Bundeswehr-Weißbuch 2016 Hilfloses Aufbäumen gegen sicherheitspolitischen Wandel

Das neue "Weißbuch zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr" setzt den vernetzten Ansatz des vergangenen Jahrzehnts fort. Etwas altbacken kommt es allerdings schon daher. Wo ist der große Wurf?

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Bundesverteidigungsministerin, Ursula von der Leyen (CDU) stellt das neue Weißbuch zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr vor Quelle: dpa

Bundeskanzlerin Angela Merkel unterstreicht im Vorwort das strategische Ziel der Bundesregierung, Krisen und Konflikten vorzubeugen. "Sicherheitspolitik muss vorausschauend und nachhaltig sein. Gleichzeitig müssen wir in der Lage sein, schnell auf gewaltsame Konflikte zu reagieren, zu helfen und zu einer raschen Konfliktbeilegung beizutragen." Dafür sei es unerlässlich, dass die zivilen und militärischen Instrumente zusammenwirkten, schreibt die Kanzlerin. Die Bundeswehr ist hier als Instrument des vernetzten Ansatzes unverzichtbar. Das hat sie bereits 2009 beim NATO-Gipfel in Kehl festgestellt.

Im Duktus vergangener Jahrzehnte erfolgt auch die bündnispolitische Ausrichtung: Deutschlands Sicherheit ist untrennbar mit der seiner Verbündeten in Nato und EU verbunden. "Unsere Sicherheit beruht auf einer starken und entschlossenen Nordatlantischen Allianz sowie einer geeinten und belastbaren Europäischen Union", so die Bundeskanzlerin in ihrem Vorwort. In NATO und EU werden substantielle Beiträge zur Stärkung der Allianzen erbracht.

Daneben werden die Vereinten Nationen (VN) und die OSZE als wichtige Akteure benannt. Deutschland werde weiterhin dazu beitragen, die VN in ihren Missionen zivil, polizeilich und militärisch zu unterstützen. Daneben setzt sich Deutschland für eine enge Zusammenarbeit im OSZE-Raum ein. Welche Nachhaltigkeit haben diese Aussagen von einem Land, das konsequent seine Zusagen an NATO und VN und damit verbundene Zahlungsverpflichtungen nicht einhält? Man wird sich auf ein „weiter so“ einstellen können.

Zur Person

Der bereits auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2014 von Bundespräsident, Außenminister und Verteidigungsministerin angesprochene Punkt gewachsener Verantwortung der Bundesrepublik in der Welt hat nun auch seinen Weg in das Weißbuch gefunden. Leider werden Antworten auf wesentliche Fragen vermieden:

• Wie antworten die Bundesregierung und die Bundeswehr konzeptionell auf die neuen sicherheitspolitischen Bedingungen?
• Welche Konsequenzen ergeben sich für Struktur, Ausrüstung und Fähigkeiten der Bundeswehr?
• Wie werden künftig in den und zwischen den Ressorts die Kompetenzen und Prozesse angepasst?
• Was unternimmt die Verteidigungsministerin konkret, die Streitkräfte wieder einsatzfähig zu machen und mit welchen Ambitionen?
• Welche wesentlichen Fähigkeiten sind von der neuen Cyber-Teilstreitkraft zu erwarten und wie werden diese im Kontext der anderen Cyber-Verantwortlichkeiten deutscher Politik verortet?
• Wie soll sich die gewachsene Verantwortung im Kontext der Rüstungspolitik auswirken?
• Auf welche bereitgestellte Fähigkeiten der Deutschen werden sich europäische und atlantische Partner künftig im Kontext des Rahmennationen-Konzeptes abstützen können?

Die Renaissance von Landes- und Bündnisverteidigung ist ein bedeutender neuer Trend dieses Weißbuches. Russland stelle „die europäische Friedensordnung offen infrage“. Moskau wende sich von der Partnerschaft mit dem Westen ab und betone "strategische Rivalität". Tatsächlich greift dieser Erklärungsversuch unverständlich kurz. Es ist nun schon seit Jahren sicherheitspolitisches Gemeingut, dass sich die Weltordnung derzeit in einem fundamentalen Wandel befindet.

Die Drohnen-Projekte der Bundeswehr

Da hilft eine rückwärtsgewandte Rolle in die Rhetorik des Kalten Krieges nicht entscheidend weiter. Sie offenbart bestenfalls ein hilfloses Aufbäumen gegen sicherheitspolitischen Wandel.
Zudem sind auch der Brexit und dessen Auswirkungen auf die sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen nicht verarbeitet. Der Rückzug der Briten aus der gemeinsamen europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik sowie deren Strukturen hat das Potenzial, die europäische Sicherheitsordnung zu erschüttern. So war es doch genau dieser gemeinsame europäische Ansatz, der geholfen hat mit der unseligen Tradition eines jahrhundertelangen militärischen Ringens um das Gleichgewicht der Mächte in Europa zu brechen.

Viele Aggressionen werden Erfolg haben


Zu den Neuigkeiten des Weißbuches zählt die Absicht, mit Hilfe von EU-Ausländern eigene Nachwuchssorgen zu überwinden. Sehr konkret ist die Idee nicht, umso mehr jedoch der Widerspruch zum Beispiel seitens des Deutschen Bundeswehrverbandes. "Die deutsche Staatsangehörigkeit ist für uns elementar und muss es bleiben - wegen des besonderen gegenseitigen Treueverhältnisses von Staat und Soldat und der gesetzlichen Verankerung", kommentiert Verbandschef André Wüstner.

Eine weitere Neuigkeit: Das Weißbuch will auch Bundeswehreinsätzen im Innern erleichtern. Soldaten sollen bei großangelegten Terroranschlägen die Polizei unterstützen. Dazu soll es gemeinsame Übungen geben. Bisher galt dies vor allem für Katastrophenfälle wie zum Beispiel Flugzeugunglücke. Die SPD ist damit überhaupt nicht glücklich. Man wird sehen müssen, wie sich das Thema entwickelt.

Ein origineller Gedanke war es, dass sich im Zuge der Weißbuchentstehung nationale und internationale Expertinnen und Experten in die Diskussion über die Zukunft deutscher Sicherheitspolitik einbringen konnten. In zehn Workshops konnten sie ihre Erwartungen an das Weißbuch benennen. Auch interessierte Bürgerinnen und Bürger konnten sich beteiligen.

So marode ist die Bundeswehr
Aufklärungsjets am BodenImmer neue Einsätze stellen Deutschlands Armee vor Herausforderungen. Immer wieder kommt es dabei auch zu Problemen mit dem Material. So waren die deutschen "Tornados", die für Aufklärungsflüge gegen die Terrormiliz IS in Syrien und im Irak eingesetzt werden, zunächst nachts nicht einsetzbar. Die Cockpit-Beleuchtung war zu hell. Zwar hat die Bundeswehr die Flieger nachgerüstet, doch nicht alle Jets sind tatsächlich einsetzbar. Von den 93 deutschen Tornados waren laut Berichten aus dem November nur 66 in Betrieb - und nur 29 einsatzbereit. Das macht eine Quote von 44 Prozent, vor einem Jahr waren immerhin noch 58 Prozent der Flugzeuge einsatzbereit. Die teilweise über 30 Jahre alten Flugzeuge gelten als Auslaufmodelle. Quelle: dpa
Kampfjets ohne RaketenBeim Nachfolgemodell Eurofighter sind immerhin schon 55 Prozent der 109 Kampfjets einsatzbereit. Dieser Wert lag im vergangenen Jahr aber noch bei 57 Prozent. Wie im November bekannt wurde, fehlt es der Bundeswehr allerdings an Raketen für ihre Flugzeuge: Insgesamt 82 radargelenkte Amraam-Raketen besitzt die Bundeswehr, berichtet die "Bild am Sonntag". Im Ernstfall aber sollte jeder Jet mit zwei Raketen bestückt werden - die Bundeswehr bräuchte also 218 Amraam-Raketen. Quelle: dpa
Hubschrauber mit TriebwerksschädenNoch schlechter steht es um die Hubschrauber-Flotte: Nur 22 Prozent der Transporthubschrauber des Typs NH90 der Bundeswehr sind einsatzbereit. Der Hubschrauber hat vor allem Probleme mit seinen Triebwerken: 2014 musste ein Pilot auf dem Stützpunkt in Termes in Usbekistan notlanden, weil ein Triebwerk explodiert war. Eigentlich hat sich die Bundeswehr das Ziel gesetzt, dass 70 Prozent der zur Verfügung stehenden Bestandes für den täglichen Dienst nutzbar sein soll. Doch insbesondere bei ihren Fluggeräten verfehlt die Bundeswehr diesen Werte oft deutlich. Quelle: dpa
Flügellahmes FluggerätSo ist nur jeder vierte Schiffshubschrauber "Sea King" (siehe Foto) bereit für einen Einsatz. Beim Kampfhubschrauber Tiger liegt die Quote bei 26 Prozent, beim Transporthubschrauber CH53 immerhin schon bei 40 Prozent. „Die Lage der fliegenden Systeme bleibt unbefriedigend“, urteilt Generalinspekteur Volker Wieker in seinem aktuellen Bericht zum Zustand der Hauptwaffensysteme. 5,6 Milliarden Euro will die Bundeswehr in den nächsten zehn Jahren investieren, um den Zustand ihrer Ausrüstung zu verbessern. Quelle: dpa
Transportflugzeuge mit LieferschwierigkeitenUnd von den Transportflugzeugen "Transall" sind nur 57 Prozent bereit zum Abheben. Die teilweise über 40 Jahre alten Flugzeuge gelten als anfällig für technische Defekte. 2014 sorgte das für eine Blamage für die Bundeswehr im Irak, wo die Ausbilder der Bundeswehr kurdische Peschmerga-Kämpfer bei ihrem Kampf gegen den "Islamischen Staat" unterstützen sollten. Weil die Transall-Maschine streikte, konnten die Soldaten nicht zu ihrer Mission aufbrechen und mussten die Maschine wieder verlassen. Eigentlich sollen die Transall-Flugzeuge in den kommenden Jahren durch neue Airbus-Transportflugzeuge des Typs A400M ersetzt werden. 53 der Maschinen hat die Bundeswehr bestellt, doch die Auslieferung verzögert sich. Erst zwei Exemplare kann die Bundeswehr dieses Jahr im Empfang nehmen, die dazu nicht mal alle Funktionen haben: Fallschirmspringer zum Beispiel können die ausgelieferten Flugzeuge nicht absetzen. Airbus muss wegen der Probleme 13 Millionen Euro an den Bund zahlen. Quelle: dpa
Panzer mit BremsproblemenDie Bodenausrüstung findet sich zwar in besserem Zustand als die Flugsysteme der Bundeswehr. Aber auch hier gibt es Probleme, zum Beispiel beim Panzer "Puma". Aus Sicherheitsgründen musste die Höchstgeschwindigkeit für den Panzer von 70 km/h auf nur noch 50 km/h heruntergesetzt werden. Der Grund: Bei einer Geschwindigkeit von mehr als 50 km/h bremst der Panzer nicht mehr zuverlässig, der Bremsweg verdoppelt sich, wie das Bundesamt für Ausrüstung, Informationstechnik und Nutzung der Bundeswehr (BAAINBs) bei Tests herausfand. Die Probleme gab es wohl auch, weil die Bundeswehr erst spät in der Entwicklungsphase den Wunsch einbrachte, dass der Panzer bis zu 70 km/h schnell fahren sollte. Außerdem sollte der 1000 PS starke, bis zu 2000 Schuss pro Minute abfeuernde Panzer ohne Panzerung nur 31,5 Tonnen wiegen. Die Hersteller Krauss Maffei und Rheinmetall hatten Schwierigkeiten, die Auflagen zu erfüllen. Auch deshalb lieferten sie den Panzer erst in diesem Juni aus, ganze fünf Jahre später als geplant. Quelle: dpa
Das Skandal-GewehrDas Dauerthema bleibt jedoch das Pannengewehr G36: Das Sturmgewehr des Herstellers Heckler und Koch soll bei hohen Temperaturen nicht mehr präzise schießen, Verteidigungsministerin von der Leyen erklärte daraufhin, das Gewehr habe bei der Bundeswehr keine Zukunft. Rund 180 Euro hat die Bundeswehr für die insgesamt 178.000 Gewehre bezahlt. Die Aufklärung der Affäre bindet viele Kapazitäten im Ministerium: Insgesamt vier Kommissionen befassen sich mit dem Skandal. Ab 2019 soll ein neues Sturmgewehr das G36 ablösen. Quelle: dpa

Dieser inklusive Ansatz erzeugte eine gewisse operative Hektik, die aber letztlich nur eine erschreckende konzeptionelle Windstille übertünchte. Denkanstöße und Ideen Dritter ersetzen eben nicht die Hausaufgaben, die man im BMVg selbst machen muss. Man hätte sich gewünscht, deren Ergebnisse hätten in den Diskussionsprozess eingebunden werden können.
Insgesamt bleibt das Weißbuch in entscheidenden Punkten im Ungefähren, leider auch bei den Themen „Hybride Kriegsführung“ und „Resilienz“, obwohl hier entscheidende Herausforderungen künftiger Prosperität und Sicherheit adressiert werden. Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen betont, dass mit Blick auf eine grundlegend geänderte Sicherheitsarchitektur Europas auf eine "ungewöhnliche Orchestrierung vielfältiger Elemente einer hybriden Kriegsführung", kompetent reagiert können werden muss. Hierfür ist eine relevante politische Strategie zu entwickeln.

Eine Schlüsselaufgabe, bei der das Weißbuch passt. Es reicht eben nicht aus, darauf hinzuweisen, dass Deutschland seine Infrastruktur im Rahmen des Ausbaus der zivilen Verteidigung verstärken müsse, insbesondere mit Blick auf die rapide wachsende Gefährdung durch Cyber-Angriffe. Doch was genau da geschehen soll - da bleibt das Weißbuch reichlich unkonkret.

Bundeswehr und Personal
Eine Hauptgefreite an Bord des Einsatzgruppenversorgers "Berlin" Quelle: Helmut Michelis
Petra Müller (Mitte) im Gespräch mit einer Besucherin und einem jungen Offizier Quelle: Bundeswehr
Militärpolizist Quelle: Helmut Michelis
Bundeswehr-Panzergrenadiere bei der Einführung des neuen Schützenpanzers "Puma" Quelle: Helmut Michelis
Wehrpflichtige Quelle: Helmut Michelis

Deswegen muss auch nicht verwundern, dass die deutschen Medien mit dem Begriff „Resilienz“ – es geht um die Fähigkeit, neuen Bedrohungen durch den internationalen Terrorismus, aber auch durch Cyber-Angriffe auf Kritische Infrastrukturen, Medien oder die Kommunikationssysteme unserer komplex verfassten Gesellschaft Stand zu halten – nichts richtiges anfangen können. Dass die Tiefendimension dieses Begriffs nicht verständlich ausbuchstabiert wird, hat einen einfachen Grund: Die Ministerin und ihre konzeptionellen Ratgeber sind über weite Strecken noch nicht so weit.

Und weil sie nur eine ungefähre Vorstellung haben, vermeiden sie es, allzu offen auszusprechen, was die neuen, aber nur schwer fassbaren Bedrohungen der Bevölkerung jetzt und erst recht in Zukunft zumuten werden.

Anders als einst die Horden des Dschingis Khan oder die Panzerarmeen des 20. Jahrhunderts lassen sich diese Bedrohungen der nahen Zukunft nicht einfach abschrecken oder zur Not abwehren. Viele solcher Aggressionen werden Erfolg haben. Wir erleben das ja bereits bei den zunehmenden Terroranschlägen in europäischen Hauptstätten, aber auch den Cyberattacken auf Politik und Wirtschaft, Gesellschaft und Streitkräfte. Sie alle wer-den sich darauf einstellen müssen, diese Aggressionen auszuhalten und schnellst möglichst die eigene Leistungsfähigkeit wiederherzustellen.

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