Bundeskanzlerin Angela Merkel unterstreicht im Vorwort das strategische Ziel der Bundesregierung, Krisen und Konflikten vorzubeugen. "Sicherheitspolitik muss vorausschauend und nachhaltig sein. Gleichzeitig müssen wir in der Lage sein, schnell auf gewaltsame Konflikte zu reagieren, zu helfen und zu einer raschen Konfliktbeilegung beizutragen." Dafür sei es unerlässlich, dass die zivilen und militärischen Instrumente zusammenwirkten, schreibt die Kanzlerin. Die Bundeswehr ist hier als Instrument des vernetzten Ansatzes unverzichtbar. Das hat sie bereits 2009 beim NATO-Gipfel in Kehl festgestellt.
Im Duktus vergangener Jahrzehnte erfolgt auch die bündnispolitische Ausrichtung: Deutschlands Sicherheit ist untrennbar mit der seiner Verbündeten in Nato und EU verbunden. "Unsere Sicherheit beruht auf einer starken und entschlossenen Nordatlantischen Allianz sowie einer geeinten und belastbaren Europäischen Union", so die Bundeskanzlerin in ihrem Vorwort. In NATO und EU werden substantielle Beiträge zur Stärkung der Allianzen erbracht.
Daneben werden die Vereinten Nationen (VN) und die OSZE als wichtige Akteure benannt. Deutschland werde weiterhin dazu beitragen, die VN in ihren Missionen zivil, polizeilich und militärisch zu unterstützen. Daneben setzt sich Deutschland für eine enge Zusammenarbeit im OSZE-Raum ein. Welche Nachhaltigkeit haben diese Aussagen von einem Land, das konsequent seine Zusagen an NATO und VN und damit verbundene Zahlungsverpflichtungen nicht einhält? Man wird sich auf ein „weiter so“ einstellen können.
Zur Person
Oberst a.D. Diplom-Kaufmann Ralph Thiele ist Vorsitzender der Politisch-Militärischen Gesellschaft e.V. und CEO von StratByrd Consulting. In seiner militärischen Laufbahn war er in einer Vielzahl bedeutender nationaler und internationaler, sicherheits- und militärpolitischer, planerischer und akademischer Verwendungen eingesetzt. Er publiziert und hält regelmäßige Vorträge in Europa, Amerika und Asien und engagiert sich im Kontext deutscher, österreichischer und europäischer Sicherheitsforschung.
Der bereits auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2014 von Bundespräsident, Außenminister und Verteidigungsministerin angesprochene Punkt gewachsener Verantwortung der Bundesrepublik in der Welt hat nun auch seinen Weg in das Weißbuch gefunden. Leider werden Antworten auf wesentliche Fragen vermieden:
• Wie antworten die Bundesregierung und die Bundeswehr konzeptionell auf die neuen sicherheitspolitischen Bedingungen?
• Welche Konsequenzen ergeben sich für Struktur, Ausrüstung und Fähigkeiten der Bundeswehr?
• Wie werden künftig in den und zwischen den Ressorts die Kompetenzen und Prozesse angepasst?
• Was unternimmt die Verteidigungsministerin konkret, die Streitkräfte wieder einsatzfähig zu machen und mit welchen Ambitionen?
• Welche wesentlichen Fähigkeiten sind von der neuen Cyber-Teilstreitkraft zu erwarten und wie werden diese im Kontext der anderen Cyber-Verantwortlichkeiten deutscher Politik verortet?
• Wie soll sich die gewachsene Verantwortung im Kontext der Rüstungspolitik auswirken?
• Auf welche bereitgestellte Fähigkeiten der Deutschen werden sich europäische und atlantische Partner künftig im Kontext des Rahmennationen-Konzeptes abstützen können?
Die Renaissance von Landes- und Bündnisverteidigung ist ein bedeutender neuer Trend dieses Weißbuches. Russland stelle „die europäische Friedensordnung offen infrage“. Moskau wende sich von der Partnerschaft mit dem Westen ab und betone "strategische Rivalität". Tatsächlich greift dieser Erklärungsversuch unverständlich kurz. Es ist nun schon seit Jahren sicherheitspolitisches Gemeingut, dass sich die Weltordnung derzeit in einem fundamentalen Wandel befindet.
Die Drohnen-Projekte der Bundeswehr
Bis 2025 wollen Deutschland, Frankreich und Italien gemeinsam eine mittelgroße Drohne entwickeln. Sie soll 5000 bis 15 000 Meter hoch fliegen und sich 24 Stunden oder sogar länger in der Luft halten können. Mit etwa zehn Metern Länge und um die fünf Tonnen Gewicht sind solche Drohnen groß genug, um auch Waffen tragen zu können.
Da die Bundeswehr noch zehn Jahre auf die Euro-Drohne warten muss, soll als Übergangslösung eine bewaffnungsfähige Drohne gemietet oder gekauft werden. Zur Auswahl stehen die israelische „Heron TP“ und eine amerikanische Drohne, die wahlweise „Predator B“ (Raubtier) oder „Reaper“ (Sensenmann) genannt wird.
Zu Aufklärungszwecken möchte von der Leyen eine Drohne anschaffen, die bis zu 20 Kilometer hoch fliegen und von dort aus riesige Gebiete überwachen kann. Im ersten Anlauf ist das Projekt im Mai 2013 gescheitert. Die Entwicklung des 14,5 Meter langen und 14,6 Kilogramm schweren „Euro Hawk“ wurde wegen Problemen bei der Zulassung für den deutschen Luftraum und einer drohenden Kostenexplosion gestoppt. Als Ersatz wird nun die Anschaffung der Schwester-Dohne „Triton“ desselben US-Herstellers geprüft.
Da hilft eine rückwärtsgewandte Rolle in die Rhetorik des Kalten Krieges nicht entscheidend weiter. Sie offenbart bestenfalls ein hilfloses Aufbäumen gegen sicherheitspolitischen Wandel.
Zudem sind auch der Brexit und dessen Auswirkungen auf die sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen nicht verarbeitet. Der Rückzug der Briten aus der gemeinsamen europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik sowie deren Strukturen hat das Potenzial, die europäische Sicherheitsordnung zu erschüttern. So war es doch genau dieser gemeinsame europäische Ansatz, der geholfen hat mit der unseligen Tradition eines jahrhundertelangen militärischen Ringens um das Gleichgewicht der Mächte in Europa zu brechen.
Viele Aggressionen werden Erfolg haben
Zu den Neuigkeiten des Weißbuches zählt die Absicht, mit Hilfe von EU-Ausländern eigene Nachwuchssorgen zu überwinden. Sehr konkret ist die Idee nicht, umso mehr jedoch der Widerspruch zum Beispiel seitens des Deutschen Bundeswehrverbandes. "Die deutsche Staatsangehörigkeit ist für uns elementar und muss es bleiben - wegen des besonderen gegenseitigen Treueverhältnisses von Staat und Soldat und der gesetzlichen Verankerung", kommentiert Verbandschef André Wüstner.
Eine weitere Neuigkeit: Das Weißbuch will auch Bundeswehreinsätzen im Innern erleichtern. Soldaten sollen bei großangelegten Terroranschlägen die Polizei unterstützen. Dazu soll es gemeinsame Übungen geben. Bisher galt dies vor allem für Katastrophenfälle wie zum Beispiel Flugzeugunglücke. Die SPD ist damit überhaupt nicht glücklich. Man wird sehen müssen, wie sich das Thema entwickelt.
Ein origineller Gedanke war es, dass sich im Zuge der Weißbuchentstehung nationale und internationale Expertinnen und Experten in die Diskussion über die Zukunft deutscher Sicherheitspolitik einbringen konnten. In zehn Workshops konnten sie ihre Erwartungen an das Weißbuch benennen. Auch interessierte Bürgerinnen und Bürger konnten sich beteiligen.
Dieser inklusive Ansatz erzeugte eine gewisse operative Hektik, die aber letztlich nur eine erschreckende konzeptionelle Windstille übertünchte. Denkanstöße und Ideen Dritter ersetzen eben nicht die Hausaufgaben, die man im BMVg selbst machen muss. Man hätte sich gewünscht, deren Ergebnisse hätten in den Diskussionsprozess eingebunden werden können.
Insgesamt bleibt das Weißbuch in entscheidenden Punkten im Ungefähren, leider auch bei den Themen „Hybride Kriegsführung“ und „Resilienz“, obwohl hier entscheidende Herausforderungen künftiger Prosperität und Sicherheit adressiert werden. Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen betont, dass mit Blick auf eine grundlegend geänderte Sicherheitsarchitektur Europas auf eine "ungewöhnliche Orchestrierung vielfältiger Elemente einer hybriden Kriegsführung", kompetent reagiert können werden muss. Hierfür ist eine relevante politische Strategie zu entwickeln.
Eine Schlüsselaufgabe, bei der das Weißbuch passt. Es reicht eben nicht aus, darauf hinzuweisen, dass Deutschland seine Infrastruktur im Rahmen des Ausbaus der zivilen Verteidigung verstärken müsse, insbesondere mit Blick auf die rapide wachsende Gefährdung durch Cyber-Angriffe. Doch was genau da geschehen soll - da bleibt das Weißbuch reichlich unkonkret.
Deswegen muss auch nicht verwundern, dass die deutschen Medien mit dem Begriff „Resilienz“ – es geht um die Fähigkeit, neuen Bedrohungen durch den internationalen Terrorismus, aber auch durch Cyber-Angriffe auf Kritische Infrastrukturen, Medien oder die Kommunikationssysteme unserer komplex verfassten Gesellschaft Stand zu halten – nichts richtiges anfangen können. Dass die Tiefendimension dieses Begriffs nicht verständlich ausbuchstabiert wird, hat einen einfachen Grund: Die Ministerin und ihre konzeptionellen Ratgeber sind über weite Strecken noch nicht so weit.
Und weil sie nur eine ungefähre Vorstellung haben, vermeiden sie es, allzu offen auszusprechen, was die neuen, aber nur schwer fassbaren Bedrohungen der Bevölkerung jetzt und erst recht in Zukunft zumuten werden.
Anders als einst die Horden des Dschingis Khan oder die Panzerarmeen des 20. Jahrhunderts lassen sich diese Bedrohungen der nahen Zukunft nicht einfach abschrecken oder zur Not abwehren. Viele solcher Aggressionen werden Erfolg haben. Wir erleben das ja bereits bei den zunehmenden Terroranschlägen in europäischen Hauptstätten, aber auch den Cyberattacken auf Politik und Wirtschaft, Gesellschaft und Streitkräfte. Sie alle wer-den sich darauf einstellen müssen, diese Aggressionen auszuhalten und schnellst möglichst die eigene Leistungsfähigkeit wiederherzustellen.