CDU-Hoffnungsträger Jens Spahn "Und wann werden Sie Kanzler?"

Seite 2/2

Spahn kritisiert die Flüchtlingspolitik

Aber er spricht offen an, wie viel auch die Merkel-Regierung falsch gemacht habe. Man hätte die Griechen, Italiener und Türken viel früher unterstützen müssen, statt sie jahrelang mit den Flüchtlingen allein zu lassen. Wie die Kanzlerin ist Spahn für eine europäische Lösung. Anerkennungsverfahren sollten in Griechenland durchgeführt, nicht anerkannte Flüchtlinge in die Türkei oder nach Libyen geschickt werden.

Bei ihm ist aber auch herauszuhören: „Schaffen wir das wirklich?“ In Gesprächen mit Bürgern rechnet Spahn vor, dass in Afrika jeder Zweite unter 20 Jahre alt sei. Nigeria werde in 30 Jahren mit 500 Millionen Einwohnern eine größere Bevölkerung als die ganze EU haben. „Und jeder kann dort blitzschnell auf seinem Handy sehen, wie gut es uns geht.“

Erzählt der Christdemokrat das, scheint sich vor dem geistigen Auge seiner Zuhörer eine endlose Karawane in Bewegung zu setzen und Boote nach Europa zu besteigen. „Wir leben in einer wichtigen Zwischenetappe“, sagt Spahn, Deutschland müsse sich gründlich vorbereiten, am liebsten mit allen Europäern zusammen, notfalls aber auch allein.

Der AfD-Wahlerfolg wird zum ernsten Problem für die Union. Immer lauter streiten jetzt CDU und CDU über den Flüchtlingskurs. Auch von außen wächst der Druck, mit Gegenmaßnahmen einen weiteren Rechtsruck zu verhindern.
von Dietmar Neuerer

Das könnte der neue realistischere Zwischenton sein, den die Union nun braucht – und eine mögliche Neupositionierung in der Flüchtlingsfrage, sollte die Kanzlerin über die Krise stürzen oder aufgeben. „Und wann werden Sie Bundeskanzler, Herr Spahn?“, möchte bei einem Bürgertreffen in Westfalen prompt eine ältere Dame wissen, die zuvor heftig gegen die politische Klasse in Berlin gewettert hatte. Spahn lässt sich nicht aus der Reserve locken. „Das ist in der Politik nicht planbar“, antwortet er nur.

Vor einem Jahr deutete auch nichts darauf hin, dass die Kanzlerin ihm den Posten als Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesfinanzminister anbieten würde. Der ausgewiesene Gesundheitsexperte, den manche schon 2013 als nächsten Bundesgesundheitsminister sahen, schlug ein. Warum? Es war mal Zeit, ein großes Ministerium kennenzulernen, sagt Spahn.

Union und SPD verhaken sich nach den für sie desaströsen Landtagswahlen und streiten sich, als sei nächste Woche Bundestagswahl. Dabei müssen sie vor allem wirtschaftspolitisch noch viel anpacken. Die größten Baustellen.
von Gregor Peter Schmitz, Max Haerder, Christian Ramthun, Christian Schlesiger, Cordula Tutt

Lehrmeister Schäuble

Das Finanzministerium als Lehrstelle für höhere Aufgaben? Und der mehr als doppelt so alte Vollprofi Wolfgang Schäuble als Lehrmeister? Die beiden verstehen sich recht gut. Beide arbeiten sich rasch in komplizierte Materien ein, schauen gern über den Tellerrand und lieben die Kunst der sachlichen Provokation. Schäuble ist badischer Protestant, Spahn ist westfälischer Katholik, bei beiden spielen Arbeitsethos und soziale Verantwortung eine treibende Rolle.

Schäubles schwarze Null, also einen schuldenfreien Bundeshaushalt, hat Spahn längst in seine DNA geknotet. Wer bei ihm Geld loseisen will, blitzt mehr oder weniger freundlich ab, selbst SAP-Mitgründer Hasso Plattner. Als der vor Kurzem bei einem Auftritt in Berlin steuerliche Forschungsförderung forderte, entgegnete Spahn barsch: „Immer diese blöde steuerliche Förderung.“ Der Staat habe zwar einen Überschuss, aber nichts übrig, dekretiert der Staatssekretär mit Vorliebe. Viel besser könnte es auch ein Schäuble nicht formulieren.

So ist Spahn in der Union Auftritt für Auftritt immer wichtiger geworden. Noch nicht ganz der Jungen Union entwachsen, hat er sich seinen Platz im CDU-Präsidium in einer Kampfkandidatur gegen Hermann Gröhe erstritten, einem Vertrauten der Kanzlerin. Das wurde durchaus als mutiges Aufbegehren verstanden. Seit dem Tod von Philipp Mißfelder vertritt Spahn im Präsidium beinahe im Alleingang die jüngere Generation, und er nutzt Medien, in denen Junge eben aktiv sind, vor allem die sozialen Netzwerke.

Wie geschickt Spahn das tut, bekommen auch Sozialdemokrat Schulz und DIW-Chef Fratzscher zu spüren. Sie wollen, dass von ihrem Auftritt die Botschaft hängenbleibt, es sei um Deutschlands Gerechtigkeit schlecht bestellt. Aber Spahn hat kurz danach einen Ministeriums-Tweet abgesetzt, darin steht: „Deutschland ist kein soziales Notstandsgebiet.“ Der Tweet prägt die Schlagzeilen des Tages. Jens Spahn ist halt von der ganz schnellen Truppe.

Inhalt
Artikel auf einer Seite lesen
© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%