Das Dauerthema Demographischer Wandel scheint wie ein Damoklesschwert über Deutschland zu schweben: Die Alten werden immer älter, die Jungen wachsen nicht mehr nach, die Deutschen im mittleren Lebensalter ächzen unter Mehrfachbelastungen. Bisher setzte sich die wissenschaftliche Forschung besonders mit dem Problem auseinander, dass unsere Gesellschaft vergreist, weil sich der Anteil der älteren Menschen stetig erhöht. Denn die damit verbunden Probleme lasten schon jetzt schwer auf der Staatskasse: Rentensicherung statt Altersarmut und würdiges Altern statt Pflegekräftemangel.
Die interdisziplinäre Studie „Zukunft mit Kindern – Fertilität und gesellschaftliche Entwicklung in Deutschland, Österreich und der Schweiz“ widmet sich nun der anderen Seite des demographischen Wandels, dem fehlenden Nachwuchs. Denn die Geburtenrate ist seit Jahren auf dem niedrigen Niveau von rund 1,4 Kindern pro Frau festgefroren – 2,1 Kinder wären pro Frau nötig, um die Bevölkerungszahl stabil zu halten. Wenige Kinder heute, bedeutet wenig potentielle Eltern morgen und damit wiederum geringere Möglichkeiten auf Nachwuchs übermorgen – der Teufelskreis der Kinderlosigkeit ist in vollem Gange.
Fruchtbarkeits-Mythen
Die interdisziplinäre Studie „Zukunft mit Kindern“ der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina durchleuchtet zunächst Mythen der Kinderlosigkeit auf ihren Wahrheitsgehalt, um die politische Diskussion von unnötiger Polemik zu befreien.
Welche Arbeitszeitmodelle deutsche Unternehmen Familien anbieten
Die Teilzeit ist bei deutschen Firmen das beliebteste Arbeitszeitmodell, immerhin 79,2 % aller Unternehmen bieten sie ihren Angestellten an.
Das zweitbeliebteste Arbeitszeitmodell deutscher Unternehmen sind mit 72,8 % Individuelle Arbeitszeiten.
Die Flexible Tages- oder Wochenarbeitszeit bieten 70,2 % der deutschen Unternehmen an.
46,2 % der Firmen führen keine Arbeitszeitkontrolle durch, wenn ihre Angestellten familienbedingt kürzer treten müssen.
Nur 28,3 % der deutschen Unternehmen räumen ihren Mitarbeitern eine Flexible Jahres- oder Lebensarbeitszeit ein.
Gerade einmal 21,9 % der deutschen Unternehmen bieten ihren Mitarbeitern die Möglichkeit der Telearbeit an.
Mit 20,4 % ist das Arbeitszeitmodell des Jobsharings in Deutschland äußerst begrenzt.
Ein Sabbatical kommt nur bei 16,1 % der deutschen Unternehmen als Arbeitszeitmodell in Frage.
Die weiblichen Erwerbstätigkeit etwa, der rückwärtsgewandten Politiker oft die Schuld an der niedrigen Geburtenrate zuschieben, entkoppelt die Studie von der Anzahl der Kinder durch einen internationalen Vergleich. Denn viele entwickelte Länder wie Schweden, Frankreich oder die USA zeichnen sich durch eine relativ hohe Geburtenrate bei einem gleichzeitig hohen Anteil erwerbstätiger Frauen aus.
Auch der abschätzigen Stammtischparole, dass sich Unterschicht und Migranten dafür umso deutlicher vermehren, macht die Studie endlich den Garaus: Ein Zusammenhang zwischen Bildungsniveau und Kinderzahl ist nicht grundsätzlich gegeben, sondern hängt von den politischen Rahmenbedingungen des Landes ab. So bleiben zwar in Deutschland viele Akademikerinnen und Männer mit geringem Bildungsniveau kinderlos, in den skandinavischen Ländern jedoch ist die Anzahl der Kinder unabhängig vom Bildungshintergrund der Eltern. Wie viele Kinder Migranten in Deutschland zur Welt bringen, hängt zwar vom Herkunftsland der Einwanderer ab, liegt aber im Schnitt sehr viel niedriger als oft angenommen bei rund 1,9 Kindern pro Frau. Doch auch diese höhere Geburtenrate sinkt bei Migrantinnen zweiter Generation nahezu auf den deutschen Schnitt von 1,4 Kindern pro Frau ab.
Selbst die Hoffnung, dass die gestiegene Lebenserwartung dazu führt, dass Frauen länger schwanger werden und somit die Kinderplanung ohne Probleme nach hinten verschieben können, ist leider ein Irrtum: Die Fruchtbarkeit der Männer nimmt ab 40 Jahren allmählich, die der Frauen ab 35 Jahren rapide ab. Dagegen steigt die Wahrscheinlichkeit, dass die Schwangerschaft mit Komplikationen verbunden ist und das Kind gesundheitliche Probleme bekommt.
Warum keine Kinder?
Jenseits der entkräfteten Fruchtbarkeits-Mythen begibt sich die Studie „Zukunft mit Kindern“ auf die Suche nach den wahren Gründen des deutschen Kindermangels, um Ansatzpunkte für eine zeitgemäße Familienpolitik zu finden. Die Wissenschaftler gehen dabei nicht davon aus, dass Familienpolitik gezielt die Geburtenrate in die Höhe treiben kann. Politiker brauchen die Deutschen aber auch gar nicht zu Kindern zu überreden, sondern müssen nur familienfreundliche Rahmenbedingungen schaffen. Denn Paare würden tendenziell gerne mehr Kinder haben, als sie dann tatsächlich in die Welt setzten. Deutsche Frauen zwischen 25 und 39 Jahren wünschen sich im Schnitt etwas mehr als zwei Kinder, bekommen tatsächlich aber nur 1,4. Würde Familienpolitik nur dabei helfen, den vorhandenen Kinderwunsch wahrzumachen, hätte Deutschland schnell die stabilisierende Geburtenquote von 2,1 erreicht – die Gesellschaft würde nicht mehr schrumpfen.
Zwar hängt die Anzahl der Kinder von zahlreichen psychologischen, sozialen, wirtschaftlichen und medizinischen Faktoren ab. Als Haupthemmnis für mehr deutschen Nachwuchs nennt die Studie aber das moderne Phänomen der sogenannten „Rushhour des Lebens“. Früher waren die Lebensaufgaben noch klar auf verschiedene Lebensabschnitte und Geschlechter verteilt: auf die Ausbildung in jungen Jahren, folgte für Männer das Berufsleben, für Frauen die Familienfürsorge, danach die Rente. Heutzutage ballen sich für alle Geschlechter gleichermaßen zahlreiche Herausforderungen im zweiten Lebensdrittel: Berufseinstieg, hohe Anforderungen des Jobs bei oft instabilen Arbeitsverhältnissen, Vereinbarung individueller Lebenswege der Partner, Pflege von familiären und freundschaftlichen Beziehungen und all die Flexibilitätsansprüche der modernen Gesellschaft.
Die Gehaltsdifferenzen nach Alter
Die Verdienstunterschiede der jüngsten Gruppe ist gleich geblieben: 2006 wie auch 2010 verdienten Männer dieses Alters zwei Prozent mehr als ihre Kolleginnen.
Tendenz fallend: Verdienten Frauen dieses Alters 2006 zwölf Prozent weniger als ihre Kollegen, waren es 2010 elf Prozent.
Deutlich höher als bei jüngeren Mitarbeitern ist der Gehaltsunterschied in dieser Altersgruppe: 2006 wie auch 2010 verdienten Frauen 24 Prozent weniger als die Männer.
Ebenso hoch wie die nächst-jüngere Generation von Arbeitnehmern verdienen in dieser Altersgruppe Frauen deutlich weniger als Männer: 27 Prozent
In keiner Altersgruppe sind die Unterschiede so groß wie hier: Zwar ging der Prozentsatz leicht zurück, ist aber immer noch am höchsten. 2006 verdienten Frauen dieses Alters 30 Prozent weniger, 2010 waren es immer noch 28 Prozent - deutlich über dem Gesamtdurchschnitt.
In der Gruppe der ältesten Arbeitnehmer verdienten Frauen 2006 22 Prozent weniger als ihre Kollegen. Zwei Jahre später lag der Wert zwei Prozent niedriger bei 20 Prozent.
Dieser Mehrfachbelastung fällt schlussendlich oft die Familienplanung zum Opfer, oder der Kinderwunsch wird soweit hinausgeschoben bis er an der unveränderten Biologie der modernen Menschen scheitert. Berufseinstieg und Karriere haben sich nach hinten verschoben und damit auch die Familiengründung. Das Alter, in dem deutsche Frauen gebären, ist seit den 1970er Jahren kontinuierlich gestiegen. Auch die Prioritäten der Deutschen haben sich verändert: Sie haben lieber weniger Kinder, denen sie dann aber mehr bieten können.
Viele der momentan existierenden familienpolitischen Maßnahmen waren in der Zeit, in der sie eingeführt wurden durchaus sinnvoll, passten aber nicht mehr zu den veränderten Lebensläufen vieler Deutscher. Auf der Suche nach einem Konzept für eine moderne Familienpolitik, stellt die Studie „Zukunft mit Kindern“ das Wohlbefinden der Familien ins Zentrum. Das Zusammenspiel von drei Bereichen der Familienplanung seien entscheidend, um den Kinderwunsch zu realisieren: Zeit, Geld und Infrastruktur. Die Studie legt kein vollständiges familienpolitisches Konzept vor, sondern gibt einige Anregungen für Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, sich um integrative und flexible Familienkonzepte zu bemühen.
Politik und Unternehmen müssten für flexible Arbeits- und Lebenszeitmodelle sorgen, um die „Rushhour“ in den mittleren Jahren zu entzerren und Kinder allein zeitlich möglich zu machen: Über die Elternzeit hinaus müssten weitere Familienzeitmodelle erarbeitet werden, die die Aufteilung von Zeit für den Job und Zeit für den Nachwuchs ausbalancieren und die Familienplanung flexibilisieren. Etwa eine Arbeitszeitverlängerung nach hinten, also über das gesetzliche Rentenalter hinaus, wäre eine denkbare Möglichkeit, um die „Rushhour“ im mittleren Lebensalter zu entzerren und so Kinder manchmal überhaupt erst möglich zu machen.
Sind die Gesetze familienfreundlich?
An der Schnittstelle zwischen Zeit und Geld steht das Modell des Familienzeitkredits. Eltern könnten dabei einen langfristigen und zinsgünstigen Kredit erhalten, bei dem der Staat die Bürgschaft übernimmt. So können sie Zeit für eine familienintensive Lebensphase gewinnen. Den Kredit für die Familienzeit zahlen die Eltern dann in einer arbeitsintensiveren Phase wieder zurück.
Die finanzielle Absicherung und Entlastung für Familien ist laut Studie ein wichtiger Punkt, um die Entscheidung für Kinder positiv zu beeinflussen. Hierbei könnte eine Weiterentwicklung staatlicher Transferleistungen in eine Kindergrundsicherung helfen, um den Lebensunterhalt jedes einzelnen Kindes zu sichern. Dies könnte als bedarfsorientierte Sozialleistung am Vorbild der Arbeitslosen-Grundsicherung ausrichten oder aber als bedingungslose Zahlung für jedes Kind zur Verfügung gestellt werden. Auch eine Subventionierung der Sozialversicherungsbeiträge könnte dabei helfen die Lebensumstände mancher Eltern sicherer zu machen und damit Familienplanung zu vereinfachen.
Um potentielle Eltern ein stückweit von der aufzehrenden Mehrfachbelastungen zwischen Familie und Job zu befreien, gleichzeitig Teilhabechancen der Eltern und Kinder am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen, sei auch eine Verbesserung der Infrastruktur unabdingbar. Neben einer flächendeckenden Kinderbetreuung, müsse auch auf die Qualität geachtet werden. Die Betreuungsangebote müssen außerdem den modernen Lebens- und Arbeitsumständen der Eltern gerecht werden, etwa durch Kindertagesstätte mit langen Öffnungszeiten, Ganztagsschulen oder Familienzentren, die gleiche Förderung für alle Kinder gewährleisten. Städte und Nahräume müssten darüber hinaus familienfreundlich gestaltet werden.
Über die drei Kernbereiche Zeit, Geld und Infrastruktur hinaus, fordern die Autoren der Studien ein sogenanntes Familien-Mainstreaming: Alle neuen Gesetzesauflagen und Regulierungen müssten dabei über ihr Kernanliegen hinaus außerdem auf die Familienfreundlichkeit überprüft werden. Damit nähme Familienförderung eine zentrale Stellung in Deutschland ein und könnte die Geburtenrate wieder ein wenig anheben – auch wenn Erfolge sicher nicht kurzfristig erreicht werden können.