Bei der Bundestagswahl an diesem Sonntag wählen die Deutschen 299 Direktkandidaten ins Parlament, sie stimmen für eine von 34 Parteien (oder auch nicht) und sie entscheiden darüber, welche der 4828 WahlbewerberInnen sich künftig Abgeordnete nennen dürfen. Eine überwältigende Mehrheit wird dabei für die Vertreter von sieben Parteien votieren, für CDU, CSU, SPD, Linke, Grüne, FDP oder AfD. So weit, so statistisch.
Doch worüber die Deutschen am Sonntag tatsächlich abstimmen - das hat in diesem Jahr weniger mit politischen Präferenzen und langfristigen Überzeugungen, mit Richtungsentscheidungen und Machtperspektiven, mit erwünschten Mehrheitsverhältnissen und erwartbaren Koalitionsspielchen zu tun.
Statt dessen werden wir Zeuge eines sozialpsychologischen Plebiszits: Die Deutschen fühlen sich selbst den Puls; sie stimmen, wenn einem die Vokabel dafür noch zur Verfügung stünde, über ihren „Nationalcharakter“ ab, über ihr Verhältnis zu Staat und Gesellschaft, zu Regierenden und Mitbürgern, kurz: darüber, ob sie Biedermeier oder Mob sein wollen - und darüber, ob es jenseits dieser binären Frontstellung noch einen dritten, einen dezidiert politischen Weg gibt.
Um es klipp und klar zu sagen: Wer AfD wählt, gibt dem Mob seine Stimme. Die Partei um Alexander Gauland ist nichts anderes als eine Bewegung zur Befeuerung, Steuerung und Ausbeutung von Wut, eine Art Zornbank, bei der Bürger Unmengen an Grimm und Verdruss, Gereiztheit, Tobsucht, Bosheit und Frustration deponieren - in der Erwartung, dass ihre gesammelten Entrüstungsreserven von der AfD erfolgreich bewirtschaftet und reich verzinst werden.
Dass die Sparbücher der AfD auffallend braun grundiert sind, ist nicht verwunderlich: Zur Mobilisierung von Gegnerschaft braucht es Identität - und die wird besonders schnell und erfolgreich durch Ab- und Ausgrenzung aggregiert. Das Nationale, Rassische, Kulturelle bietet sich da an, weil es eine sichtbare „Grenze“ markiert, die alles Andere und Fremde ausschließt. Kurzum: Es bedarf wirklich nicht vieler Worte, um die AfD als radikal destruktive Partei, als Dachorganisation der Verneinung von demokratischen Aushandlungsprozessen - als Bündnis zum Abbau von sozialem Kapital zu verstehen.
Die Gesichter der AfD
Geboren in Dresden, promovierte Chemikerin und Unternehmerin, Bundesvorsitzende der AfD. Mutter von vier Kindern, liiert mit dem AfD-Landeschef von Nordrhein-Westfalen, Marcus Pretzell: Das ist Frauke Petry. Sie gilt als pragmatisch und ehrgeizig. Auch wenn sie verbal gerne Gas gibt – inhaltlich steht Petry eher in der Mitte der Partei.
Björn Höcke (45) und Alexander Gauland (76) haben im November 2015 gemeinsam „Fünf Grundsätze für Deutschland“ veröffentlicht. Darin wettern sie gegen die „multikulturelle Gesellschaft“ und behaupten, „die politische Korrektheit liegt wie Mehltau auf unserem Land“.
Meuthen ist geboren in Essen, promovierter Volkswirt, seit 1996 Professor für Volkswirtschaftslehre an der Hochschule Kehl (Baden-Württemberg), Bundesvorsitzender der AfD, war Spitzenkandidat seiner Partei bei der Landtagswahl in Baden-Württemberg und ist seit Mai 2016 Landtagsabgeordneter; er ist verheiratet und hat fünf Kinder. Meuthen gehört zu den wenigen prominenten Vertretern des liberalen Flügels, die nach dem Abgang von Bernd Lucke in der AfD geblieben sind.
Sie ist geboren in Lübeck, Jurastudium in Heidelberg und Lausanne (Schweiz), Rechtsanwältin, stellvertretende Bundesvorsitzende und AfD-Landesvorsitzende in Berlin, seit 2014 im EU-Parlament, verheiratet. Gilt als ultrakonservativ.
Marcus Pretzell (43) ist geboren in Rinteln (Niedersachsen), Jurastudium in Heidelberg, Rechtsanwalt und Projektentwickler, seit 2014 Vorsitzender der AfD in Nordrhein-Westfalen, Vater von vier Kindern, seit 2016 verheiratet mit Frauke Petry. Der Europaabgeordnete hat die AfD als „Pegida-Partei“ bezeichnet. Parteifreunde rechnen ihn aber nicht zum rechtsnationalen Flügel.
Was viele Vertreter der anderen sechs Parteien allerdings bis heute nicht begreifen: Die Zorndeutschen sind zum Zwecke ihrer Re-Inklusion politisch unbedingt zu adressieren. Wenn Kanzleramtsminister Peter Altmaier (CDU), auf eine typisch „Bild“-blöde Frage hin, antwortet, Nichtwähler seien ihm lieber als AfD-Wähler, so ist das nicht nur spontanemotional verständlich, sondern vor allem entlarvend.
Denn die Wahlerfolge von Merkels Biedermeier-Union in den vergangenen Jahren verdanken sich zu einem nicht geringen Teil der systemischen Nicht-Wahl-Beteiligung von Menschen, die sich von der politischen Klasse nicht mehr angesprochen, sich längst abgehängt fühlen. Dass die AfD einigen von ihnen nun eine Stimme gibt, ist kein Betriebsunfall der Demokratie, sondern ein Zeichen ihrer Transparenz: Die AfD hilft Deutschland, sich mit sich selbst ein wenig besser bekannt zu machen – auch wenn das Gesamturteil dadurch ungünstiger ausfällt.
Kanzlerin Angela Merkel (CDU) muss sich den Vorwurf eines selbstzufriedenen, mit sich selbst restlos einverstandenen Wahlkampfes schon gefallen lassen: Die rosaroten Wohlfühlspots der Union sind eine einzige Provokation für alle less fortunate, an denen die „hart erarbeiteten“ Wohlstandszuwächse in diesem Land vorbeigehen.
Aus machttaktischen Gründen mag das in Ordnung gehen: Dass die Union keinen Sinn entwickelt für Sonderansprüche jenseits „der Mitte“ ist ihr Erfolgsrezept. Sie ist die Partei eines kleinstädtischen Biedermeier-Drittels in Deutschland, das nicht meckert, sondern anpackt, brav Steuern zahlt und dabei ordentlich bezahlt wird und das sich realpolitisch erhaben weiß über die normativen Mehransprüche der anderen – die Partei eines Drittels, das allein an der dynamischen Erhaltung des Status quo über alle tagespolitischen Fährnisse hinweg interessiert ist.
Die politische Demobilisierung stärkt die Ränder
Wahr ist aber auch: Die politische Demobilisierung im Namen „der Mitte“ stärkt die Ränder. Das mag der Union kurzfristig egal sein, weil es ihren Wahlerfolg in ökonomisch stabilen Zeiten sichert. Aber das wird nicht nur für sie, sondern auch für das ganze Land zum Problem, sobald sich die wirtschaftlichen Eckdaten verschlechtern.
Daher muss sich die Merkel-Union noch einen weiteren Vorwurf gefallen lassen: Anders als sie mit ihrer fortwährenden Denunziation der Linken suggeriert, fällt der Partei von Sahra Wagenknecht im demokratischen System der Bundesrepublik eine wichtige Rolle zu: Sie ist eben nicht das linke Pendant zur rechten AfD. Sondern sie macht uns darauf aufmerksam, dass es so etwas wie einen „guten Populismus“ gibt - eine Alternative zum „dreckigen Populismus“ der AfD.
Natürlich, man kann trefflich über den „Talkshow-Sozialismus“ der Linken lästern (SPD-Arbeitsministerin Andrea Nahles), kann ihren mangelnden Sinn fürs Unternehmerische und Selbstverantwortliche sowie die Unbezahlbarkeit ihrer Freibier-für-alle-Politik beklagen. Aber man kann der Linken keinesfalls ihre inklusive Grundabsicht absprechen - ihren Selbstanspruch, eine pluralistische, liberale Gesellschaft zu integrieren - und Wohlhabende im Sinne der Schwachen auf ein besser organisiertes Gemeinwohl zu verpflichten.
Gibt es einen dritten Weg zwischen Mob und Biedermeier? Kann man am Sonntag eine konstruktive Politik wählen, die sich realistischen Zielen und programmatischen Grundsätzen verpflichtet weiß? Es spricht einiges dafür, dass sich die hohe Zahl der Unentschlossenen genau diese Frage stellen (warum sonst sollten sie noch unentschlossen sein?) - und dass das die Union auf den letzten Metern noch ein paar Prozentpunkte kosten wird.
Das Paradoxe an der Situation auf ist, dass ausgerechnet die FDP davon wohl nicht am meisten profitieren wird, im Gegenteil: Die Liberalen dürfte nach ihrem auffälligen Ein-Personen-Wahlkampf im Wesentlichen ausmobilisiert sein. Auch hat sich Parteichef Christian Lindner zuletzt darauf verlegt, der AfD das Wasser abzugraben (mit Schröderscher Russland-Politik und angespitzter Flüchtlingsrhetorik).
Vor allem aber haben sich Mindestlohn und Bankenregulierung nicht als das Teufelszeug herausgestellt, für das die Liberalen es immer gehalten haben. Eher schon so manche Selbstverpflichtung der Wirtschaft oder die Selbstverbilligung Deutschlands durch die Einführung eines flächendeckenden Niedriglohnsektors. Allein wer sich vor einer Südeuropäisierung der Politik in Brüssel fürchtet, dürfte sein Kreuz entschlossen bei der FDP machen – oder doch entschlossen bei der Schäuble-CDU.
Mag also sein, dass die SPD von den Unentschlossenen noch einmal profitiert: Sie hat keinen Wahlkampf der Entrechteten und Ausgebeuteten geführt, das Land nicht schlecht geredet – und die vier vergangenen Jahre sozial- und innenpolitisch fast allein regiert. Die Zustimmung vieler Deutscher zur Großen Koalition verdankt sich nicht nur einem Grundvertrauen in die Regierungschefin, sondern auch ihrer nicht eingestandenen Liebe zur sozial-seriösen Mit-Regierungspartei SPD.
Oder sind es am Ende gar die Grünen, seit Monaten wie festgenagelt auf Platz sechs der Umfragen, die am Ende noch für eine kleine Überraschung sorgen? Ich persönlich würde fast darauf wetten. Denn machen wir uns nichts vor: Die Grünen sind die „besseren Schwarzen“: Sie wollen die Schöpfung bewahren, geben ihren Kindern Bio zu essen und preisen e-mobile Innovationen – kurz: sie sind im Merkel-Biedermeier das kleine visionäre Extra, in das sich auch ausgenüchterte CDU-Anhänger gern einkleiden, ganz nach dem Motto: Ein bisschen grün steht mir ganz gut, oder?