Gabriel hat Talent zuhauf, zweifellos. Und natürlich: Ein Politiker muss seine Positionen überdenken, wenn sich die Realität wandelt, wenn neue Fakten auf den Tisch kommen oder die Stimmung kippt.
Aber Gabriel hat zu viel: vor allem zu viel Sensibilität. Überreizung und Überreaktion sind die Folge.
Er kann wohl nicht anders. Im Willy-Brandt-Haus kennen sie schon das Ritual, das seinen Einwürfen oft vorausgeht – wenn der Chef Talkshow spielen möchte. Seine Mitarbeiter bekommen dann den Auftrag, eine kleine Runde für ihn zusammenzustellen. Mal geht es um Bildung, mal um Flüchtlinge. Gabriel will dann vier, fünf Gäste um sich, aus der Praxis, der Wissenschaft, aus Kunst und Kultur, Politiker eher selten. Es ist eine Fortbildung im Schnellverfahren. „Er saugt förmlich die Energie aus den Kontrasten und Kontroversen, die sich auftun“, sagt einer, der ihn sehr regelmäßig berät.
Gabriel hat sich im Ministerium und in der Parteizentrale mit sehr vielen klugen, cleveren Männern umgeben, die ihrem Chef permanent neues, manchmal vollkommen gegenläufiges Denkfutter kredenzen. Das Einzige, was man ihm vorwerfen kann, ist, dass seine Berater vielleicht zu klug und clever sind – und ausschließlich männlich. „Er bräuchte“, so sagt es ein Vertrauter, „einen Berater für all seine Berater.“ Vielleicht auch jemanden, der ihm häufiger sagen würde, dass es besser wäre, einen Gang zurückzuschalten.
Die SPD-Führung
Seit 2009 Parteichef, macht die SPD in regelmäßigen Abständen mit Alleingängen nervös. War im Sommer in der Krise, bekam beim Ja zur Vorratsdatenspeicherung reichlich Gegenwind. Punktete in der Flüchtlingskrise aber wieder. Hat Anspruch auf Kanzlerkandidatur 2017 angemeldet. Bei seiner Rede gab er sich staatsmännisch und warb für einen Kurs der Mitte. Die Linke goutierte das nicht. Die herbe Quittung: Nur 74,3 Prozent nach 83,6 Prozent vor zwei Jahren.
Landesmutter in Nordrhein-Westfalen, lange als Gabriel-Konkurrentin gehandelt, will von Bundespolitik aber nichts mehr wissen. Konzentriert sich voll auf die Landtagswahl 2017 an Rhein und Ruhr. In der Flüchtlingskrise wieder präsenter. Parteivize seit 2009, bei der letzten Parteitagswahl vor zwei Jahren 85,6 Prozent. Am Freitag fehlte sie wegen Fieber und Schüttelfrost. Geschadet hat es nicht: Sie kam auf 91,4 Prozent Zustimmung.
Seit 2011 SPD-Vize (Wahl 2013: 79,9 Prozent). Die Flüchtlingskrise wäre für die Migrationsbeauftragte der Bundesregierung eigentlich die große Zeit, um Akzente zu setzen. Sie blieb bislang aber eher blass - auch als Parteivize. Geht mit ihrer zurückhaltenden Art im SPD-Gefüge etwas unter. Als einzige Migrantin unter den Vizes hat die Tochter türkischer Kaufleute in diesen Zeiten dennoch einen festen Platz. Der Lohn: 83,6 Prozent.
Landes- und Fraktionschef der hessischen SPD, wird oft unterschätzt, müht sich um bundespolitisches Profil. „TSG“ kümmert sich auch um die internationalen SPD-Kontakte. Der Mann mit den dicken Brillengläsern - in der Jugend drohte er zu erblinden - ist glühender Bayern-Fan, trat aus Protest gegen die Hoeneß-Steueraffäre aber beim Rekordmeister aus. Bekam 2013 als Vize 88,9 Prozent. Schaffte das Resultat diesmal fast: 88,0 Prozent.
Wird als kluger Verhandler in der SPD geschätzt, wie bei den Bund-Länder-Finanzen. Für den Fall, dass Gabriel irgendwann nicht mehr will oder darf, fällt stets auch sein Name. Hat bei den Delegierten aber oft einen eher schweren Stand. Vor zwei Jahren bekam er als Vize nur 67,3 Prozent. Das Nein seiner Hamburger zur Olympia-Bewerbung der Hansestadt war für Scholz ein Dämpfer. Der Parteitag leistete etwas Aufbauarbeit: 80,2 Prozent.
Seit 2009 Parteivize (Wahl 2013: 80,1 Prozent). Die Bundesfamilienministerin hat sich in der SPD einen guten Stand erarbeitet - gerade mit ihrem Thema Frauen und Familie. Früher intern mitunter belächelt, gilt sie heute als wichtige Figur im Parteiengefüge, mit Aussicht auf höhere Aufgaben. Mit SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann soll sie das Wahlprogramm für 2017 erarbeiten. Erwartet derzeit ihr zweites Kind. Die Delegierten bescherten ihr mit 92,2 Prozent das beste Ergebnis aller Vizes.
Allzweckwaffe vom linken Flügel, SPD-Erklärbär auf allen Kanälen. Träumt seit Jahren davon, Generalsekretär zu werden - darf aber nicht, weil es nach dem Fahimi-Rückzug wieder eine Frau sein sollte. Der Kieler Landeschef erhielt 2013 bei seiner Wahl zum Vize 78,3 Prozent. Auch er kann sein Niveau in etwa halten: 77,3 Prozent.
Von Gabriel als Generalsekretärin ausgeguckt. Bislang in der Bundespolitik kaum in Erscheinung getreten. Sitzt seit 2013 im Bundestag, muss nun den nächsten Wahlkampf vorbereiten. Machte vor der Politik Karriere als Juristin. Kein Wadenbeißer-Typ, eher ruhig, zurückhaltend. Muss sich in der SPD erst noch einen Namen machen. Der Parteitag gibt ihr mit 93 Prozent eine großen Vertrauensvorschuss. Fast 20 Punkte mehr als ihr künftiger Chef Gabriel.
So aber pöbelt Gabriel nach dem richterlichen Stopp der Ministererlaubnis im Fall Kaiser’s-Tengelmann: „Das Urteil enthält eine ganze Reihe falscher Tatsachenbehauptungen.“ Unrichtige Termine, unvollständige Gesprächszusammensetzungen. „Das Gericht hat entweder einen falschen Eindruck oder ist falsch informiert“. Kein nüchternes Statement – ein Angriff. Und eine fragwürdige Behauptung, wie sich inzwischen herausgestellt hat. Doch Gabriel ist im Rausch: Er als Kämpfer für 16 000 Jobs, als Freund der Gewerkschaften. So sieht er sich gerne. „Sigmar Gabriel hat da ganz klar als SPD-Chef gehandelt, nicht als Wirtschaftsminister“, sagt dazu Kerstin Andreae, Vize-Fraktionschefin der Grünen. Ihr Schluss: „Gabriel hat die Ministererlaubnis missbraucht.“
Oft wurde Gabriel seine erratische Natur als Sprunghaftigkeit ausgelegt. Doch das trifft es nicht. Sprunghaft ist nur jemand, der unzuverlässig ist. Gabriel nicht. „Gabriel traut sich was. Der ist nicht so ein Bangebüx wie all die Wirtschaftsminister vor ihm“, sagt Henning Scherf. „Sigmar ist ein Political Animal. Er hat eine schnelle Auffassungsgabe, ein untrügliches politisches Gespür“, meint der frühere Grünen-Vormann und Gabriel-Wegbegleiter Jürgen Trittin. „Aber seine Ungeduld verführt ihn oft, sich nur auf dieses Bauchgefühl zu verlassen. Das konnte er in den Jahren als Umweltminister zügeln. Seitdem fällt es ihm wieder sichtlich schwerer.“
Am schönsten aber erklärt es Karl-Heinz Funke, der ehemalige Bundeslandwirtschaftsminister: „Mit Sigmar ist es wie mit den Pferden: Die Oldenburger Pferde ziehen den Wagen, auch wenn es schwer ist. Das Hannoveraner Pferd ist etwas spritziger. Jedes gute Pferd schlägt mal über die Stränge. Aber ein Hannoveraner öfter als ein Oldenburger.“ Funke muss es wissen, er hat einen Pferdehof kurz vor der Nordsee. 50 Jahre lang war Funke in der SPD. Und lernte so Anfang der Neunzigerjahre auch Gabriel kennen – das Hannoveraner-Pferd: „Sigmar ist oft dabei, ohne vorher mal zu fragen: Wie machen wir das eigentlich?“
Wenn Funke über Gabriel spricht, dann ist da eine ganze Menge Bewunderung für jemanden, der Menschen für sich gewinnen kann, der rackert, der dabei aber immer wieder an seiner Partei scheitert. „Sigmar hätte beweisen können, dass die SPD Wirtschaftskompetenz hat. Aber das hat in den drei vergangenen Jahren nicht geklappt“, sagt Funke. Es sei ein Fehler von Gabriel gewesen, den wirtschaftsfreundlichen Kurs zu verlassen. Aber die Partei habe ihm das aufgezwungen. „Sie müssen ein gutes Pferd laufen lassen, auch wenn es ein Hannoveraner ist. Sie machen das Pferd kaputt, wenn sie die Zügel zu eng halten.“