Debatte über Brüssel-Kompetenzen Schotten-Votum gibt EU-Kritikern Auftrieb

Europa atmet nach dem Schotten-Votum auf. Damit ist das Thema aber nicht vom Tisch. Der Wunsch nach Unabhängigkeit wirft die Frage auf, ob Brüssel zu viel Macht hat. Eine Steilvorlage für eingefleischte EU-Kritiker.

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Luftballons der Autonomie-Kampagne: Nein zu einem unabhängigen Schottland, ja zur EU. Quelle: Reuters

Berlin Das „Nein“ der Schotten zur Unabhängigkeit hat eine Debatte über die Kompetenzverteilung zwischen der EU-Kommission in Brüssel und den Mitgliedstaaten ausgelöst. Insbesondere aus den Reihen der AfD, der CSU und der FDP kamen Forderungen nach einer Stärkung nationaler Befugnisse. Die SPD sieht hingegen zunächst die EU-kritische britische Regierung in der Pflicht, ihre Vorstellungen in dieser Hinsicht darzulegen.

„Die Diskussion über ‎die beste Verteilung von Kompetenzen in Europa sollte nicht abstrakt, sondern konkret geführt werden“, sagte der Europa-Staatsminister im Auswärtigen Amt, Michael Roth (SPD), dem Handelsblatt (Online-Ausgabe). „Mit Blick auf die britische Zukunft in der EU liegen bisher keine Vorschläge auf dem Tisch, welche Aufgaben von der EU auf die nationale Ebene zurückverlagert werden sollten, um bessere Ergebnisse für die Bürgerinnen und Bürger zu erreichen.“ Die EU sollte sich aus Roths Sicht auf die Aufgaben konzentrieren, die in der „Strategischen Agenda“ angelegt seien. „Dazu gehören die Stärkung von Wachstum, Beschäftigung und sozialem Zusammenhalt wie auch der Ausbau der außenpolitischen Handlungsfähigkeit der EU‎.“

Der Vize-Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Axel Schäfer, warnte davor, falsche Schlüsse aus dem Votum der Schotten zu ziehen. Von einer „ausufernden Zentralisierungstendenz“ bei der Aufteilung der Kompetenzen zwischen Brüssel und den Mitgliedstaaten könne „objektiv“ keine Rede sein. „Im Lissabon-Vertrag sind die Kompetenzen von allen Mitgliedstaaten gemeinsam verteilt worden“, sagte Schäfer dem Handelsblatt. Er unterstrich jedoch auch, dass dort, wo Aufgaben besser national, regional oder lokal gelöst werden können, das Prinzip der Subsidiarität gelten müsse. In der neuen Europäischen Kommission sei daher der Niederländer Frans Timmermans als erster Vize-Präsident dafür zuständig, „sämtliche Vorhaben auf ihre Notwendigkeit zu überprüfen“.

Der Vize der Unions-Bundestagsfraktion, Hans-Peter Friedrich (CSU), ist überzeugt, dass sich etwas ändern muss. „Alles, was auf nationaler Ebene besser geregelt werden kann als in der EU, soll auch dort geregelt werden“, sagte der CSU-Politiker. „Europas Völker sind in der Europäischen Union miteinander verbunden, aber sie brauchen auch ausreichend Entscheidungsfreiheit auf nationaler oder regionaler Ebene.“

Friedrich gab in diesem Zusammenhang zu bedenken, dass Schottland zwar im Vereinigten Königreich bleibt, allerdings knapp 45 Prozent der Wähler für die Unabhängigkeit gestimmt hätten. „Es wäre deshalb ein Fehler, nach diesem Ergebnis in London und Brüssel zur Tagesordnung zurückzukehren.“ Das schottische Volk stehe zur Integration, zu Zusammenhalt und zur Achtung historischer Bindungen. „Aber es drückt mit diesem Votum auch den Wunsch nach mehr Eigenständigkeit, Dezentralisierung und Subsidiarität aus“, betonte Friedrich. Die britische Regierung trage dem bereits Rechnung, indem sie Schottland in Aussicht gestellt hat, über größere Autonomie zu verhandeln.


„Rückführung von Kompetenzen kann EU-Fliehkräfte entschärfen“

Der scheidende Kommissionspräsident Barroso zeigte sich erfreut über den Ausgang des Referendums und erklärte, die EU werde damit gestärkt. Schottland habe wiederholt sein europäisches Engagement deutlich gemacht. Ähnlich äußerte sich der spanische Regierungschef Rajoy, in dessen Land es ebenfalls starke Unabhängigkeitsbestrebungen gibt. Bundesaußenminister Steinmeier sprach von einer guten Entscheidung für Schottland, Großbritannien und Europa.

Nach dem offiziellen Endergebnis des Referendums kommen die Befürworter eines Verbleibs bei Großbritannien auf gut 55 Prozent. Die Anhänger einer Abspaltung erzielten knapp 45 Prozent. Die Wahlbeteiligung war mit rund 85 Prozent sehr hoch.

Politiker der AfD und der FDP werten die Entscheidung der Schotten auch als eine Aufforderung an Brüssel, den EU-Mitgliedstaaten mehr Eigenverantwortung zuzugestehen. „Die ganze EU kann davon profitieren, wenn sie der Selbstbestimmung mehr Respekt zollt, sei es bei regionalen Bestrebungen in Katalonien, Venetien oder Flandern, sei es bei dem Streben Großbritanniens oder anderer Staaten nach mehr Unabhängigkeit“, sagte der Chef der Alternative für Deutschland (AfD), Bernd Lucke, dem Handelsblatt. „Die Rückführung von Kompetenzen auf dezentrale Ebene kann die Fliehkräfte in der EU entschärfen.“

Der stellvertretende Vorsitzende der FDP im EU-Parlament, Michael Theurer, zeigte sich im Gespräch mit dem Handelsblatt zwar erleichtert darüber, dass eine Unabhängigkeit Schottlands abgewendet werden konnte, weil sie nicht absehbare Folgen für die EU hätte haben und zum „Präzedenzfall für andere Regionen mit Abspaltungs-Tendenzen“ wie Flandern oder Katalonien hätte werden können. Er sagte aber auch: „Nun wird es darauf ankommen, Schottland und anderen Regionen machbare Autonomie zu ermöglichen und das Subsidiaritätsprinzip der EU zu stärken.“

Der SPD-Bundestagsabgeordnete Joachim Poß ist hingegen der Überzeugung, dass die Kompetenzverteilung zwischen der EU und den Mitgliedstaaten durch das Schotten-Votum nicht in Frage gestellt worden sei. „Es ist aber ein Signal für die Mitgliedstaaten, über ein besseres Miteinander innerhalb ihrer Grenzen nachzudenken“, sagte Poß dem Handelsblatt. Das gelte nicht nur für Großbritannien. „Auch die Verantwortlichen sowohl in Madrid als auch in Barcelona, sollten die Situation in ihrem Land noch einmal überdenken.“

Poß betonte zudem, dass sich die Abstimmung in Schottland eindeutig auf das Verhältnis zwischen Schottland und England und nicht auf das Verhältnis zur EU bezogen habe. „Es sollte auch nicht der falsche Schluss gezogen werden, das „No“ zur Unabhängigkeit sei ein „Yes“ zur Politik von David Cameron.“ Für den Premierminister des Vereinigten Königreiches sei es vielmehr ein Zeichen, dass er die Positionierung seines Landes gegenüber der EU überdenken sollte. „Denn die Debatte um die schottische Unabhängigkeit hat eines deutlich gezeigt: die Schotten wollen zu Europa gehören.“


Musterbeispiel für friedliche Konfliktlösung

Auch der Grünen-Europapolitiker Manuel Sarrazin, sagte, das schottische Referendum sie gegen einen Austritt Großbritanniens aus der EU gerichtet gewesen. Die Schotten seien überdies froh darüber, durch die europäische Rechtsetzung in den letzten Jahren bereits mehr Rechte und Kompetenzen nach Edinburgh geholt zu haben, sagte Sarrazin dem Handelsblatt. „Es war immer klar, dass auch ein unabhängiges Schottland in der EU bleiben will.“ Die EU sei „viel besser als das zentralistisch organisierte Großbritannien in der Lage, regionale Interessen zu berücksichtigen“, so Sarrazin. „Starke Regionen in der EU brauchen auch eine starke europäische Ebene.“

Cameron zeigte sich nach dem Votum erleichtert. Ein Ende der seit 307 Jahren bestehenden Union mit England hätte die Insel voraussichtlich wirtschaftlich und politisch in Turbulenzen gestürzt und den Premierminister wohl das Amt gekostet. Cameron kündigte bis Januar ein Gesetz an, mit dem die einzelnen Regionen Großbritanniens mehr Befugnisse zum Beispiel in Steuer- und Haushaltsfragen sowie für das Sozialsystem bekommen sollen. Der Erste Minister Schottlands, Alex Salmond, forderte die britische Regierung auf, schnell ihr Versprechen weiterer Autonomierechte für Schottland einzulösen.

AfD-Chef Lucke lobt das schottische Referendum auch als Musterbeispiel dafür, wie man mit Unabhängigkeitsbestrebungen einer Volksgruppe friedlich und konstruktiv umgehen könne. „In Großbritannien hat man den Schotten ein Selbstbestimmungsrecht zugestanden und gleichzeitig deutlich gemacht, dass dies auch in der Union verwirklicht werden kann, indem Kompetenzen von der Zentralregierung nach Schottland verlagert werden“, sagte Lucke. Erfreulicherweise sei die ukrainische Regierung vor wenigen Tagen einen ähnlichen Weg gegangen und hat dem Donezk-Becken eine weitgehende Autonomie in Aussicht gestellt. „Wenn man auch dort das Selbstbestimmungsrecht ernst nimmt und die Bevölkerung frei und demokratisch zwischen Autonomie und Sezession entscheiden lässt, kann auch dieser Konflikt friedlich entschärft werden.“

Die internationalen Börsen reagierten weitgehend positiv auf den Ausgang des schottischen Referendums. Es sei „der Unsicherheitsfaktor, der in den vergangenen Wochen vieles überlagert hat, vom Tisch“, schrieben die Analysten der DZ Bank. Das britische Pfund reagierte mit einem Kurssprung gegenüber Euro und US-Dollar. In Frankfurt stieg der Dax in den ersten Handelsminuten um 0,53 Prozent. Am Mittag lag der deutsche Leitindex mit 0,67 Prozent im Plus.

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