Ohne Facebook und Twitter geht es in diesem Wahlkampf nicht. Kaum eine TV-Sendung in der nicht jemand ein paar Tweets vorliest, um die „Stimmung im Netz“ wiederzugeben. Was früher die Straßenumfrage war, ist heute der Twitterkommentar. Die Kurznachrichten sind dabei zumindest origineller, auch weil man aus einem großen Fundus auswählen kann. Mehr als 1,2 Millionen Tweets zur Bundestagswahl hat die WirtschaftsWoche mit Hilfe unseres Analyse-Tools So-wählt-das-Netz in den zwei Monaten vor der Wahl erfasst und durch eine Sprachanalyse-Software ausgewertet.
Doch welchen Einfluss haben Twitter & Co. letztlich für die Wahlentscheidung? Verschiedene Wissenschaftler untersuchen die Nutzung von Social Media durch die Parteien, beispielsweise Christian Nuernbergk von der Ludwig-Maximilians-Universität München. Ergebnisse dazu wird es allerdings erst einige Zeit nach der Wahl geben. Ein Effekt auf Wahlergebnisse wird dabei allerdings kaum zu messen sein, auch eine Vorhersage des Wahlausgangs hält Nuernbergk für schwierig. „In Kombination mit Suchanfragen und Youtube-Abrufen ist das schon eher möglich“. Auch die WirtschaftsWoche-Wahlsager haben versucht, durch die Kombination verschiedener Methoden genauere Prognosen zu geben.
Trotzdem lässt sich schon jetzt einiges über die Bedeutung von Social Media im Wahlkampf sagen. Ein Versuch in fünf Thesen:
1. Twitter wird überschätzt
Schon nach dem TV-Duell hatte ein Blogbeitrag von Ole Reissmann eine Debatte um die Bedeutung von Twitter ausgelöst. Der Spiegel-Online-Journalist hatte darin von einer Twitter-Blase gesprochen, da es zwar 173 000 Tweets gab aber keine verlässlichen Angaben über die Zahl der Nutzer in Deutschland. Reissmann überschlug grob, dass letztlich nur 0,01 Prozent der Wahlberechtigten über das TV-Duell getwittert hätten. Torsten Müller, Mitgründer des Twitter-Analysedienstes Tame.it bezifferte die Zahl der TV-Duell-Twitterer dann mit 36.000. Das wären dann 0,058 Prozent der Wahlberechtigten.
Diese Rechnung lässt allerdings einen wichtigen Faktor aus, nämlich alle passiven Leser. Deren Zahl ist noch weit größer, als die schreibenden Nutzer. Laut ARD/ZDF-Onlinestudie sind immerhin sieben Prozent aller deutschen Internetnutzer gelegentlich auf Twitter, bei den unter 19-jährigen sogar 22 Prozent.
Und auch die von Reissmann kritisierten „Retweet-Kartelle, Fav-Zirkel und Follower-Supernodes“ würde ich nicht unbedingt negativ sehen, denn Journalisten, Blogger und andere Multiplikatoren sorgen letztlich dafür, dass sich Themen von Twitter über andere Kanäle verbreiten.
Trotzdem wird Twitter tendenziell überschätzt, nämlich im Vergleich mit Facebook. Denn während sich vor allem die mediale Berichterstattung und die Einbindung von Nutzer-Feedback auf Twitter fokussiert, ist die Verbreitung und Nutzung von Facebook viel höher. Zwar weißt die ARD/ZDF-Onlinestudie das Netzwerk nicht separat aus, doch von den 46 Prozent, die gelegentlich in „privaten Netzwerke“ aktiv sind, dürfte sich der Großteil bei Facebook tummeln. Von den unter 19-jährigen sind es gar 87 Prozent – also fast achtmal so viele wie bei Twitter.
2. Facebook wird unterschätzt
Nach kürzlich veröffentlichten Zahlen sind 25 Millionen aller Deutschen mindestens einmal im Monat auf Facebook, das entspricht fast der Hälfte aller Internetnutzer. 19 Millionen Menschen sollen das Netzwerk sogar täglich nutzen. Doch während diverse Tools wie das Twitterbarometer versuchen, die politische Stimmung dort zu analysieren, gibt es ähnliches für Facebook kaum. Die Betrachtung des Wahlkampfs auf Facebook erschöpft sich meist in der Gegenüberstellung der Fanzahlen.
Auch die sind teils überraschend, so liegt die Alternative für Deutschland (AfD) mit 74 000 Fans inzwischen deutlich vor der SPD mit 59 000, obwohl die Sozialdemokraten seit Wochen fleißig Werbeanzeigen bei Facebook schaltet.
Die WirtschaftsWoche hat jedoch versucht, beide Plattformen auszuwerten, doch auch in unserer Analyse dominiert Twitter. Den 1,2 Millionen ausgewerteten Tweets stehen „nur“ 335 000 Facebook-Kommentare gegenüber.
Ein wesentlicher Grund liegt darin, dass Twitter-Postings zum Großteil öffentlich sind – im Gegensatz zu Facebook. „Da der überwiegende Teil aller Facebook-Einträge als private Statusmeldungen oder Kommentare gepostet wird, ist der öffentliche Teil deutlich kleiner und findet sich primär auf öffentlichen Facebook-Seiten wie den Seiten der Parteien und Kandidaten“, erklärt Datenanalyst Holger Rath von Attensity.
Zudem kommen technische Einschränkungen hinzu. So lassen sich die Facebook-Einträge schlechter durchsuchen, als Twitter. Eine thematische Zuordnung über Hashtags wie #tvduell oder #btw13 für Bundestagswahl 2013m, die bei Twitter üblich ist, hat Facebook erst kürzlich eingeführt und wird daher noch wenig genutzt.
Dieser Schritt oder auch die neue Suchfunktion zeigt jedoch, dass Facebook auf eine Änderung hinarbeitet. Es könnte also durchaus sein, dass bei künftigen Wahlen auch die Kommunikation auf Facebook viel stärker analysiert wird. Einen Vorgeschmack dafür bildete eine Studie dazu, wie rechts die AfD-Anhänger sind. Auch ein Tumblr-Blog widmete sich den Äußerungen von AfD-Anhängern in sozialen Netzwerken.
3. Neuere Plattformen funktionieren nur in Kombination
Die Tumblr-Blogs waren in Sachen Social-Media die eigentliche Innovation dieses Wahlkampfs. Dort wurden vor allem ironisch verfremdete Bilder als Wahlkampfkommentare abgebildet, am bekanntesten sind dabei zwei Blogs zu Peer Steinbrücks Stinkefinger-Foto. Einer größeren Öffentlichkeit wurde so aufgezeigt, warum Tumblr Yahoo fast eine Milliarde Dollar wert war.
Bis auf eine Motivsammlung der Piratenpartei gelang allerdings kaum einem offiziellen Parteien-Tumblr eine größere Verbreitung. Stattdessen hatten private Blogs wie dieser zur Merkel-Raute Erfolg. Verbreitung erlangten sie jedoch vor allem über andere Kanäle. „Die meisten Besucher kamen via Facebook, deutlich weniger über Reddit, Twitter und klassische Nachrichten-Websites“, sagt der Grafikdesigner Peter Schildwächter, der den Tumblr zur Merkelraute gemacht hat.
Das gilt auch für andere Kanäle. So nutzte die SPD beispielsweise die Musikplattform Soundcloud, um Wahlkampfreden zu veröffentlichen. Die kommen allerdings selten auf mehr als ein Dutzend Abrufe, Ausnahme bildet ein Telefonat von Steinbrück mit Pro7-Moderator Klaas-Heufer Umlauf, das sich immerhin 13 000 Personen auf Soundcloud anhörten. Sicher auch durch die Verbreitung von Twitter, allein ein Tweet des SPD-Kanzlerkandidaten wurde hundertfach weiterverbreitet und favorisiert.
Das Netzwerk Pinterest spielte dagegen keine Rolle – im Gegensatz zu den USA, wo sich Michelle Obama und die Gattin von Herausforderer Mitt Romney mit Kochrezepten um weibliche Wähler gebuhlt haben.
4. Die ganz großen und die ganz kleinen Parteien dominieren
Auch in den sozialen Netzwerken wurde vor allem über die Volksparteien gesprochen. Es gab nach der Auswertung der WirtschaftsWoche in den zwei Monaten vor der Wahl mehr als 390 000 Tweets und Facebook-Kommentare über die Union und fast 280 000 über die SPD.
Dann folgt jedoch schon die Piratenpartei mit 185 000, die Alternative für Deutschland liegt mit 141 000 knapp hinter der FDP (146 000). Könnte die besondere Stärke der AfD auf Facebook besser erfasst werden, würden die Eurogegner wahrscheinlich vor den Liberalen liegen.
Die Dominanz der Piraten im Netz ist bekannt, weniger zu erwarten war die Stärke der AfD. Das zeigt, dass es sich bei weitem nicht nur um eine Partei frustrierter alter Männer handelt, erklärt sich aber auch dadurch, dass die Partei wie alle Neulinge oder unter „Sonstige“ laufende Unter-Fünf-Prozent-Parteien in den klassischen Medien weniger Beachtung findet. Soziale Netzwerke bieten da eine willkommene Alternative, auch die NPD hat mit 44 000 Facebook-Fans fast doppelt so viele wie die FDP.
Überraschend ist es allerdings, wie sehr die kleineren, etablierten Parteien gegenüber diesen Neulingen und den Volksparteien zurückliegen. Denn lange waren die Grünen aber auch die FDP Vorreiter bei der Nutzung von Twitter & Co., die sich zudem auch stärker mit netzpolitischen Themen befassen.
Doch der Vorsprung ist aufgebraucht, die etablierte Politprominenz wie Peter Altmaier oder Sigmar Gabriel hat Twitterpioniere wie Volker Beck (Grüne) bei den Followerzahlen inzwischen überholt. Auch daran zeigt sich, wie der Dienst im Mainstream angekommen ist.
5. Trends werden verstärkt und verzerrt
Geht man über die quantitative Betrachtung hinaus, zeigen sich die eigentlichen Besonderheiten. Mit Hilfe der Sprachanalyse-Software von Attensity haben wir ausgewertet, wie im Netz über die Kandidaten und Parteien gesprochen wurde. Die höchste Negativquote verzeichneten dabei AfD und Grüne mit je 8,7 Prozent kritischen Kommentaren (Ein Großteil der Kommentare wurde neutral gewertet, da keine eindeutige Zuordnung möglich war). Die zum Ende des Wahlkampfs zunehmende Skepsis gegenüber den Steuerplänen der Grünen, aber auch die Kritik am Umgang mit der Pädophilie-Affäre oder Aufregerthemen wie der Veggie-Day spiegeln sich auch bei Twitter deutlich wieder.
Die Piraten hatten mit 5,2 Prozent den geringsten Wert an Negativkommentaren und waren auch die einzige Partei, bei der die positiven Beiträge mit 6,8 Prozent überwogen. Auf einen hohen Wert positiver Kommentare kommt auch die Linke (6,2 Prozent), den geringsten verzeichnet die FDP mit nur 3,4 Prozent.
Im Zustimmungswert, bei dem negative und positive Kommentare kombiniert werden, lagen die Piraten so auch meist deutlich vorn. Die Partei konnte also ihre Streitereien und Shitstorms im Wahlkampf erfolgreich abschalten. Andererseits spiegelt sich diese positive Performance in den sozialen Netzwerken in keiner Weise in den Umfragen und der öffentlichen Wahrnehmung wieder.
Das spricht dafür, dass der Wahlkampf bei Twitter & Co. derzeit nur einen begrenzten Einfluss auf die Wahlentscheidung hat. Die sozialen Netzwerke dürften vor allem bei der Mobilisierung der eigenen Anhänger helfen.
Steinbrück konnte erst nach dem TV-Duell den negativen Trend etwas drehen. Während die SPD in den Meinungsumfragen leicht zulegte, gab es im Netz eine regelrechte Aufholjagd.
Anfangs hatte er deutlich hinter Merkel gelegen, zum Ende hin dominierte Steinbrück dagegen deutlich. Hier zeigt sich wie stark Twitter als Echokammer wirkt, die bestehende Trends noch verstärkt und dadurch aber auch verzerrt.