderen ankommt: Das Entscheidende ist nicht, ob Merkel regiert, sondern mit wem sie regiert. Ob Merkel in den nächsten vier Jahren eine leicht rote, leicht gelbe oder leicht grüne Politik macht.

Allein ihr selbst wird es, so viel steht immerhin fest, ziemlich egal sein.

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