DAK-Report Der kranke Deutsche

In Deutschland ist der Krankenstand so hoch wie seit 20 Jahren nicht mehr. Statistiken zeigen: Es gibt einen direkten Zusammenhang zur Wirtschaftslage. Feiern die Deutschen gerne krank?

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Der Krankenstand in Deutschland ist so hoch wie seit 20 Jahren nicht mehr. Quelle: dpa

Berlin Ist Deutschland ein Volk von Krankmachern? Fast könnte man das glauben, schaut man sich die aktuelle Krankenstandsentwicklung bei der Deutschen Angestelltenkrankenkasse an. Auf 4,4 Prozent ist danach im ersten Halbjahr 2016 der Krankenstand bei den 2,6 Millionen erwerbstätigen Versicherten der drittgrößten deutschen Krankenkasse gestiegen. Das sind 0,3 Prozentpunkte mehr als im ersten Halbjahr 2015.

Die Zahlen sind annähernd repräsentativ für die gesamte deutsche Erwerbsbevölkerung. Im Durchschnitt fehlte danach jeder Arbeitnehmer wegen Krankheit 7,9 Tage an seinem Arbeitsplatz. Vor Jahresfrist waren es noch 7,4 Tage. So hoch war der Krankenstand zuletzt vor 20 Jahren. Mehr als jeder dritte Berufstätige wurde mindestens einmal krankgeschrieben. Im Schnitt dauerte eine Erkrankung jedoch länger als die Krankschreibung, nämlich 12,3 Tage. Im Vorjahr waren es noch 11,7 Tage.

Trotzdem warnen Arbeitswissenschaftler vor Panikmache. Im Langzeitvergleich sei der Krankenstand nicht besorgniserregend hoch, so Jörg Marschall vom IGES-Institut, das die Gesundheitsdaten der DAK ausgewertet hat. Tatsächlich belegen Daten des Bundesgesundheitsministeriums, dass der Krankenstand in früheren Zeiten schon einmal deutlich höher war. So waren in den 1970er-Jahren Krankenstände von über fünf Prozent an der Tagesordnung. Erst in den Jahren nach der Wiedervereinigung gingen die Krankenstände deutlich zurück.

Damals waren die Arbeitslosenquoten in Deutschland noch viel höher. Die Wirtschaft kriselte. 2007 erreichte der Krankenstand der Deutschen mit 3,2 Prozent den niedrigsten Stand seit 1975. Seither geht es wieder aufwärts. Die Daten belegen, wie stark der Krankenstand in Deutschland noch immer von der Wirtschaftslage abhängt. Es gebe einen statistisch belegbaren Zusammenhang zwischen Konjunkturentwicklung und Krankenstand.

„In Zeiten, in denen die Menschen ihren Arbeitsplatz eher gefährdet sehen, melden sie sich eher nicht krank, obwohl es ihnen schlecht geht“, so Marschall. In besseren Zeiten sind sie dagegen eher bereit sich auszukurieren. „Das Vorurteil, dass Arbeitnehmer in wirtschaftlich guten Zeiten gerne öfter mal blau machen, weil sie keine Lust zum Arbeiten haben, lässt sich so generell aber nicht bestätigen.“

Auch in der aktuellen guten Arbeitsmarktlage gehen fast zwei Drittel der Arbeitnehmer mindestens einmal im Jahr trotz Krankheit zur Arbeit. Die Experten sprechen vom „Präsentismus“. Arbeitnehmer tauchen trotz Krankheit am Arbeitsplatz auf, sind aber nicht leistungsfähig also im Wesentlichen vor allem anwesend oder „präsent“. Arbeitgeber gefällt das in der Regel eher nicht, zumal jemand der lange trotz Krankheit zur Arbeit geht, wohlmöglich am Ende schwerer erkrankt und dann umso länger seine Arbeitskraft nicht einsetzen kann.


Psychische Erkrankungen und Rückenleiden

Unter den Langzeiterkrankungen als Ursache für Arbeitsunfähigkeit sind vor allem die psychischen Erkrankungen auf dem Vormarsch. Mehr als die Hälfte der Fehltage lassen sich auf drei Krankheitsarten zurückführen. An erster Stelle stehen Rückenleiden und andere Muskel-Skelett-Erkrankungen, die Männer etwas häufiger betreffen als Frauen. Jeder fünfte Fehltag wurde damit begründet (22 Prozent). Danach folgen Krankheiten des Atmungssystems mit 17 Prozent Anteil am Gesamtkrankenstand.

Fast genauso viele Ausfalltage gingen auf das Konto der psychischen Erkrankungen. Ihr Anteil am Krankenstand hat sich auf 16 Prozent erhöht (1. Halbjahr 2015: 15 Prozent). Frauen fehlten mit Depressionen und anderen psychischen Erkrankungen fast doppelt so häufig wie Männer. Die Betroffenen fielen besonders lange aus: Im Schnitt waren es 35 Tage. Die durchschnittliche Erkrankungsdauer von psychischen Erkrankungen übertraf somit sogar die von Krebserkrankungen (32 Tage). Eine starke Erkältungswelle wie zu Beginn des vergangenen Jahres gab es 2016 nicht: Während Husten, Schnupfen und Heiserkeit im ersten Halbjahr 2015 einen Anteil von 20,4 Prozent am Krankenstand hatten, waren es 2016 nur 17 Prozent. Die Zahl der Ausfalltage sank um neun Prozent.

Warum lang andauernde psychische Erkrankungen eine wachsende Rolle beim Thema Arbeitsunfähigkeit spielen? Darauf gibt es keine eindeutige Antwort. „Eine Ursache ist sicher, dass heute psychische Erkrankungen gesellschaftlich nicht mehr so stark tabuisiert werden“, sagt Marschall. In der Vergangenheit neigten die Ärzte dazu, eher die körperlichen Auswirkungen etwa eine Depression auf den Krankenschein zu schreiben, wie Magen-Darmverstimmung oder Rückenschmerzen, als die seelische Ursache.

Wer ein einer Depression erkrankt war, hat dies möglichst vor dem Arbeitgeber und den Kollegen verheimlich, um nicht stigmatisiert zu werden. Heute ist das Verständnis für solche Erkrankungen in der Öffentlichkeit gewachsen. Zudem haben immer mehr Menschen eigene Erfahrungen mit diesem Thema. Nach Untersuchungen des Robert-Koch-Instituts hat aktuell jeder Dritte im Verlauf eines Jahres eine psychische Erkrankung. Dabei handelt es sich aber oft nur um eine kurze „Episode“, die oft nicht einmal zu einer Krankschreibung führt.


Veränderte Arbeitsanforderungen

Ob die Zunahme zur Arbeitsunfähigkeit führender psychischer Erkrankungen in einem Zusammenhang mit Belastungen am Arbeitsplatz steht, lasse sich nicht eindeutig belegen, sagt Marschall. Hier gebe es zumindest Hinweise. So haben auf die Psyche wirkende Faktoren wie Stress eher zugenommen, während schwere körperliche Arbeit eher abgenommen hat. Bis 2006 ist nach einschlägigen Studien die Arbeitsplatzbelastung stark angestiegen und verharrt seither auf hohem Niveau. Vor allem so genannte „Gratifikationskrisen“ können zum Teil schwere psychische Erkrankungen auslösen, weiß Marschall. Sie treten regelmäßig dann auf, wenn ein Arbeitnehmer sich besonders stark einsetzt, Überstunden fährt und auf Pausen verzichtet und dafür keine aus seiner Sicht angemessene Wertschätzung durch den Arbeitgeber in Form von Lob oder vor allem von Geld erhält.

Daneben spielen veränderte Arbeitsanforderungen eine große Rolle . „Spitzenreiter bei den Anforderungen aus Arbeitsinhalt und -organisation sind die Merkmale wie ‚verschiedenartige Arbeiten gleichzeitig betreuen’ (Multitasking), ‚starker Termin- und Leistungsdruck’, ‚ständige Arbeitsunterbrechungen, wie sie vor allem in Großraumbüros vorkommen, ‚sehr schnell arbeiten müssen’ sowie ‚ständig wiederkehrende Arbeitsvorgänge’ (Monotonie),“ heißt es im Stressreport der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin aus dem Jahr 2012, der umfassendsten Datensammlung, die es zu diesem Thema gibt. Ein Viertel der Befragten gab damals an, Pausen ausfallen zu lassen und dies in mehr als einem Drittel der Fälle damit begründet, zu viel Arbeit zu haben. Dabei gaben circa ein Fünftel an, mengenmäßig überfordert zu sein und fast die Hälfte, dass Pausen nicht in den Arbeitsablauf passen.

Interessant ist, dass die Studie zum Ergebnis kommt, dass derlei auf die Psyche wirkende Belastungen in Deutschland höher sind als in anderen Ländern der EU. Vor allem Termin- und Leistungsdruck und schnelles Arbeiten kommen in Deutschland häufiger vor als im Durchschnitt aller 27 EU-Länder. Eintönige Aufgaben und Arbeitsunterbrechungen hingegen seltener. Der durchschnittliche EU-27-Erwerbstätige verfügt auch über mehr eigenen Handlungsspielraum am Arbeitsplatz und erheblich mehr Unterstützung von Vorgesetzen als sein deutscher Kollege. Trotzdem schätzen deutsche Beschäftigte ihren allgemeinen Gesundheitszustand
besser ein als der EU-Durchschnittsarbeitnehmer und auch die allgemeine Erschöpfung liegt weit unter dem EU-Mittel.

Es gibt also auch im internationalen Vergleich viele Indizien dafür, dass es einen Zusammenhang zwischen der Zunahme psychischer Erkrankungen und Belastungen am Arbeitsplatz gibt. Was den internationalen Vergleich der Krankenstände anbelangt, sind Wissenschaft und Statistikämter nicht ganz so gut aufgestellt. „Hier gibt es keine Vergleichszahlen“, sagt Marschall. Der Grund sei, dass jedes Land andere Messverfahren benutze und mithin die nationalen Zahlen für einen Vergleich mit Deutschland keine Aussagekraft haben.

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