Christian Lindner FDP-Generalsekretär: "Keine Staatswut"

Die FDP stand für Steuersenkung und Befreiung der Märkte. Generalsekretär Lindner propagiert einen "mitfühlenden Liberalismus". WirtschaftsWoche fragt was dahinter steckt.

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FDP-Politiker Christian Lindner Quelle: Max Lautenschläger für WirtschaftsWoche

WirtschaftsWoche: Herr Lindner, im Neujahrsappell "Jetzt erst recht", den Sie mit dem künftigen Parteivorsitzenden Philipp Rösler und NRW-Landeschef Daniel Bahr verfasst haben, beschreiben Sie die FDP der Neunzigerjahre als "personell und politisch erschöpfte Funktionspartei". Klingt das nicht wie 2011?

Lindner: 1994 habe ich die FDP tatsächlich so erlebt. Die Symptome sind heute aber andere. Wir haben viele jüngere Führungskräfte. Und in der Sache könnten wir heute angesichts der Dominanz einer sozial und ökologisch verbrämten Gleichheitspolitik als Freiheitspartei viel Unterstützung finden. Unser Problem war die Regierungsarbeit. Viele haben statt des Klein-Kleins Durchbrüche erhofft. Teilweise haben wir uns von unseren langfristigen Zielen durch Kompromisse in der Regierung sogar entfernt.

Sie beschweren sich über eine starke Bundeskanzlerin – oder über eine schwache FDP-Ministerriege?

Natürlich hoffen wir alle auf eine Kanzlerin, deren Ehrgeiz auf Gestaltung statt auf Moderation gerichtet ist. Aber das liegt nicht in unserer Hand. Meiner Partei empfehle ich jedenfalls, in Zukunft entschiedener dafür zu arbeiten, dass liberale Regierungspolitik im Alltag der Mittelschicht einen positiven Unterschied macht. Zu tun gibt es genug. Eltern sind immer noch unzufrieden mit der Qualität der Schulen und mit einem Bildungssystem, das einen Umzug von einem Bundesland ins andere zum Bildungsrisiko macht. Die Familien sorgen sich, ob und wie sie die Pflege der Großeltern finanziert und organisiert bekommen. Sie müssen noch immer unnötig viele Sonntage darauf verwenden, ihre Steuererklärung zu verfassen. Und der Facharbeiter ärgert sich immer noch, wie viel die kalte Progression von der Gehaltserhöhung frisst. Das alles sind zentrale Aufgaben, die die FDP lösen muss. Es ist im Interesse beider Koalitionspartner, dass wir uns nun ein Herz fassen und große Reformvorhaben gemeinsam anpacken und umsetzen.

Große Reformvorhaben? Daran glauben Sie doch selbst nicht mehr.

Dafür müssen wir kämpfen. Schauen Sie zum Beispiel auf den größten Ausgabeposten, den Sozialstaat. Wir haben ein paar Schritte in die richtige Richtung gemacht. Wir haben eine transparente Berechnung des Arbeitslosengeld-II-Regelsatzes gegen die Opposition verteidigt. Wir haben auf Sachleistungen für Kinder aus benachteiligten Familien bestanden. Aber die Aufstiegschancen für Langzeitarbeitslose und gering Qualifizierte sind immer noch unzureichend. Wir haben hier die entscheidenden Reformen nicht hinter uns, sondern vor uns.

Glauben Sie wirklich, dass die Aktivierung – hinein in Zeitarbeit und Niedriglohn – den gering Qualifizierten einen Zuwachs ihrer materiellen Möglichkeiten bringt?

Materiell haben wir ja bereits den Zuverdienst zu Hartz IV etwas attraktiver gemacht. Da wird weniger vom selbst verdienten Geld mit den Sozialleistungen verrechnet. Immerhin 200 Millionen Euro, mit denen wir nicht Arbeitslosigkeit finanzieren, sondern arbeitenden Menschen in kleinen Jobs Respekt zollen. Die Ver-bindung von Sozialleistungen und Markteinkommen muss ausgebaut werden, im Sinne unseres Bürgergeld-Konzeptes. Sie wirkt wie eine Leiter, die man Sprosse für Sprosse nimmt: Über Minijobs, Teilzeitarbeit und Zeitarbeit kommt man näher an den ersten Arbeitsmarkt heran. Nochmals verbesserte Zuverdienstregeln müssen kombiniert werden mit einer besseren Arbeitsvermittlung – und mit einer Reduzierung jener Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik, die die Menschen im Kreislauf von Arbeitslosigkeit und staatlich geförderter Arbeit gefangen halten.

Christian Lindner Quelle: Max Lautenschläger für WirtschaftsWoche

Ist es das, was Sie unter „mitfühlendem Liberalismus“ verstehen?

Ein Aspekt davon. Mir ging es mit diesem Begriff zum einen um die Offenheit von Wirtschaft und Gesellschaft, die fortwährend durch nur scheinbar wohlmeinenden politischen Zugriff bedroht ist. Zum anderen müssen wir aber auch realisieren, dass es Menschen gibt, die erst befähigt werden müssen, in der offenen Gesellschaft ihre Lebenschancen zu ergreifen. Dazu braucht es durchaus staatliche Bildungs- und Sozialpolitik. Aber eine, die den Einzelnen nicht entmündigen will, sondern zur Eigeninitiative auffordert.

Wie können Sie es dann zulassen, dass Menschen, die für sich und ihre Familie Verantwortung übernehmen, mit fünf, sechs Euro die Stunde abgefunden werden?

Das Problem beschäftigt mich auch. Aber entgegen anderslautenden Gerüchten ist das statistisch weder ein Massenphänomen noch gibt es eine einfache Lösung. Ein flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn würde vielen jedenfalls nicht helfen, wenn es den Job danach überhaupt nicht mehr gibt. Nicht jeder gering Qualifizierte ist sofort hinreichend produktiv. Das Aufstocken zu Hartz IV ist daher nicht per se Lohndrückerei, sondern oft auch Leiter in den Arbeitsmarkt. Außerdem müssen wir einen Überbietungswettbewerb verhindern, weil Politiker Wahlkämpfe mit Forderungen nach höherem Mindestlohn gestalten könnten. Teilhabe ist an materielle Voraussetzungen gebunden. Nur wer finanzielle Spielräume hat, kann auch was fürs Alter zurücklegen.

Ist es nicht eine Ordnungsaufgabe des Staates, dafür zu sorgen, dass die Menschen ihre Eigenverantwortung auch wahrnehmen können?

Das können keine Argumente für eine staatliche Lohnfestlegung sein, die jedem in jeder Lebenssituation ein ausreichendes Markteinkommen garantiert. Wenn man zum Beispiel einen Mindestlohn festlegen wollte, der ein ergänzendes Arbeitslosengeld II ausschließt, würde er im Beispielfall einer vierköpfigen Familie mit einem Erwerbstätigen schnell über zwölf Euro liegen. Dadurch droht mehr Schaden als Nutzen. Manche in der FDP diskutieren, ob unter bestimmten Umständen regionale Lohnuntergrenzen krassen Missbrauch ausschließen könnten. Man kann daran sehen, dass die FDP nicht dogmatisch erstarrt ist, sondern an Alltagsproblemen arbeitet. In der Sache bin ich aber noch unentschieden.

Mag sein, dass 7,50 Euro pro Stunde kein Arbeitsmarktproblem lösen. Umgekehrt lösen fünf Euro keine Einkommensprobleme. Noch einmal also: Was hat es mit Liberalismus zu tun, einem 40-Stunden-Jobber 1200 Euro monatlich zu verweigern?

Es geht nicht um Verweigern. Für Liberale hat Lohn nicht nur etwas mit politischen Wünschen und Mitmenschlichkeit zu tun, sondern auch mit individueller Produktivität, Leistung, Vertragsfreiheit und Tarifautonomie. Der Liberalismus steht eben zuerst für diese offene Gesellschaft. Die braucht eine Rechtsordnung, damit niemand selbstherrlich Macht über den anderen ausüben kann. Aber bei weiter gehenden politischen Wünschen ziehen wir Chancengerechtigkeit der Umverteilung und Gleichheitspolitik vor. Individuelle Qualifikation ist eine bessere Versicherung gegen geringes Einkommen als staatliche Lohnpolitik.

Wunderschön, die Theorie der offenen Marktgesellschaft. Warum verteufeln liberale Ordnungspolitiker dann die "Einheitsschule" – vielleicht entsteht Chancengerechtigkeit, wenn sozial benachteiligte Kinder sich möglichst lange ein Beispiel an wissbegierigen Mitschülern aus gutem Hause nehmen? Oder wollen Sie bloß, dass die Kinder ihrer Wähler an Gymnasien und Privatschulen unter sich bleiben?

Im Gegenteil. Die politisch verordnete Abschaffung des Gymnasiums würde viele Eltern erst veranlassen, ihre Kinder auf private Schulen zu geben. Dann hätten wir eine Spaltung wie im angelsächsischen Raum. Die mangelhafte Akzeptanz der Gemeinschaftsschule haben die Hamburger Eltern dokumentiert. Diese Schulstrukturdebatten sind ideologisch überfrachtet – wichtiger sind Lehrerausbildung, frühkindliche Bildung und Schulautonomie. Und dass wir endlich bundesweit vergleichbare Standards bekommen.

Natürlich hat sich der Staat zu viele Aufgaben angemaßt. Aber hat die FDP in ihrer Staatswut übersehen, dass er grundlegende Ordnungsfunktionen nicht mehr wahrnimmt, um das größte Glück für die größte Zahl seiner Bürger zu erreichen?

Bei uns gibt es keine Staatswut. Liberale sind keine Anarchisten. Wir wollen eine skeptische Staatsfreundschaft pflegen. Das bedeutet, dass wir den Staat als Ordnungsmacht stärken wollen, wo es darum geht, die Regeln für das Miteinander in einer veränderten Welt zu erneuern. Globalisierung, Klimawandel und Multireligiosität fordern uns alle. Aber Liberale wollen eben nicht, dass der Staat ein Problemlösungsmonopol beansprucht, Umverteilungsapparat wird oder private Initiative entwertet und verdrängt.

Der liberale Staat hat als Ordnungsmacht mehrfach versagt. Nicht zuletzt mit der Förderung der Atomkraft – und mit der Externalisierung ihrer Folgekosten.

Wenn man die Kernenergie allein an den Geboten der Marktwirtschaft messen wollte, hätte es sie nie geben können. Rein ordnungspolitisch ist eine Technologie problematisch, die im Markt nicht versicherbar ist.

Ein ehrlicher Satz. Noch ehrlicher wäre gewesen, Sie hätten ihn vor sechs Wochen gesagt.

Die FDP wollte auch schon vor sechs Wochen den Ausstieg aus der Kernenergie. Aber mit Verstand. Die Kernkraft ist unter staatlicher Regie eingeführt worden. Deshalb ist sie nicht nur Marktgesetzen, sondern auch der demokratischen Akzeptanz zu unterwerfen. Die Mehrheit der Deutschen und auch der FDP-Wähler sehen insbesondere die ältesten Kraftwerke kritisch – das muss man zur Kenntnis nehmen. Die Industrienation Deutschland wird aber insgesamt noch einige Zeit eine Allianz aus Kernenergie und Erneuerbaren brauchen.

Kann es sein, dass die FDP ihre ordnungspolitische Klarheit immer nachträglich gewinnt? Die Finanzmärkte zum Beispiel haben Sie vor der Krise gar nicht genug deregulieren können. Und bei der Euro-Krise warten wir immer noch auf eine liberale Stimme, die auf Gläubigerhaftung pocht.

Die Stimme gab und gibt es. Natürlich fordern wir prinzipiell die Beteiligung der Gläubiger an der Sanierung von Staatsfinanzen. Es ist dringend geboten, dass Risiko und Haftung wieder zusammengeführt werden. Diese Trennung hat in der Finanz- und Euro-Krise überhaupt erst zum Marktversagen geführt.

Im schönen neuen Umverteilungseuropa wird es eine Gläubigerbeteiligung erst geben, wenn ein Staat Konkurs anmeldet. Genau diesen aber soll der Rettungsschirm verhindern, für den der deutsche Steuerzahler 22 Milliarden Euro hinlegt. Konsequent wäre, wenn die FDP im Bundestag gegen den Rettungsschirm stimmte.

Man muss mit Kompromissen leben lernen. In einem Aspekt kann es aber keinerlei Kompromiss geben: Ich gewinne den Eindruck, dass der Bundesfinanzminister in diesen Fragen die Budgethoheit des Deutschen Bundestages schleifen will. Wenn es um Milliardenbeträge aus dem Bundeshaushalt geht, dann können die europäischen Finanzminister aber nicht hinter verschlossenen Türen entscheiden. Herr Schäuble muss wissen, dass die FDP die Zustimmungspflicht des Parlaments entschlossen verteidigen wird. Darüber hinaus sind wir in einer komplexen Verhandlungssituation in einem Mehrebenensystem mit unterschiedlichen Interessen. Da kann man nicht den Kopf in den Sand stecken, um seine eigenen Maximalforderungen durchzusetzen.

Was heißt Maximalforderungen? Sie müssten wenigstens Ihre Stimme erheben – und Ideen liefern, wie man die Banken zumindest teilweise in Haftung nehmen kann.

Dass es sich beim Rettungsschirm nicht um eine Wunschlösung der FDP handelt, ist klar. Im Falle eines Falles gibt es ab 2013 Gespräche mit einem Staat, der nicht mehr schuldentragfähig ist. Es wird dann im Einzelfall zu beurteilen sein, wie die Probleme zu lösen sind: durch Sparmaßnahmen und Reformanstrengungen – oder eben durch Gläubigerbeteiligung und Umschuldung. Ich würde aus ordnungspolitischen Gründen lieber Banken als Staaten stützen. Von Banken kann man schließlich eine Gegenleistung unmittelbar verlangen. Das hat zuletzt das Beispiel Commerzbank gezeigt.

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