Herr Paqué, Herr von Weizsäcker, gut 40 Jahre nachdem der Club of Rome seine zukunftspessimistische Studie "Die Grenzen des Wachstums" veröffentlichte, haben wachstumskritische Schriften und Ideen in Deutschland wieder Hochkonjunktur. Warum gerade jetzt?
Von Weizsäcker: Weil immer mehr Menschen erkennen, dass wir nicht viel dazugelernt haben. Auf der Welt wird es immer enger, es gibt fast drei Milliarden Menschen mehr als damals. Der globale Ressourcenverbrauch ist gigantisch gewachsen. Zwischen dem Wirtschaftswachstum und dem CO₂-Ausstoß gibt es immer noch einen gefährlichen Gleichklang.
Paqué: Ich sehe das weniger apokalyptisch als Sie. Das Bewusstsein für Umweltfragen ist Lichtjahre entfernt vom Zustand damals. Die Wachstumsdebatte folgt historischen Zyklen; es gab sie in den Dreißigerjahren, es gab sie in den Siebzigerjahren, und sie verstummte jeweils ziemlich schnell, wenn sich infolge starken Wachstums die Lebensqualität der Menschen verbesserte. Richtig ist: Nach der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise gibt es derzeit ein diffuses Gefühl, es könne so nicht weitergehen.
Herr von Weizsäcker, 1972 lag die deutsche Wirtschaftsleistung bei 436 Milliarden Euro. Seither hat sich das Bruttoinlandsprodukt (BIP) mehr als verfünffacht. Ist das für Sie eigentlich eine gute Nachricht?
Von Weizsäcker: Isoliert gesehen ja. Die schlechte Nachricht lautet: Gleichzeitig sind die CO₂-Emissionen dramatisch gestiegen. Und der Verbrauch von Natur geht nicht nur weiter - er beschleunigt sich sogar.
Paqué: Das Merkwürdige an Wachstumskritikern wie Ihnen ist, dass Sie das Wachstum und den Fortschritt der Vergangenheit immer als gegeben hinnehmen, aber vor dem Wachstum der Zukunft warnen. Fragen Sie mal die vielen Skeptiker, ob sie ihr iPhone gern mit der Telefonwählscheibe der Siebzigerjahre tauschen wollen oder den PC mit der Schreibmaschine. Das will niemand. Auf die zusätzlichen Staatseinnahmen, die das Wachstum gebracht hat, mag auch niemand verzichten. Die Früchte des Wachstums werden auch von seinen schärfsten Kritikern gern geerntet.
Von Weizsäcker: Es geht doch überhaupt nicht um eine pauschale Ablehnung von Wirtschaftswachstum. Das Entscheidende ist, dass wir Wachstum und Ressourcenverbrauch entkoppeln müssen, um die Zerstörung der Natur zu stoppen. Ich halte als Physiker eine Verfünffachung der Ressourcenproduktivität auf mittlere Sicht für technisch machbar. Damit das aber endlich rentabel wird, brauchen wir eine Art Pingpong zwischen den Ressourcenpreisen und der Ressourcenproduktivität.
"Eine Lenkungswirkung am besten über den Preis"
Was meinen Sie damit?
Von Weizsäcker: Seit der industriellen Revolution hat sich die Arbeitsproduktivität verzwanzigfacht. Warum? Weil die Löhne immer weiter stiegen und dies auf die Wirtschaft wie eine Produktivitätspeitsche wirkte. Dieses Modell brauchen wir nun für den Rohstoff- und Energiesektor. Wachstum ist auf Dauer nur möglich, wenn wir Rohstoffe und Energie optimal ausnutzen. Und dazu müssen die Preise steigen.
Paqué: Sie wollen ernsthaft die schon jetzt hohen Steuern und Subventionen im Umwelt- und Energiebereich noch weiter erhöhen?
Von Weizsäcker: Eine Lenkungswirkung lässt sich am besten über den Preis erzielen. Derzeit lügen uns die Preise doch schamlos an! Sie sind trotz der jüngsten Steigerungen noch weit von der ökologischen Wahrheit entfernt. Mein Vorschlag ist, die Energiepreise jährlich um so viel Prozent wachsen lassen, wie die Energieeffizienz im Vorjahr zugenommen hat. Die Monatskosten für Energie bleiben dann im Durchschnitt konstant. Und jedes Jahr wird Effizienzverbesserung lukrativer. Das ist aber nur ein Punkt unter vielen, die Marktwirtschaft ökologisch neu zu ordnen. Der Staat muss für Wirtschaft und Verbraucher einen ökologisch verträglichen Ordnungsrahmen setzen.
Paqué: Das ist sehr theoretisch gedacht. Wie wollen Sie das in Einklang bringen mit den Wünschen der Menschen? Sicher, man kann zum Beispiel die Siedlungsstruktur verändern und den Energie- und Flächenverbrauch senken, indem man die Leute in Städten zusammenpfercht. Das Problem ist nur: Die Leute wollen das vielleicht gar nicht. Ihr Traum von Eigenheim und Garten ist ihnen wichtig, und sie haben auch ein Recht dazu.
Von Weizsäcker: Ich rate Ihnen, sich einmal Luftbilder von Atlanta und Barcelona anzuschauen. Die beiden Städte haben ungefähr gleich viele Einwohner - aber die Fläche Atlantas ist etwa 25 Mal größer. Ein Verkehrspolitiker, der da ein rentables Nahverkehrssystem aufbauen will, hat keine Chance. Urbane Verdichtung kann Lebensqualität bringen, wie etwa im Freiburger Stadtteil Vauban. Da stehen nur Passivhäuser, die Leute verbrauchen praktisch keine Heizenergie. 80 Prozent der Leute haben kein Auto, aber Zugang zu Carsharing. Die Kinderzahl ist überdurchschnittlich hoch - eben weil dort die Lebensqualität sehr hoch ist.
Wann driftet die politische Lenkung ins Totalitäre?
In einer aktuellen Studie argumentiert der Club of Rome, die westlichen Demokratien seien in der Umweltpolitik unfähig zu weitreichenden Entscheidungen. Autor Jorgen Randers rät, sich am "effizienten" Regierungsstil Chinas zu orientieren. Wollen Sie eine Ökodiktatur?
Von Weizsäcker: Nein. Einen klaren Ordnungs- und Preisrahmen zu setzen ist das Gegenteil von Diktatur. Der Rahmen muss diejenigen begünstigen, die klima- und umweltverträglich produzieren und konsumieren. Dann ist auch Wachstum kein Problem mehr. Autoritäre Formen der Umweltpolitik sind nur im Ausnahmefall richtig.
Paqué: Hier sind wir an einem fundamentalen Punkt der Debatte zwischen Wachstumsbefürwortern und -kritikern. Es geht um die Frage, wann politische Lenkung ins Totalitäre abdriftet. Da rate ich zu größter Sensibilität, die ich bei manchen Wachstumskritikern vermisse. Wenn der Staat zum Beispiel bestimmte Produkte immer weiter künstlich verteuert, schafft er irgendwann einen Prohibitivpreis, der Geringverdiener vom Konsum ausschließt. Wenn man das, was Sie wollen, konsequent zu Ende denkt, läuft alles auf eine enorme Freiheitsbeschränkung hinaus. Mit Marktwirtschaft und dem Lebensglück breiter Bevölkerungsschichten hat das nichts mehr zu tun.
Von Weizsäcker: Freiheitsbeschränkungen entstehen auch durch gefährliche Naturzerstörung. Nach Ihrer Logik wäre jedes Gesetz eine Art von Freiheitsberaubung. Ich sage nicht, dass der Staat den Ingenieuren in den Unternehmen vorschreiben soll, wie sie ihre Arbeit zu machen haben. Aber er kann Vorgaben machen, welche Anforderungen die Produkte erfüllen müssen.
Wachstumsskeptiker wie der britische Ökonom Tim Jackson propagieren einen Wohlstand ohne Wachstum, der vor allem durch Konsumverzicht erreicht werden soll. Jackson sieht eine "potenziell zerstörerische Kraft in der unerbittlichen Jagd der Verbraucher nach Neuem". Brauchen wir eine Kultur des Konsumverzichts?
Von Weizsäcker: Ich bin froh, dass es Vordenker wie Tim Jackson gibt. Aber in diesem Punkt teile ich seine Meinung nicht. Eine generelle Konsumverweigerung bringt uns nicht weiter. Verzicht kann gleichwohl positive Wirkungen haben. Ich selbst etwa lebe in einem energieautarken Passivhaus - und kann auf eine Heizung verzichten.
Paqué: Es gibt keinen nachhaltigen Wohlstand ohne Wachstum, das zeigt die Wirtschaftsgeschichte. Wer keine marktfähigen Ideen mehr hat, fällt im globalen Wettbewerb zurück - und verarmt. Was ist an einer ideenlosen Welt wünschenswert? Unsere globalen Probleme lassen sich eben nicht durch Verzicht lösen - sondern allein durch technischen Fortschritt.
"Das BIP ist als zentraler Indikator unverzichtbar"
Renommierte Ökonomen wie der Amerikaner Robert Gordon argumentieren aber, dass die Innovationsdynamik in Zukunft deutlich nachlassen wird - weil bahnbrechende neue Erfindungen ausbleiben.
Von Weizsäcker: Die von Gordon beschriebenen Sättigungsphänomene kann man vernachlässigen. Es mag sein, dass viele "low hanging fruits" - also Innovationen, die einem mehr oder weniger in den Schoss fallen - abgeerntet sind. Ich sehe aber noch gigantisches Innovationspotenzial etwa auf den Gebieten Ressourceneffizienz und Nachhaltigkeit.
Paqué: In dem Punkt teile ich Ihren Optimismus. Neue Ideen schaffen neue Fragestellungen und diese wiederum einen Anreiz weiterzusuchen. Solche Anreize werden irgendwann Marktfrüchte tragen. Die globalen Voraussetzungen sind gut, denn bei der Innovationskraft kommt es auch auf die absolute Anzahl von Köpfen an. Chinesen, Inder, Indonesier, Brasilianer - sie alle wachsen immer stärker in die Weltwirtschaft hinein, bringen ihr Wissen ein und entwickeln es weiter. Das stärkt die Wachstumskräfte.
Umstritten ist allerdings, wie sich Wachstum und Wohlstand am besten messen und international vergleichen lassen. Das BIP, also der Wert aller produzierten Güter und erbrachten Dienstleistungen, hat als Indikator seine Schwächen.
Von Weizsäcker: Das BIP misst den Umsatz, und am Umsatz hängen Beschäftigung und Steueraufkommen. Das sind beides politische Heiligtümer...
Paqué: ...zu Recht...
Von Weizsäcker: ...und auf eine Politik der BIP-Minderung zu hoffen ist daher illusorisch. Ich würde das BIP als Wohlstandsindikator auch gar nicht abschaffen wollen, sondern es lieber relativieren. Ökonomen haben ja längst nachgewiesen, dass es keinen stabilen Zusammenhang zwischen steigendem Wirtschaftswachstum und dem persönlichen Glück der Menschen gibt.
Paqué: Das stimmt so nicht. Das Auseinanderklaffen von BIP und Lebenszufriedenheit ist wissenschaftlich umstritten. Dass steigende Einkommen die Zufriedenheit nicht weiter erhöhen, gilt in der Regel nur bei sehr hohen Einkommen. Bei Geringverdienern gibt es einen klaren Zusammenhang. Ich sage ganz klar: Das BIP ist als zentraler Indikator unverzichtbar. Beim BIP wissen wir genau, was wir messen. Nämlich die marktfähige Produktion einer Volkswirtschaft...
Von Weizsäcker: ...einschließlich aller Verkehrsunfälle, Überschwemmungen und sonstiger unschöner Ereignisse. Weil daran immer anschließend jemand verdient, steigt das BIP. Verkehrsunfälle als Wohlstand, das ist irgendwie absurd.
Paqué: Im Zuge des Wirtschaftens und menschlichen Zusammenlebens kommt es naturgemäß zu Schäden, und werden die beseitigt, schafft dies einen Mehrwert und erhöht die Stromgröße des BIPs. Wollen Sie die Reparatur eines Unfallwagens anders messen als einen Reifenwechsel? Wenn wir anfangen, sinnvolle und nicht sinnvolle Wertschöpfung zu unterscheiden, geraten wir in einen Sumpf von Willkür.
Von Weizsäcker: Ich gestehe Ihnen zu: Realistisch betrachtet lässt sich das BIP als zentraler Indikator - noch - nicht ersetzen. Die Kritik am BIP ist trotzdem berechtigt und jede ideologische Überhöhung dieses Indikators überflüssig. Wir haben längst Kategorien jenseits des Wachstums, etwa die Grundrechte in der Verfassung. Auch den Atomausstieg nach Fukushima haben wir unabhängig von wirtschaftlichen Fragen getroffen. Es macht keinen Sinn, zerstörerische Formen des Wachstums in die Wohlstandsmessung einfließen zu lassen. Daher müssen wir bei der Beurteilung, wie gut es einer Gesellschaft geht, eine Reihe anderer Indikatoren hinzunehmen.
"Sicher nicht den Stein der Weisen gefunden"
Zum Beispiel?
Von Weizsäcker: Ein guter Ansatzpunkt ist der Human Development Index der Vereinten Nationen. Dieser setzt sich aus den drei Komponenten BIP, Gesundheit und Bildung zusammen. Dies ist eine vernünftige erste Annäherung - auch wenn hier die Umweltqualität fehlt.
Paqué: Sieger in diesem Ranking war 2007 übrigens Island. Mittlerweile stehen die nur noch auf Platz 13, obwohl Gesundheitswesen, Sozialleistungen und Lebensqualität da immer noch hervorragend sind. Offenbar war den Machern des Rankings nach der Finanzkrise und dem finanziellen Zusammenbruch Islands das Ergebnis so peinlich, dass man das Land wieder vom Thron geholt hat. Da steckt viel Willkür drin. Ich habe nichts gegen multidimensionale Ansätze. Aber man muss bei der Interpretation aufpassen, was da genau gemessen und wie es gewichtet wird.
Besteht bei alternativen Wohlstandsmessungen nicht die Gefahr, dass sich reformunwillige Politiker dahinter verstecken - weil Wachstum nur noch ein Indikator unter vielen ist?
Paqué: Aus meiner Sicht ist die Gefahr eher, dass man die gesellschaftliche Diskussion verwässert. Wenn das BIP um drei Prozent zulegt, weiß jeder, was das bedeutet. Wenn der Gini-Koeffizient, der die Einkommensverteilung einer Gesellschaft widergibt, von 0,24 auf 0,26 steigt, wird die Sache arg abstrakt. Da kann jeder reininterpretieren, was er möchte, und das geschieht auch - mit heilloser Verwirrung der öffentlichen Diskussion.
Sie selbst sind Mitglied einer Enquete-Kommission, die Vorschläge für eine neue Wohlstandsmessung machen soll und gerade ihren Abschluss-bericht vorlegt. Sind Sie mit dem Ergebnis zufrieden?
Paqué: Wir haben sicher nicht den Stein der Weisen gefunden. Angesicht der politischen Heterogenität der Kommission haben wir aber ein pragmatisches Ergebnis erzielt mit Vorschlägen, wie sich die klassische Wachstumsmessung ergänzen lässt - etwa indem wir Faktoren wie Schulden, Einkommensverteilung und Beschäftigungslage einbeziehen.
"Ein Equity-Index könnte das BIP trefflich ergänzen"
Das Kommissionsmitglied Meinhard Miegel sieht das kritischer. Angesichts von zehn Leitindikatoren hält er das neue Modell für zu komplex.
Paqué: Herr Miegel will das BIP als zentralen Indikator ersetzen. Davor kann ich nur warnen. Ich gebe ihm recht, dass es dieses Sammelsurium nicht leicht haben wird, das BIP in der Öffentlichkeit vom Thron zu stoßen.
Von Weizsäcker: Gleichwohl ist es ein Verdienst der Kommission, ein solches Set von Indikatoren überhaupt zusammenzustellen. Das kann aber nur ein Zwischenschritt sein. Ich halte es für überfällig, bei der Wohlstandsmessung die immensen Schäden durch soziale Ungleichheit einzubeziehen. Dies hat bereits ein von der französischen Regierung eingerichtetes und von US-Nobelpreisträger Joseph Stiglitz geleitetes Expertengremium angeregt. Ein "Equity-Index" könnte das BIP trefflich ergänzen. Es ist erwiesen, dass in Staaten mit hoher Ungleichheit bestimmte Phänomene verstärkt auftreten, etwa Krankheiten, Schulversagen und Kriminalität.
Paqué: So einfach geht das nicht. In den USA etwa gibt es eine viel größere Ungleichheit als bei uns, und sie gab es schon immer, typisch für ein Einwanderungsland. Die Amerikaner sind aber nicht bereit, einen Sozialstaat europäischer Prägung zu schaffen, der diese Ungleichheit verringert. Deshalb müssten sie, was die Lebensqualität betrifft, einen solchen Indikator international mit den Präferenzen der Menschen gewichten - praktisch eine unlösbare Aufgabe. Und auch moralisch fragwürdig: Wir sollten uns davor hüten, unterschiedliche Gesellschaftsmodelle von Demokratien zu "gewichten".
Gibt es schon Reaktionen der Politik, wie man das Gutachten verwenden wird?
Paqué: Das Interesse der Öffentlichkeit ist erheblich stärker als bei früheren Enquete-Kommissionen. Ich glaube daher nicht, dass die Politik den Bericht komplett ignoriert.