Deutschland, deine Wutbürger Wachstum auf Pump schafft sozialen Unfrieden

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Versagen der politischen Eliten

Diesen Zorn wird auch die Moralisierung des Einwanderungsdiskurses auf Dauer nicht besänftigen können. Denn sie kann über die Tatsache nicht hinwegtäuschen, dass nur ein Teil der Einheimischen von weiterer Einwanderung positive Wirkungen erhoffen kann. Nämlich diejenigen, die von weiterem Wachstum profitieren. Wer nicht profitiert, hat auch von weiterer Zuwanderung eher ökonomische Nachteile zu erwarten. Kein Arbeitnehmer hat ein Interesse daran, dass das Angebot an Arbeitskräften auf dem Arbeitsmarkt steigt. Der Arbeitgeber aber sehr wohl.

Die Zuspitzung der politischen Gegensätze im gesamten Westen kann man also als Reaktion auf eine existentielle Krise des wirtschaftspolitischen Modells der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts begreifen. Manche Beobachter, wie etwa der Soziologe Wolfgang Streeck, sprechen gar vom bevorstehenden Ende des Kapitalismus.

Die größten Ökonomen
Adam Smith, Karl Marx, John Maynard Keynes und Milton Friedman: Die größten Wirtschafts-Denker der Neuzeit im Überblick.
Gustav Stolper war Gründer und Herausgeber der Zeitschrift "Der deutsche Volkswirt", dem publizistischen Vorläufer der WirtschaftsWoche. Er schrieb gege die große Depression, kurzsichtige Wirtschaftspolitik, den Versailler Vertrag, gegen die Unheil bringende Sparpolitik des Reichskanzlers Brüning und die Inflationspolitik des John Maynard Keynes, vor allem aber gegen die Nationalsozialisten. Quelle: Bundesarchiv, Bild 146-2006-0113 / CC-BY-SA
Der österreichische Ökonom Ludwig von Mises hat in seinen Arbeiten zur Geld- und Konjunkturtheorie bereits in den Zwanzigerjahren gezeigt, wie eine übermäßige Geld- und Kreditexpansion eine mit Fehlinvestitionen verbundene Blase auslöst, deren Platzen in einen Teufelskreislauf führt. Mises wies nach, dass Änderungen des Geldumlaufs nicht nur – wie die Klassiker behaupteten – die Preise, sondern auch die Umlaufgeschwindigkeit sowie das reale Produktionsvolumen beeinflussen. Zudem reagieren die Preise nicht synchron, sondern in unterschiedlichem Tempo und Ausmaß auf Änderungen der Geldmenge. Das verschiebt die Preisrelationen, beeinträchtigt die Signalfunktion der Preise und führt zu Fehlallokationen. Quelle: Mises Institute, Auburn, Alabama, USA
Gary Becker hat die mikroökonomische Theorie revolutioniert, indem er ihre Grenzen niederriss. In seinen Arbeiten schafft er einen unkonventionellen Brückenschlag zwischen Ökonomie, Psychologie und Soziologie und gilt als einer der wichtigsten Vertreter der „Rational-Choice-Theorie“. Entgegen dem aktuellen volkswirtschaftlichen Mainstream, der den Homo oeconomicus für tot erklärt, glaubt Becker unverdrossen an die Rationalität des Menschen. Seine Grundthese gleicht der von Adam Smith, dem Urvater der Nationalökonomie: Jeder Mensch strebt danach, seinen individuellen Nutzen zu maximieren. Dazu wägt er – oft unbewusst – in jeder Lebens- und Entscheidungssituation ab, welche Alternativen es gibt und welche Nutzen und Kosten diese verursachen. Für Becker gilt dies nicht nur bei wirtschaftlichen Fragen wie einem Jobwechsel oder Hauskauf, sondern gerade auch im zwischenmenschlichen Bereich – Heirat, Scheidung, Ausbildung, Kinderzahl – sowie bei sozialen und gesellschaftlichen Phänomenen wie Diskriminierung, Drogensucht oder Kriminalität. Quelle: dpa
Jeder Student der Volkswirtschaft kommt an Robert Mundell nicht vorbei: Der 79-jährige gehört zu den bedeutendsten Makroökonomen des vergangenen Jahrhunderts. Der Kanadier entwickelte zahlreiche Standardmodelle – unter anderem die Theorie der optimalen Währungsräume -, entwarf für die USA das Wirtschaftsmodell der Reaganomics und gilt als Vordenker der europäischen Währungsunion. 1999 bekam für seine Grundlagenforschung zu Wechselkurssystemen den Nobelpreis. Der exzentrische Ökonom lebt heute in einem abgelegenen Schloss in Italien. Quelle: dpa
Der Ökonom, Historiker und Soziologe Werner Sombart (1863-1941) stand in der Tradition der Historischen Schule (Gustav Schmoller, Karl Bücher) und stellte geschichtliche Erfahrungen, kollektive Bewusstheiten und institutionelle Konstellationen, die den Handlungsspielraum des Menschen bedingen in den Mittelpunkt seiner Überlegungen. In seinen Schriften versuchte er zu erklären, wie das kapitalistische System  entstanden ist. Mit seinen Gedanken eckte er durchaus an: Seine Verehrung und gleichzeitige Verachtung für Marx, seine widersprüchliche Haltung zum Judentum. Eine seiner großen Stärken war seine erzählerische Kraft. Quelle: dpa
Amartya Sen Quelle: dpa

Das kann man für einen Unkenruf halten. Einige langfristige Trends in den hochentwickelten, kapitalistischen Ländern sind aber kaum zu leugnen. Vor allem: der anhaltende Rückgang der Wachstumsraten, verschärft seit 2008. Verbunden damit ist die extreme Zunahme der Verschuldung, sowohl der Staaten als auch der Privathaushalte und Unternehmen. Verbunden damit ist aber vor allem auch die Zunahme der ökonomischen Ungleichheit in diesen Gesellschaften.

Die Linken haben versagt

Für zusätzlichen Zunder im sich ohnehin aufheizenden sozialen Konfliktherd sorgt das Versagen der Linken, die Interessen der zu kurz gekommenen Einheimischen glaubwürdig zu vertreten. Diese Leute, die früher links wählten, laufen heute in fast allen westlichen Ländern als Protestwähler zu den Rechtspopulisten, weil ihnen der fortgesetzte Internationalismus und die Einwanderungsbegeisterung der Linken suspekt sind.

Die Unfähigkeit der politischen Eliten, den durch die fortgesetzte Einwanderung verunsicherten Bürgern mehr als moralische Imperative anzubieten, macht wenig Hoffnung darauf, dass sich die Radikalisierung der Gegensätze in absehbarer Zeit entschärfen könnte. Der Unwille, die entscheidenden Fragen der Gegenwart – nicht zuletzt auch die nach den Grenzen des Wirtschaftswachstums – auch nur offen zu stellen, geschweige denn zukunftsorientierte Lösungen zu suchen, befeuert die Verunsicherung noch.

Die Nutznießer dieses Elitenversagens sind die neuen Bewegungen und Parteien, die den Verunsicherten ein Ventil für ihren Frust bieten. Doch dass diese das Bedürfnis nach neuer Sicherheit befriedigen können, ist mehr als fraglich. Eher im Gegenteil. Ihr Erfolgsmodell ist der Protest, das Anheizen der Stimmung, nicht die Schaffung von Stabilität. Und die Frage nach den Grenzen des Wachstums stellen sie überhaupt nicht.

Bis auf weiteres muss man eher mit zunehmender Unordnung und Unsicherheit als mit der baldigen Rückkehr der sozialen Harmonie des goldenen Wachstumszeitalters der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts rechnen.

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