Diesen Zorn wird auch die Moralisierung des Einwanderungsdiskurses auf Dauer nicht besänftigen können. Denn sie kann über die Tatsache nicht hinwegtäuschen, dass nur ein Teil der Einheimischen von weiterer Einwanderung positive Wirkungen erhoffen kann. Nämlich diejenigen, die von weiterem Wachstum profitieren. Wer nicht profitiert, hat auch von weiterer Zuwanderung eher ökonomische Nachteile zu erwarten. Kein Arbeitnehmer hat ein Interesse daran, dass das Angebot an Arbeitskräften auf dem Arbeitsmarkt steigt. Der Arbeitgeber aber sehr wohl.
Die Zuspitzung der politischen Gegensätze im gesamten Westen kann man also als Reaktion auf eine existentielle Krise des wirtschaftspolitischen Modells der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts begreifen. Manche Beobachter, wie etwa der Soziologe Wolfgang Streeck, sprechen gar vom bevorstehenden Ende des Kapitalismus.
Das kann man für einen Unkenruf halten. Einige langfristige Trends in den hochentwickelten, kapitalistischen Ländern sind aber kaum zu leugnen. Vor allem: der anhaltende Rückgang der Wachstumsraten, verschärft seit 2008. Verbunden damit ist die extreme Zunahme der Verschuldung, sowohl der Staaten als auch der Privathaushalte und Unternehmen. Verbunden damit ist aber vor allem auch die Zunahme der ökonomischen Ungleichheit in diesen Gesellschaften.
Die Linken haben versagt
Für zusätzlichen Zunder im sich ohnehin aufheizenden sozialen Konfliktherd sorgt das Versagen der Linken, die Interessen der zu kurz gekommenen Einheimischen glaubwürdig zu vertreten. Diese Leute, die früher links wählten, laufen heute in fast allen westlichen Ländern als Protestwähler zu den Rechtspopulisten, weil ihnen der fortgesetzte Internationalismus und die Einwanderungsbegeisterung der Linken suspekt sind.
Die Unfähigkeit der politischen Eliten, den durch die fortgesetzte Einwanderung verunsicherten Bürgern mehr als moralische Imperative anzubieten, macht wenig Hoffnung darauf, dass sich die Radikalisierung der Gegensätze in absehbarer Zeit entschärfen könnte. Der Unwille, die entscheidenden Fragen der Gegenwart – nicht zuletzt auch die nach den Grenzen des Wirtschaftswachstums – auch nur offen zu stellen, geschweige denn zukunftsorientierte Lösungen zu suchen, befeuert die Verunsicherung noch.
Die Nutznießer dieses Elitenversagens sind die neuen Bewegungen und Parteien, die den Verunsicherten ein Ventil für ihren Frust bieten. Doch dass diese das Bedürfnis nach neuer Sicherheit befriedigen können, ist mehr als fraglich. Eher im Gegenteil. Ihr Erfolgsmodell ist der Protest, das Anheizen der Stimmung, nicht die Schaffung von Stabilität. Und die Frage nach den Grenzen des Wachstums stellen sie überhaupt nicht.
Bis auf weiteres muss man eher mit zunehmender Unordnung und Unsicherheit als mit der baldigen Rückkehr der sozialen Harmonie des goldenen Wachstumszeitalters der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts rechnen.