Cemile Giousouf zur Flüchtlingsintegration „Wir dürfen die Fehler von damals nicht wiederholen“

Als Kind der Gastarbeiter-Generation weiß Cemile Giousouf, was gelungene Integration bedeutet. Die CDU-Politikerin spricht im Interview über die Situation ihrer Eltern, die Flüchtlingsfrage und Probleme der NRW-Kommunen.

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Im Bundestag ist die 37-Jährige Mitglied im Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung und außerdem Integrationsbeauftragten der CDU/CSU-Fraktion. (Foto: Simone M. Neumann, Deutscher Bundestag) Quelle: Pressefoto

Berlin Auf ihren Wahlkreis Hagen/Ennepe-Ruhr I ist Cemile Giousouf (37) mächtig stolz: In ihrem Berliner Büro hängen Fotos aus dem südöstlichen Ruhrgebiet und dem angrenzenden Sauerland. Als sie nach Berlin ging, hatte die Bundestagsabgeordnete und Integrationsbeauftragte der CDU/CSU-Bundestagsfraktion ihren Wahlkreis um Fotos gebeten – der Wunsch wurde erhört. Die Bilder hat sie sorgsam eingerahmt und an der Wand aufgehängt – lediglich eine Abbildung der Hagener Fernuniversität fehle, sagt sie und lacht.

Frau Giousouf, mit wie viel Sorge blicken Sie in diesen Tagen an die griechisch-mazedonische Grenze?
Mit großer Sorge. Das sind genau die Bilder, die wir in der CDU nicht haben wollten. Die Kanzlerin hat zuletzt immer wieder vor solchen Bildern gewarnt. Das ist das Ergebnis einer misslungenen europäischen Flüchtlingspolitik.

Woran fehlt es dort letztlich? An humanitärer Hilfe oder an einem echten Plan?
Die dort ausharrenden Flüchtlinge haben die Möglichkeit, in Griechenland vernünftig zu leben. Sie wollen aber weiterziehen. Das ist eine fehlerhafte Informationspolitik. Sie wissen selbst nicht mehr, was das Beste für sie ist. Sie sind letztlich Opfer von Schleusern und Schleppern.

Ihre Eltern sind als Gastarbeiter aus Griechenland in den 1970er-Jahren nach Deutschland gekommen. Sie gehören der türkischen Minderheit dort an. Können Sie die Motive der jungen Flüchtlinge daher besonders gut nachvollziehen?
Selbstverständlich. Meine Familie ist nach Deutschland gekommen, um überhaupt eine Lebensperspektive zu haben. Meine Eltern wurden allerdings komplett alleine gelassen: Es gab keine Struktur, keine Sprachkurse, keine Kita-Plätze. Hier haben wir dazugelernt. Wir dürfen die Fehler von damals natürlich nicht wiederholen. Wir müssen den Zugezogenen die Lebensrealität in unserem Land an die Hand geben und schneller unsere Werte vermitteln. Meine Eltern mussten sich das selbst beibringen.

Sind Sie in ihrer Rolle vielleicht auch eine Art Identifikationsfigur?
Ich bin eine von vielen. Die Nachkommen der Gastarbeiter-Generation, von denen wenige eine Ausbildung hatten, haben im Vergleich zu ihren Eltern einen großen Schritt nach vorne gemacht. Die Mehrheit ist gut ausgebildet und identifiziert sich auch mit unserem Land. Leider sehen wir überproportional die Problemfälle, die es selbstverständlich auch gibt. Aber es gibt eben viel mehr gute Beispiele, die zeigen, dass Deutschland ein Aufstiegsland ist – das betrifft nicht nur meine Person.

Sie besitzen die deutsche und die griechische Staatsbürgerschaft. Fühlen Sie sich deutsch, griechisch oder türkisch?
Ich fühle mich zu allen Nationalitäten hingezogen aber Deutschland ist meine Heimat. Ich gehöre zu den Personen, die diese viel zitierte „hybride Identität“ haben.

Wann werden die Flüchtlinge in Griechenland akzeptieren, dass es vorerst nicht mehr weitergeht?
Das ist eine der zentralen Aufgaben. Wir müssen die Menschen darüber informieren, wie es für sie weitergehen kann. Wir müssen ihnen verdeutlichen, dass sie sich nicht unbedingt aussuchen können, in welches Land sie auswandern. Doch wenn die gesamteuropäische Bereitschaft fehlt, kann man den Flüchtlingen auch nicht verdenken, Deutschland als kollektives Ziel auszugeben.


„Das ist peinlich, das ist eine Schande“

Wie bewerten Sie den Flüchtlingsdeal der EU mit der Türkei?
Wir sind in einer Situation, wo wir mit Kriegstreibern in Syrien einen Friedenskompromiss verhandeln müssen. Wir haben nicht mehr den Luxus, uns die Partner auszusuchen, wenn wir Flüchtende retten wollen. Die eigenen EU-Nachbarn stellen sich übrigens hier gerade insgesamt sehr uneuropäisch an. Die Türkei ist nun mal ein Transitland für die Fluchtbewegungen in die europäischen Grenzen und deshalb ist es unentbehrlich, mit ihr zusammen zu arbeiten. Die Abmachung ist ein großer Erfolg für die Linie der Kanzlerin. Die Türkei leistet mit der Rückübernahme von Flüchtlingen, die illegal nach Griechenland eingereist sind, einen wichtigen Beitrag, die Flüchtlingszahlen zu reduzieren. Europa wird im Gegenzug registrierte Flüchtlinge in geordnetem Maße auf andere EU-Länder verteilen.

Griechenland scheint mit der Prüfung von Asylansprüchen überfordert. Der Deal sieht vor, dass Griechenland das weiter übernimmt. Ist diese Strategie nicht zum Scheitern verurteilt?
Es stimmt, das ist eine Mammutaufgabe. Doch Griechenland wird nicht alleine gelassen. Deutschland stellt bis zu 200 Polizeibeamte und bis zu 100 Beamte aus dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zur Unterstützung bereit. Wir brauchen ja auch selbst Beamte. Die Schätzungen der EU-Kommission für Griechenland liegen bei 4000 Beamten. Hier müssen alle Staaten mithelfen.

Deutschland profitiert unfreiwillig, weil die „Zahl der ankommenden Flüchtlinge reduziert“ wurde. Ein Etappenziel der Kanzlerin.
Nein, nicht auf die Art. Die Kanzlerin hat immer wieder davor gewarnt, zur Abschottung der Balkanroute die Grenze zwischen Mazedonien und Griechenland zu schließen. Wir hängen in Europa mit der Verteilung der Menschen deutlich hinterher. Ich habe von Anfang an gesagt: Wenn sich europäische Länder weigern, Flüchtlinge aufzunehmen, dann muss es Sanktionen geben. Das ist einfach in der Form nicht mehr tragbar. Solange es keine Sanktionsmöglichkeiten gibt, werden sich einzelne Länder gegen ankommende Flüchtlinge wehren. Das ist peinlich, das ist eine Schande.

Was macht die deutsche Integrationsfähigkeit aus?
Dieser Prozess kann niemals zu 100% positiv verlaufen. Trotz aller Hürden ist die deutsche Integrationsfähigkeit ist sehr gut. Wir sind ein starkes Land, uns geht es wirtschaftlich sehr, sehr gut. Sie sehen es an den Kindern der sogenannten Gastarbeiter-Generation: Die Mehrheit dieser Menschen hat es geschafft, entlang ihrer Potentiale ein Leben aufzubauen. Sie haben dem Land zur wirtschaftlichen Stärke mitverholfen und mehr zurückgegeben als dass sie das Land gekostet haben. Deutschland ist ein Einwanderungsland und hat hinsichtlich der Integration von Zugezogenen eine Erfolgsgeschichte vorzuweisen – und wir nehmen weiß Gott nicht zum ersten Mal Flüchtlinge in diesem Land auf.

Was sind die Kernaufgaben bei der Integration von Flüchtlingen aus Kriegsgebieten?
Allen voran Sprach- und Arbeitsmarktintegration. Selbst diejenigen, die später in ihr Herkunftsland zurückkehren möchten, sollten hier eine vernünftige Ausbildung bekommen, um später beim Wiederaufbau ihrer Heimat zu helfen.

Wenn es um die Integration junger Einwanderer geht, werden die Probleme allen voran im Arbeitsmarktsektor ausgemacht.
Das stimmt. Wir haben viele Gesetze liberalisiert, um Bleibeberechtigte in Arbeit zu bringen. Aber die Praxis funktioniert noch nicht wunschgemäß. Wir schaffen es bislang noch nicht, Bleibeberechtigte und Unternehmer in geeignetem Maße zueinander zu bringen. Hier müssen wir Bürokratie abbauen, die Abschaffung der Vorrangprüfung wäre so eine Maßnahme.


„Die SPD versagt auf ganzer Linie“

Sie vertreten seit 2013 den Wahlkreis Hagen/Ennepe-Ruhr I im Bundestag. Haben Sie sich inzwischen ausreichend an Berlin gewöhnen können?
(lacht) Ja, ich denke schon. Die Arbeit hier ist so intensiv und vielseitig, dass es nicht lange gedauert hat, bis ich angekommen bin. Ich habe in relativ kurzer Zeit viele Dinge gelernt und immer die notwendige Unterstützung erfahren.

Wie empfinden Sie die Arbeit im Wahlkreis?
Ich spüre zum Teil die Ohnmacht, wenn Dinge auf Bundesebene beschlossen werden, im Wahlkreis allerdings nie ankommen.

Beispielsweise?
Die Finanzierungssituation in der Flüchtlingsfrage. Die Bundesregierung hat eine deutliche Entlastung für die Länder in die Wege geleitet. Der Bund gibt den Ländern Geld, damit diese die Kommunen wiederum finanziell unterstützen können. In Nordrhein-Westfalen wird das Geld jedoch nicht weitergegeben – das schadet dem gesellschaftlichen Frieden. Die SPD-Landesregierung lässt die gebeutelten Kommunen im Stich. Mein Wahlkreis etwa bekommt für die Versorgung von Flüchtlingen nur die Hälfte dessen, was ihm zusteht. Das ist eine frustrierende Erfahrung.

Muss man mehr Druck auf die Landesregierung ausüben?
Das können nur die Wählerinnen und Wähler bei der kommenden Landtagswahl.

Droht auch in Nordrhein-Westfalen ein Erstarken von Randparteien?
Wir müssen davon ausgehen, dass rassistische Parteien auch in Nordrhein-Westfalen Wahlkampf mit der ungelösten Flüchtlingssituation machen. Ich persönlich bin aber sehr optimistisch, dass die Zahl der Zuwanderer sinkt und die AfD daher keinerlei Argumente mehr haben wird, um die Wähler in Angst und Panik zu versetzen.

Was läuft falsch in Nordrhein-Westfalen?
Das Land hat sich unter SPD-Führung nicht weiterentwickelt. Wir haben hinsichtlich der Kinderarmut beim letzten Armutsbericht enorm schlecht abgeschnitten. Es gibt eine hohe Ausfallquote von Schulstunden. Die Einbruchsrate ist extrem hoch, die Aufklärungsrate hingegen extrem niedrig. Die Integrationspolitik im Vorzeigeland NRW ist in Gänze eingeschlafen. Die politischen Funktionäre der SPD versagen auf ganzer Linie.

Auch ihr Wahlkreis wird sehr stark von der SPD dominiert. Seit 1961 kommt der Sieger stets aus dem roten Lager. Was ist die Strategie für 2017?
Das Versagen der Landesregierung spricht Bände. Als Integrationsbeauftragte werde ich mich auch weiter für dieses wichtige Thema einsetzen. Das ist auch bedeutend für meinen Wahlkreis, in dem der Migrationsanteil rund 40 Prozent beträgt. Darüber hinaus werde ich mich weiter um Kommunalfinanzen kümmern und mich dafür einsetzen, dass Hagen ein starker Wirtschaftsstandort bleibt.

Ist die CDU offen genug für Zuwanderer?
Definitiv, aber natürlich ist da noch Luft nach oben. Die Offenheit ist da, aber es fehlt häufig an Offensive. Wir müssen uns stärker dafür einsetzen, Migranten und Migrantenorganisationen anzusprechen und zur Mitarbeit zu animieren –und zwar auf allen Ebenen.

Ist das eine Trendwende für die CDU?
Für diesen Öffnungskurs hat die CDU zwar etwas länger gebraucht, aber sie hat ihn konsequenter verfolgt als andere Parteien. Wir hatten schließlich die erste muslimische Ministerin und die erste Integrationsbeauftrage auf Bundesebene überhaupt. Man kann auch nicht von einer Trendwende sprechen. Denn für viele meiner Abgeordnetenkollegen aus deutschen Großstädten ist es normal, dass sie Migranten in den Kreisvorständen haben. In Regionen, in denen tendenziell eher weniger Migranten leben, ist die Affinität vergleichsweise gering. Mit den Neuzuwanderern wird es in dieser Hinsicht zu positiven Veränderungen kommen.

Angesichts dieser Veränderungen kommt bei manchen Deutschen Angst vor einer Islamisierung auf.
Sorry, aber dieses Pegida-Argument kann ich echt nicht mehr hören. Wir haben vier Millionen Muslime in diesem Land und die allermeisten dieser Menschen fühlen sich Deutsch. Jetzt kommen Flüchtlinge, deren Anzahl knapp einen Prozentpunkt der Gesamtbevölkerung ausmacht. Dieses Wort, „Islamisierung“, ist rein zahlenmäßig absurd. Ob unter den Flüchtlingen Menschen sind, die eine andere Weltanschauung haben, können wir bislang gar nicht beurteilen. Aber deshalb müssen wir ihnen schnellstmöglich unsere Werte vermitteln.

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