Debatte "Konsumverweigerung bringt uns nicht weiter"

Kann es Fortschritt ohne Wirtschaftswachstum geben? Und mit welchen Indikatoren lassen sich Wohlstand und Lebenszufriedenheit überhaupt sinnvoll messen? Ein Streitgespräch über neue Wege des Wirtschaftens, eine Kultur des Verzichts - und die Gefahr einer Ökodiktatur.

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Ernst Ulrich von Weizsäcker (li.) und Karl-Heinz Paqué in einem Streitgespräch über neue Wege des Wirtschaftens, eine Kultur des Verzichts - und die Gefahr einer Ökodiktatur. Quelle: Michael Dannenmann für WirtschaftsWoche

Herr Paqué, Herr von Weizsäcker, gut 40 Jahre nachdem der Club of Rome seine zukunftspessimistische Studie "Die Grenzen des Wachstums" veröffentlichte, haben wachstumskritische Schriften und Ideen in Deutschland wieder Hochkonjunktur. Warum gerade jetzt?

Von Weizsäcker: Weil immer mehr Menschen erkennen, dass wir nicht viel dazugelernt haben. Auf der Welt wird es immer enger, es gibt fast drei Milliarden Menschen mehr als damals. Der globale Ressourcenverbrauch ist gigantisch gewachsen. Zwischen dem Wirtschaftswachstum und dem CO₂-Ausstoß gibt es immer noch einen gefährlichen Gleichklang.

Die größten Ökonomen
Adam Smith, Karl Marx, John Maynard Keynes und Milton Friedman: Die größten Wirtschafts-Denker der Neuzeit im Überblick.
Gustav Stolper war Gründer und Herausgeber der Zeitschrift "Der deutsche Volkswirt", dem publizistischen Vorläufer der WirtschaftsWoche. Er schrieb gege die große Depression, kurzsichtige Wirtschaftspolitik, den Versailler Vertrag, gegen die Unheil bringende Sparpolitik des Reichskanzlers Brüning und die Inflationspolitik des John Maynard Keynes, vor allem aber gegen die Nationalsozialisten. Quelle: Bundesarchiv, Bild 146-2006-0113 / CC-BY-SA
Der österreichische Ökonom Ludwig von Mises hat in seinen Arbeiten zur Geld- und Konjunkturtheorie bereits in den Zwanzigerjahren gezeigt, wie eine übermäßige Geld- und Kreditexpansion eine mit Fehlinvestitionen verbundene Blase auslöst, deren Platzen in einen Teufelskreislauf führt. Mises wies nach, dass Änderungen des Geldumlaufs nicht nur – wie die Klassiker behaupteten – die Preise, sondern auch die Umlaufgeschwindigkeit sowie das reale Produktionsvolumen beeinflussen. Zudem reagieren die Preise nicht synchron, sondern in unterschiedlichem Tempo und Ausmaß auf Änderungen der Geldmenge. Das verschiebt die Preisrelationen, beeinträchtigt die Signalfunktion der Preise und führt zu Fehlallokationen. Quelle: Mises Institute, Auburn, Alabama, USA
Gary Becker hat die mikroökonomische Theorie revolutioniert, indem er ihre Grenzen niederriss. In seinen Arbeiten schafft er einen unkonventionellen Brückenschlag zwischen Ökonomie, Psychologie und Soziologie und gilt als einer der wichtigsten Vertreter der „Rational-Choice-Theorie“. Entgegen dem aktuellen volkswirtschaftlichen Mainstream, der den Homo oeconomicus für tot erklärt, glaubt Becker unverdrossen an die Rationalität des Menschen. Seine Grundthese gleicht der von Adam Smith, dem Urvater der Nationalökonomie: Jeder Mensch strebt danach, seinen individuellen Nutzen zu maximieren. Dazu wägt er – oft unbewusst – in jeder Lebens- und Entscheidungssituation ab, welche Alternativen es gibt und welche Nutzen und Kosten diese verursachen. Für Becker gilt dies nicht nur bei wirtschaftlichen Fragen wie einem Jobwechsel oder Hauskauf, sondern gerade auch im zwischenmenschlichen Bereich – Heirat, Scheidung, Ausbildung, Kinderzahl – sowie bei sozialen und gesellschaftlichen Phänomenen wie Diskriminierung, Drogensucht oder Kriminalität. Quelle: dpa
Jeder Student der Volkswirtschaft kommt an Robert Mundell nicht vorbei: Der 79-jährige gehört zu den bedeutendsten Makroökonomen des vergangenen Jahrhunderts. Der Kanadier entwickelte zahlreiche Standardmodelle – unter anderem die Theorie der optimalen Währungsräume -, entwarf für die USA das Wirtschaftsmodell der Reaganomics und gilt als Vordenker der europäischen Währungsunion. 1999 bekam für seine Grundlagenforschung zu Wechselkurssystemen den Nobelpreis. Der exzentrische Ökonom lebt heute in einem abgelegenen Schloss in Italien. Quelle: dpa
Der Ökonom, Historiker und Soziologe Werner Sombart (1863-1941) stand in der Tradition der Historischen Schule (Gustav Schmoller, Karl Bücher) und stellte geschichtliche Erfahrungen, kollektive Bewusstheiten und institutionelle Konstellationen, die den Handlungsspielraum des Menschen bedingen in den Mittelpunkt seiner Überlegungen. In seinen Schriften versuchte er zu erklären, wie das kapitalistische System  entstanden ist. Mit seinen Gedanken eckte er durchaus an: Seine Verehrung und gleichzeitige Verachtung für Marx, seine widersprüchliche Haltung zum Judentum. Eine seiner großen Stärken war seine erzählerische Kraft. Quelle: dpa
Amartya Sen Quelle: dpa

Paqué: Ich sehe das weniger apokalyptisch als Sie. Das Bewusstsein für Umweltfragen ist Lichtjahre entfernt vom Zustand damals. Die Wachstumsdebatte folgt historischen Zyklen; es gab sie in den Dreißigerjahren, es gab sie in den Siebzigerjahren, und sie verstummte jeweils ziemlich schnell, wenn sich infolge starken Wachstums die Lebensqualität der Menschen verbesserte. Richtig ist: Nach der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise gibt es derzeit ein diffuses Gefühl, es könne so nicht weitergehen.

Karl-Heinz Paqué, 56, ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Magdeburg und Mitglied der Enquete-Kommission

Herr von Weizsäcker, 1972 lag die deutsche Wirtschaftsleistung bei 436 Milliarden Euro. Seither hat sich das Bruttoinlandsprodukt (BIP) mehr als verfünffacht. Ist das für Sie eigentlich eine gute Nachricht?

Von Weizsäcker: Isoliert gesehen ja. Die schlechte Nachricht lautet: Gleichzeitig sind die CO₂-Emissionen dramatisch gestiegen. Und der Verbrauch von Natur geht nicht nur weiter - er beschleunigt sich sogar.

Paqué: Das Merkwürdige an Wachstumskritikern wie Ihnen ist, dass Sie das Wachstum und den Fortschritt der Vergangenheit immer als gegeben hinnehmen, aber vor dem Wachstum der Zukunft warnen. Fragen Sie mal die vielen Skeptiker, ob sie ihr iPhone gern mit der Telefonwählscheibe der Siebzigerjahre tauschen wollen oder den PC mit der Schreibmaschine. Das will niemand. Auf die zusätzlichen Staatseinnahmen, die das Wachstum gebracht hat, mag auch niemand verzichten. Die Früchte des Wachstums werden auch von seinen schärfsten Kritikern gern geerntet.

Von Weizsäcker: Es geht doch überhaupt nicht um eine pauschale Ablehnung von Wirtschaftswachstum. Das Entscheidende ist, dass wir Wachstum und Ressourcenverbrauch entkoppeln müssen, um die Zerstörung der Natur zu stoppen. Ich halte als Physiker eine Verfünffachung der Ressourcenproduktivität auf mittlere Sicht für technisch machbar. Damit das aber endlich rentabel wird, brauchen wir eine Art Pingpong zwischen den Ressourcenpreisen und der Ressourcenproduktivität.

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