Wer einen Beleg für die politische Chaostheorie gesucht hat, darf sich bei Horst Seehofer für die Beweisführung bedanken. Eigentlich waren es nur ein paar dahingesprochene Flattersätze, die der CSU-Chef in München formuliert hatte. Die Riester-Rente? Gescheitert, weg damit. Gesetzliche Altersvorsorge? Viel zu niedrig. Aber in Berlin, mehr als 500 Kilometer entfernt, lösten sie einen Sturm aus. Einen, der bis heute anhält.
Sigmar Gabriel, der SPD-Vorsitzende, reagierte sofort: Rente, sagt er, sei eine „Geschichte von Würde und Anerkennung“. Was folgte, war verbale Aufrüstung: CDU/CSU und SPD brüten nun eifrig Rentenideen aus; die sozialdemokratische Bundesarbeitsministerin sieht sich gezwungen, ein eigenes Gesamtkonzept vorzulegen. Und der Deutsche Gewerkschaftsbund bereitet für den Sommer eine große Kampagne zum Thema vor.
Dies ist die eindrucksvolle Bilanz eines Flügelschlags aus Bayern: Er kommt, der Wahlkampf um die Rente. Denn hinter ihr Gesagtes können weder Seehofer noch Gabriel zurück. Und nach dieser Ouvertüre spricht momentan nichts dafür, dass der Rentenwahlkampf 2017 anders ausfällt als der des Jahres 2013. Will heißen: mit milliardenteuren Versprechen, zukunftsvergessen und ohne Blick fürs Ganze. Warum nur?
Die Hoffnung - Heide Meyer kennt kein Ende
Was für ein graues, sperriges Wort eigentlich. Es klingt fast wie Bürokratieabbau, Kopfpauschale oder gar Steuererklärung: Generationenvertrag.
Heide Meyer sagt einfach nur: Was für ein Geschenk! Müsste man in einem einzigen Wort beschreiben, was Meyer nahezu jeden Tag, jede Woche, jeden Monat tut, mit Energie, Charme und einem bemerkenswert schnellen Mundwerk, man käme an diesem Buchstabenungetüm nicht vorbei: Diese Dame lebt ihren eigenen Generationenvertrag.
73 Jahre ist Heide Meyer alt. Wobei: „Alt“, sagt sie, „alt heißt ja nicht tot. Ich warte jedenfalls nicht einfach auf die schwarze Kiste.“ Andere in ihrem Alter machen Kreuzfahrten, lösen Kreuzworträtsel oder nehmen im Ohrensessel Platz. Nichts für sie. Wenn es einen Satz gibt, mit dem sie noch nie etwas anfangen konnte, dann mit diesem: Ich habe genug gearbeitet, jetzt wird entspannt.
Meyer, mit rot lackierten Fingernägeln, dezenter Perlenkette, makelloser Frisur und ebensolchem Make-up, füllt stattdessen ohne Schwierigkeiten eine halbe Stunde damit, all ihre Aufgaben und Projekte aufzuzählen. „Sie unterbrechen mich, ja?“
Als Heide Meyer in den Sechzigern ihre Ausbildung beginnt, gibt es noch gar keine Einzelhandelskauffrau, sie lernt noch auf Kaufmann. 1972, da ist sie gerade Ende 20, macht sie sich mit einem Geschäft für Damenunterwäsche in Berlin-Wilmersdorf selbstständig. In ihren fast vier Jahrzehnten als Unternehmerin bildet sie in ihrem Laden mehr als 30 Azubis aus. Ein erfülltes Berufsleben. Aber eben nicht das Ende.
Altersvorsorge: So viel Rente darf der Standardrentner erwarten
Die Prognosen beziehen sich auf den sogenannten Standardrentner, der 45 Jahre Beiträge gezahlt und immer das Durchschnittseinkommen der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten verdient hat. Die angegebene Bruttostandardrente versteht sich vor Steuern. Das Sicherungsniveau vor Steuern gibt das Verhältnis der Renten im Vergleich zum Durchschnittseinkommen der beitragszahlenden Beschäftigten abzüglich der durchschnittlichen Sozialversicherungsbeiträge an.
Quelle: Rentenversicherungsbericht 2015, Deutsche Rentenversicherung Bund, Stand: November 2015
Beitragssatz zur GRV: 19,9 %
Bruttostandardrente: 1224 Euro monatlich
Sicherungsniveau vor Steuern: 51,6 %
Beitragssatz zur GRV: 18,7 %
Bruttostandardrente: 1372 Euro monatlich
Sicherungsniveau vor Steuern: 47,7 %
Beitragssatz zur GRV: 18,7 %
Bruttostandardrente: 1517 Euro monatlich
Sicherungsniveau vor Steuern: 47,6 %
Beitragssatz zur GRV: 20,4 %
Bruttostandardrente: 1680 Euro monatlich
Sicherungsniveau vor Steuern: 46,0 %
Beitragssatz zur GRV: 21,5 %
Bruttostandardrente: 1824 Euro monatlich
Sicherungsniveau vor Steuern: 44,6 %
Momentan betreut sie einen jungen Griechen und einen Spanier bei deren Ausbildung in Deutschland. Sie hat schon Gründerinnen in Weißrussland beraten. An der Berliner Hochschule für Wirtschaft und Recht begleitet sie ein Projekt zur Firmennachfolge. Für eine Stiftung arbeitet sie als Mentorin für Unternehmensgründerinnen. Und dann wäre da noch dieses Patent für Onlineeinkäufe, das sie mit einem Bekannten aus ihrem Ruderclub entwickelt hat. Von ihm kam das Informatikwissen, von ihr das kaufmännische Know-how. „Der heimische Fernseher“, sagt sie, „ sollte nun wirklich nicht der Mittelpunkt des Lebens sein.“
Heide Meyer ist eine Ausnahmeerscheinung. Wer jedoch glaubte, sie sei alleine, hat lange in keine Statistik mehr geschaut. Im Jahr 2000 gingen Frauen und Männer im Schnitt mit 62,3 Jahren in Rente, 2014 lag die Grenze bereits bei 64,1 Jahren. Zur Jahrtausendwende hatten von den damals 60- bis 64-Jährigen nur 20 Prozent einen Job. 15 Jahre später sind es deutlich mehr als doppelt so viele: 53 Prozent. Selbst unter den über 65-Jährigen steigt die Zahl derer, die arbeiten gehen, seit Jahren kontinuierlich. Deutschland erlebt ein stilles Senioren-Wirtschaftswunder.
Ein Jahr bevor Meyer ihr Geschäft im Alter von 67 Jahren verkaufte, begann sie damit, einen Merkzettel anzulegen. Sie notierte darauf alle Ideen für die Zukunft, die absurden ebenso wie die ernsten. Sie wollte weiter ihre Erfahrungen vermitteln, das war das eine. Aber es gehörten auch Reisen dazu, im Krankenhaus Essen austeilen oder sich als Statistin für eine Fernsehserie bewerben. „Diesen Zettel“, sagt sie und lacht, „schaffe ich gar nicht mehr bis zum Lebensende.“