Wahlkampf Warum sich die Bürger immer wieder teure Geschenke andrehen lassen

Deutschland gilt als Steuerhölle. Mit den hohen Abgaben finanziert der Staat teure Wahlgeschenke an die Bürger – was die aber nur zu gerne vergessen. Wollen die Deutschen etwa betrogen werden?

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Wo der Staat sparen könnte
Platz 10: Computerspielesammlung Quelle: dpa
Platz 9: Kupferbergbau in Chile Quelle: dpa Picture-Alliance
Platz 8: Kostenlose Sprachkurse Quelle: dpa
Platz 7: Konfliktärmeres Fahrradfahren Quelle: dpa
Platz 6: Markenfleisch von Edeka Quelle: dpa
Platz 5: Grüne Moscheen in Marokko Quelle: dpa
Platz 4: Internationale Fernsehserien Quelle: dpa

Wie wäre das: Jeder deutsche Arbeiter, jeder Angestellte bekommt sein Bruttogehalt ausbezahlt, jeder muss aber anschließend mehrere Schecks ausstellen: einen an das Finanzamt, einen an die Rentenversicherung, einen an die Krankenkasse. Und, ach ja, bitte die Überweisung für die Arbeitslosen- und Pflegeversicherung nicht vergessen. Ein ordentlich verdienender, allein stehender Beschäftigter mit 6100 Euro Bruttogehalt wäre dann etwa ziemlich lange mit dem Scheckschreiben beschäftigt. Denn beinahe die Hälfte seines Lohns, genauer: 2800 Euro, müsste er Monat für Monat an die diversen staatlichen Kassen überweisen.

Wir spüren die Belastung gar nicht

Reiner Holznagel lächelt, die Scheckvorstellung ist für ihn eine Art Traum – weil aus Sicht des Steuerzahlerbund-Präsidenten so der ganz alltägliche Albtraum des deutschen Steuer- und Abgabenstaates sehr viel greifbarer würde.

„Das Problem ist doch: Wir leben in Deutschland in einer Nettogesellschaft“, sagt Holznagel. Jeder Beschäftigte schaue nur auf den Betrag, der vom Brutto am Ende übrig bleibe. „Durch diese verengte Sicht spüren die Bürger gar nicht, wie exorbitant ihre Belastung ist.“

Und deshalb haben Leute wie Holznagel, die entschieden Steuersenkungen fordern, einen schweren Stand gegenüber den vielen Politikern, die mit immer mehr Sozialleistungen um die Gunst der Bürger buhlen – und den anlaufenden Wahlkampf einmal mehr in einen Überbietungswettkampf um Wohltaten verwandeln dürften.

SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz fordert die freie Kitaversorgung für alle. CSU-Chef Horst Seehofer wünscht sich ein Baukindergeld von 12.000 Euro pro Zögling, die Familienministerin will ein Familiengeld von monatlich bis zu 300 Euro einführen, wenn die Eltern ihre Arbeitszeit reduzieren.

Und das Bundeswirtschaftsministerium legt gerade im Wahlkampfmodus hektisch einen Multimillionenplan zur Förderung der Innovationsfähigkeit von deutschen Mittelständlern auf. Als ob der Staat darin wirklich ein Experte sei.

Steuer-und-Abgabenlast-in-Deutschland

Solche Wahlgeschenke gibt es natürlich nicht umsonst, sie erfordern viele Schecks der Bürger. Laut OECD muss der allein stehende deutsche Durchschnittsbeschäftigte aktuell eine Steuer- und Abgabenlast von 49,4 Prozent seines Einkommens stemmen – das ist in Europa Spitze, nur die Belgier werden noch stärker geschröpft. Ein Großteil der Bundesbürger darf die Früchte seiner Arbeit also nur zur Hälfte genießen, die andere Hälfte wird sofort kassiert und sozialisiert.

Wo bleibt der Aufschrei?

Inzwischen zahlt jeder elfte Beschäftigte den Spitzensteuersatz von 42 Prozent (plus Solidaritätszuschlag), hat das Institut der deutschen Wirtschaft errechnet. Allein an Steuern haben Bund, Länder und Gemeinden im vorigen Jahr 700 Milliarden Euro eingenommen, Rekord.

Warum ertönt der Schrei nach Steuersenkungen dann nicht viel lauter? Wie kann Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) ernsthaft und ungestraft über Steuersenkungen von 15 Milliarden Euro schwadronieren, gerade einmal zwei Prozent des jährlichen Steueraufkommens – nicht einmal genug, um den „Mittelstandsbauch“ abzuspecken, jenen Effekt des starken Steuertarifanstiegs bei Einkommen zwischen 8653 und 15.670 Euro jährlich. Dafür wäre ein doppelt so hoher Betrag nötig.

Will der Bürger etwa betrogen werden? Die Antwort lautet: teilweise schon.

Aus diesen Gründen bekommt nicht jeder Arbeitslose auch Geld

Das sagt zumindest Karl-Rudolf Korte, Politikprofessor an der Universität Duisburg-Essen. Korte ist ein drahtiger Herr, der in fernsehtauglichen Sätzen formuliert, Vermessung des Wählerwillens ist sein tägliches Geschäft. „Steuersenkungen sind politisch kein Siegerthema“, sagt Korte. „Soziale Wohltaten dagegen sehr.“

Statt Steuersenkungen mehr soziale Gerechtigkeit

Zwar will jeder Deutsche im Kleinen Steuern sparen, ob nun bei der Putzfrau oder mit Steuersparmodellen. Doch eine allgemeine Senkung der Steuerlast würden die Bürger eher als unkonkrete Maßnahme wahrnehmen, sagt Korte – im Gegensatz etwa zu höheren Renten, mehr Elterngeld oder besseren Kitas als fassbare Aufwertung des eigenen Lebens.

Deshalb verhielt sich Martin Schulz durchaus politökonomisch, als der frisch gekürte SPD-Kanzlerkandidat statt Steuersenkungen unverzüglich „mehr soziale Gerechtigkeit“ einforderte.

Die Union empörte sich. Aber mit welcher Berechtigung eigentlich? Schließlich hat sie in den vergangenen dreieinhalb Jahren eine soziale Wohltat nach der anderen mit beschlossen – von der vorzeitigen Rente mit 63 Jahren über die Reform der betrieblichen Altersversorgung bis zur Ost-West-Rentenangleichung plus den von der CSU verlangten Ausbau der Mütterrente. Alles Milliardenausgaben mit einem klaren Ziel: Angela Merkels CDU beim Thema Soziapolitik, einem Kernanliegen der Sozialdemokraten, für die nächste Wahl unangreifbar zu machen.

Hier schmeißt der Staat das Geld zum Fenster raus
Das Schwarzbuch 2017/18, herausgegeben vom Bund der Steuerzahler Deutschland. Quelle: dpa
Münchner Maximilianeum Quelle: dpa
Schutzwürdige Bäume in Hameln Quelle: dpa
Wohncontainer für Flüchtlinge Quelle: dpa
Bundestag Quelle: dpa
Frankfurt am Main Quelle: dpa
Ehrenbürg-Gymnasium in Forchheim Quelle: dpa

Dieser wohl einmalige Dauerwahlkampf über eine ganze Legislaturperiode hinterlässt tiefe finanzielle Spuren in Deutschland. Allein die Rentengeschenke kosten die Steuer- und Beitragszahler bis 2030 wohl weit mehr als 250 Milliarden Euro. Dafür hätte man allen Bundesbürgern ein Jahr lang komplett die Lohnsteuer oder die Mehrwertsteuer erlassen können.

Theoretisch.

Praktisch findet sich in der Bilanz der großen Koalition so gut wie keine Steuerentlastung – abgesehen von minimalinvasiven Einzelmaßnahmen wie der Anhebung der Grundfreibeträge bei der Einkommensteuer. Die kam aber auch nicht ganz freiwillig zustande, sondern durch Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts.

Zahlen und Schweigen

Erreicht die steuerliche Belastung mal wieder Rekordwerte, bricht sich kurz Empörung Bahn. Aber eben nur kurz. Schon bald darauf spricht kaum noch jemand über Steuern und Abgaben. Die Masse der Bürger zahlt und schweigt. Und die Politiker? Sie schweigen auch lieber. So dürfte es wieder sein, wenn die offiziellen Steuerschätzer am 11. Mai ihre nächste Prognose bekannt geben und wie in den vergangenen sieben Jahren steigende Steuereinnahmen verkünden dürften.

Dieses Schweigekartell kann vielleicht niemand so gut erklären wie ein distinguierter österreichischer Herr mit grauen Haaren. Ernst Fehr, 60, ist einer der renommiertesten Ökonomen der Welt, er gilt als Anwärter auf einen Nobelpreis. Sein Spezialgebiet an der Uni Zürich ist die Verhaltensforschung, und der Steuerzahler an sich ist für ihn ein besonders faszinierendes Studienobjekt.

„Es gibt Millionen von Steuerzahlern, aber sie sind leider eine sehr schlecht organisierte Lobby“, sagt Fehr. Der Grund: Meist ließen sich die Bürger vom Gefühl leiten. Und das lässt sich manipulieren, etwa durch Versprechen an klar umrissene Wählergruppen. Wähler wiederum würden meist den Umkehrschluss nicht bedenken: Zeigten sich Politiker nämlich gegenüber jeder Klientel freigiebig, müssten am Ende doch alle die hohe Rechnung begleichen.

Die Schuldenbremse allein genügt nicht

Weil die Wähler offenbar nicht die Zusammenhänge erkennen (wollen), wird sich die CDU im Wahlkampf etwa keineswegs für die sündhaft teure Pflegereform entschuldigen, die Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe auf den Weg gebracht hat. Zusätzlich zu den 2,3 Millionen Hilfebedürftigen, die bisher Geld für die Pflege bekommen und künftig durchweg mehr Leistungen erhalten, soll dadurch eine halbe Million Menschen ebenfalls Unterstützung bekommen. Es sind Demenzkranke, die körperlich einigermaßen fit sind, aber nicht mehr selbstständig ihren Alltag bewältigen können.

Gewiss ein wichtiges Anliegen, aber eben auch ein sehr teures, fünf Milliarden Euro pro Jahr. Dass dies auch staatliche Kosten sind – welcher Bürger registriert das schon? Offenbar liegt der damit verbundene Beitragsanstieg in der Pflegeversicherung von 2,05 auf 2,55 Prozent (für Kinderlose 2,8 Prozent) des Einkommens in dieser Legislaturperiode unterhalb der persönlichen Empörungsschwelle. CDU-Sozialpolitiker Karl-Josef Laumann kalkuliert daher auch kühl mit potenziellem Ertrag an der Urne: „Ich denke, die Menschen wissen, dass die CDU die Garantin für diese Verbesserungen ist, und werden dies auch bei der Bundestagswahl berücksichtigen.“

Einen Politiker wie Carsten Linnemann treibt so eine Rechnung zur Weißglut. Der gelernte Volkswirt ist Vorsitzender der CDU/CSU-Mittelstandsvereinigung – und hat, obwohl erst 39, jede Illusion über seine Kollegen verloren. „Schon Franz Josef Strauß hat gesagt: Eher legt sich ein Hund einen Wurstvorrat an, als dass ein Politiker spart“, sagt Linnemann. „Wir müssen also den Ausgabenhunger begrenzen.“

Wo Deutschland Steuergelder verschleudert
Umsatzsteuerbetrug bei EU-Neuwagen Quelle: dpa
Mehrwertsteuer-Chaos bei Auftragsforschung Quelle: dpa
Marine vergibt Aufträge gerne mal direkt Quelle: dpa
Abbuchungswirrwarr bei Sozialbeiträgen Quelle: dpa
Fehlende Kontrolle bei Bundes-Beteiligungen Quelle: dpa
Hardware, die keiner braucht Quelle: dpa
Kein Mallorca-Service der Krankenkassen mehr Quelle: dpa

Aber wie? In der Europäischen Union existieren die Maastrichter Kriterien, die mehr schlecht als recht funktionieren. Immerhin hält Deutschland seit einigen Jahren das Ziel ein, das jährliche Staatshaushaltsdefizit unter drei Prozent zu halten. Doch die Schuldenbremse allein genügt nicht. Nötig wäre eine zusätzliche Bremse, die die Steuer- und Abgabenquote auf ein bestimmtes Niveau beschränkt.

Selbst überzeugte Verfechter eines schlanken Staates wie Linnemann schrecken davor zurück – zu eng würde ihr politischer Spielraum. Der Unionspolitiker schielt eher auf die Arbeitslosenversicherung mit ihrer prall gefüllten Kasse. Zum Jahreswechsel betrugen deren Reserven elf Milliarden Euro. 2017 dürften weitere fünf Milliarden hinzukommen.

Niedrigere Beiträge: bislang Fehlanzeige. Stattdessen denkt SPD-Kanzlerkandidat Schulz an ein Arbeitslosengeld Q, das Erwerbslose zu einer Weiterqualifizierung ermuntern soll und natürlich entsprechende Kosten verursachen würde.

Risiken und Nebenwirkungen

Inakzeptabel für Linnemann. Er fordert, der Beitragssatz müsse automatisch sinken, sobald das Reservepolster bei der Bundesagentur für Arbeit (BA) ein bestimmtes Maß erreiche. Aktuell sieht der CDU-Politiker „genügend Luft, um den Arbeitslosenbeitrag zum 1.1.2018 von 3,0 auf 2,7 Prozent zu senken“. Damit würden die Schecks der Bürger etwas kleiner werden. Dass es übrigens zu einem richtigen steuerlichen Transparenzmodell in Deutschland jemals kommen wird, glaubt selbst Steuerzahlerbund-Präsident Holznagel nicht. Und doch gestattet er sich, ein wenig zu träumen – etwa davon, dass deutsche Geschäfte Netto- und Bruttopreise ausweisen müssten, wie dies in manchen anderen Staaten der Fall ist.

Dann würden die Bundesbürger vielleicht erkennen, wie sie der Staat zweimal zur Kasse bittet. Der Metallbeschäftigte, dem von seinem 6100-Euro-Monatsgehalt bereits 2800 Euro (einschließend Arbeitgeberbeiträge) einbehalten wurden, sähe dann, dass er als Verbraucher weitere 1660 Euro an Mehrwertsteuer, EEG-Umlage oder Kfz-Steuer abführen muss, rechnet Volker Stern vom Bund der Steuerzahler vor.

Denkbar wäre, so Holznagel, auch eine neue Rubrik auf jedem Lohnzettel – in der die fälligen Abgaben dick und breit abgedruckt würden, ähnlich angsteinflößend wie die Schockbilder auf den Zigarettenschachteln.

Es wäre eine Belehrung über die Risiken und Nebenwirkungen der Steuer- und Abgabenrepublik Deutschland.

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