Der irrlichternde Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel verliert sich in Kleinkriegen

Als Wirtschaftsminister müsste der SPD-Chef der leidenschaftlichste Anwalt für den Mittelstand sein. Doch er macht lieber den Vizekanzler, erklärt TTIP für gescheitert, attackiert die Flüchtlingspolitik der Kanzlerin und liefert sich juristische Kleinkriege um die Tengelmann-Fusion.

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Sigmar Gabriel Quelle: dpa

An einem Tag Anfang August steht Sigmar Gabriel im Wald und sucht den Sozialismus. Der SPD-Chef ist zu Besuch im Naturerlebniscamp auf dem Gelände der DGB-Jugendbildungsstätte Zechlin. Er selbst sei ja als junger Mann lange bei den Falken gewesen, der parteinahen Jugendorganisation, dort habe es ganz ähnlich ausgesehen, erzählt der 56-Jährige den Gruppenleitern. „Es gibt im DGB ja auch heute noch ganz viele, die waren früher mit mir zelten.“ Plaudern, Lachen, Lagerfeuerromantik. Bis es dem Vizekanzler nach ein paar Minuten zu langweilig wird. „Jetzt haben Sie einen vor sich, über den sie vor dem Fernseher immer schimpfen“, platzt es aus ihm aus. „Also los, schimpfen Sie.“

Zwei Tage später, Peine. Besuch der Berufsbildenden Schulen. Ein Klotz, wie ihn nur die Siebzigerjahre verbrechen konnten. Gabriel sitzt im Kreis zwischen halbstarken Jugendlichen und Lehrern. „Als ich zur Schule ging, sahen dort die Klos besser aus als bei uns zu Hause. Hier dürfte es umgekehrt sein“, sagt der studierte Lehrer Gabriel. Er fordert unter Applaus ein milliardenschweres Programm zur Schulsanierung und lässt sich zur wirtschaftlichen Gesamtlage und zur Türkeipolitik befragen. Dann fällt ihm ein junger Mann auf, der nicht recht zufrieden scheint mit seinen Antworten. „Was ist?“, fragt Gabriel herüber. „Los, Junge, muck!“ Plötzlich ist Stimmung im Saal.

Gelsenkirchen, Wissenschaftspark. Die Augustsonne knallt durchs Glasdach. Gabriel beantwortet auf einer SPD-Veranstaltung Fragen von Bürgern: Rente, Flüchtlinge, Schulen. Sozi-Standard. Freundliches Quatschen. Bis jemand kritisch nach Freihandel fragt, nach den umstrittenen Abkommen Ceta und TTIP – und Gabriel plötzlich hellwach ist. „Nicht alles, was nicht Ihrer Meinung entspricht, ist Blödsinn“, blafft er. „Nur die Tatsache, dass Menschen demonstrieren, führt mich nicht dazu, dass ich aufhöre zu denken.“

Was Politiker in ihrem Urlaub treiben
Gesundheitsminister Hermann Gröhe Quelle: dpa
Außenminister Frank-Walter Steinmeier Quelle: dpa
Verkehrsminister Alexander Dobrindt Quelle: dpa
CDU-Bundesvize Julia Klöckner Quelle: dpa
Linke-Fraktionschefin Sahra Wagenknecht Quelle: dpa
Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter Quelle: dpa
Umweltministerin Barbara Hendricks Quelle: dpa

Momente eines Mannes, der erst in der Auseinandersetzung mit anderen so richtig zu sich selbst findet. Was nicht weiter bemerkenswert wäre, wenn dieser Mann nicht als Wirtschaftsminister und Vizekanzler Europas größte Volkswirtschaft steuerte. Oder zumindest steuern soll. Aber: Wohin und wie genau?

In den vergangenen Wochen und Monaten ist ein Sigmar Gabriel zu besichtigen, der weniger nach überzeugenden Antworten auf die großen ökonomischen Fragen unserer Zeit sucht, sondern eher dem politischen Kleinkrieg frönt. Freihandel, Flüchtlinge, Kartelle – Gabriel kriegt es bei jeder dieser Fragen hin, dass es nicht mehr um die Sache geht, sondern stets um Gabriel gegen den Rest der Welt. Freihandel? Auf die Frage geschrumpft, ob der SPD-Chef angesichts sinkender Zustimmungsraten zu den Abkommen TTIP und Ceta seine Partei noch im Griff hat; Flüchtlinge? Reduziert auf die Frage, ob er oder die Kanzlerin die Lage richtig einschätzen; Fusion von Edeka und Tengelmann? Nur noch ein Streit zwischen Gabriel und Düsseldorfer Richtern.

Sigmar Gabriel tourt durch Niedersachsen - gut erholt und krawallig. Das Handelsabkommen mit Kanada? Das Beste aller Zeiten. Und der Edeka-Tengelmann-Skandal? Kein Skandal. Wie Gabriel um seine Zukunft kämpft.
von Simon Book

Und das bei einem Mann, der doch eigentlich als Wirtschaftsminister für sich und seine Partei ein echtes Vermächtnis hinterlassen wollte. Zeitungen hätten ihn schon den „roten Erhard“ genannt, tönte er noch vergangenes Jahr bei der Einweihung des SPD-Wirtschaftsforums, und „ehrlich gesagt, ich kann gut damit leben“. Was von so viel Selbstbewusstsein bleibt: ein Mann, der um das politische Überleben kämpft, gegen sinkende Umfragewerte; gegen die Falle, der nächste aussichtslose SPD-Kanzlerkandidat zu sein. Es sind Wochen, die das Potenzial haben, sein ganzes politisches Lebenswerk zu prägen. Im Guten. Oder im Schlechten. Was macht dieser Druck mit ihm?

Momente der Verzweiflung

Ein Besuch in Goslar, Gabriels Heimat. Der SPD-Chef ist auf Sommertour. Kundig führt er durch die Kaiserpfalz von 1050. Frei referiert der Vizekanzler über die drei deutschen Reiche, die hier Hof hielten. Ein schöner Abend, ein toller Termin, um über Gabriels Herkunft und Prägung zu sprechen. Doch die Journalisten fragen vor allem nach seinen großen Problemen: Freihandel, Supermärkte, Energiewende. Selbst für Petra Hinz soll sich Gabriel verantworten, für eben jene SPD-Politikerin aus Essen, die in ihrem Lebenslauf geschummelt hat. Ob das nicht stellvertretend für den Zustand der gesamten Partei unter ihm stehe, will ein Reporter wissen. Der Minister schnaubt nur.

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