Am Sonntag war es mal wieder soweit: ein neues Rekordergebnis für die Freie Demokratische Partei. Annähernd 10 Prozent in Niedersachsen nach über 8 Prozent in NRW und Schleswig-Holstein im vergangenen Jahr. Solche Erfolge der Partei auf Landesebene sind rar gesät. Jetzt kann die Bundestagswahl kommen, oder?
Oder nicht! Selten schien die Diskrepanz zwischen den Wahlerfolgen und der inhaltliche Stärke einer Partei größer zu sein. Der grüne Fraktionsvorsitzende im niedersächsischen Landtag, Stefan Wenzel, sprach am Wahlabend vom kompetenzfreien aufgeblasenen Luftballon FDP. Hat er recht damit?
Wenn man sich die Politik der vergangenen Jahre ansieht, so stellt man fest, dass der staatliche Eifer, Regeln nicht ernst zu nehmen, die Menschen zu bevormunden und in die Märkte einzugreifen, gegenwärtig rekordverdächtig ist. Leider findet dieser Eifer weitgehend statt, obwohl die sogenannten Liberalen in der Regierungsverantwortung sind. Allzu viel Widerstand kann man auch nicht feststellen. Also ganz das Gegenteil einer freiheitlichen Politik, wie einige Beispiele zeigen.
Abschaffung der Wehrpflicht. Wo war die FDP, als die Wehrpflicht in Deutschland quasi über Nacht aufgegeben wurde? Man kann die Wehrpflicht als einen Grundbestandteil einer freiheitlich verfassten Gesellschaft verstehen. Aus den Bürgern in Uniform wird nun eine Berufsarmee, die vor allem mit materiellen Anreizen rekrutiert wird. Es ist zumindest eine ausführliche Diskussion unter Federführung von Liberalen wert, die gesellschaftliche Ordnung so gravierend zu ändern. Die FDP hat sich nicht geäußert.
Bewältigung der Eurokrise. Wo war die FDP, als das europäische Regelwerk in einer christlich-liberalen Koalition umfassend gebeugt, wenn nicht gebrochen wurde? Es gehört zu einer freiheitlich-demokratischen Ordnung, dass die regierenden Eliten die Regeln ernst nehmen. Im Zuge der europäischen Staatsschuldenkrise haben die Finanzminister der Eurozone die no-bail-out-Klausel für obsolet erklärt und damit einen Dammbruch provoziert: Haftung für eigenes Handeln ist nicht länger leitend, statt dessen werden Gewinne privatisiert und Verluste sozialisiert; die Folgen sind noch nicht absehbar. Eine liberale Partei hätte hier massiv intervenieren und die Diskussion in die Hand nehmen müssen. Selbst der Gang in die Opposition hätte dabei kein Hinderungsgrund sein dürfen. Das Argument, "ohne uns wäre alles noch viel schlimmer gekommen" zieht nicht, denn es kann kaum schlimmer kommen.
Das Gegenteil einer liberalen Politik
Energiewende. Wo ist die FDP, wenn es gilt, den Subventionswahnsinn endlich zu beenden? Es steht dabei außer Frage, dass Mittel und Wege gefunden werden müssen, die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen zu reduzieren. Die gegenwärtige Politik ist allerdings nicht zielführend, weil sie erstens das Allokationsproblem (wie kommt der Strom von der Nordsee nach Stuttgart?) nicht löst und zweitens höchst ungerecht ist, denn es findet eine Umverteilung von Stromkunden zu Hausbesitzern statt. Das kann nicht mit liberalem Grundverständnis vereinbar sein.
Finanzausgleich. Warum werden die Argumente, die gegen einen anreizinkompatiblen Finanzausgleich sprechen, nicht von der FDP thematisiert? Es steht seit langem fest, dass der Finanzausgleich, wie er bei uns praktiziert wird, die möglichen Einspar- und Effizienzpotentiale öffentlicher Ausgaben verkleinert. Es ist ja keineswegs ausgemacht, dass man mit weniger Geld auch weniger erreichen kann. Ganz im Gegenteil, der Zwang, sich sorgfältig mit den Mitteln auseinanderzusetzen, kann sehr wohl zu besseren Lösungen führen. Die Debatte verkommt zu einer reinen Verteilungsdebatte (die Zahler gegen die Empfänger). Hier könnten die Liberalen innovative Ideen entwickeln.
Verhaltensmaßregeln aus Brüssel. Wo bleibt die liberale Stimme in der Politik angesichts der zunehmenden Regulierungswut aus der Europäischen Kommission? Vom Rauchverbot über die Glühbirne bis hin zum Gender Mainstreaming: Die Kommission greift mit einheitlichen Vorschriften in das Leben aller ein. Man könnte die dahinterstehenden Probleme auch anders lösen; wiederum wird nicht bestritten, dass es Lösungen bedarf. Allerdings sehen liberale Vorschläge anders aus; sie setzen auf Wettbewerb um die besten Ideen und auf Selbstverantwortung. Aus der FDP ist nichts zu hören.
Sozialpolitik. Wo bleibt eine liberale Vorstellung von Sozialpolitik? Dabei kann es nicht um mehr oder weniger Sozialpolitik, sondern um treffsichere und zielführende Politiken gehen. Die Fragen, die sich liberale Sozialpolitiker stellen müssen, beziehen sich darauf, wie die wahrhaft Bedürftigen erreicht werden können und wie diese wieder in die Gesellschaft integriert werden können; Teilhabe ist hier das Stichwort. Auch Bildungs- und Einwanderungsthemen gehören dazu. Man vermisst eine breite Debatte mit zielführenden, gerne auch kontroversen Beiträgen aus der FDP.
Liberalismus ist mehr als wirtschaftliche Freiheit
Medienpolitik. Wie kann eine liberale Partei es zulassen, dass sich das Staatsfernsehen so ungeniert in die Medienlandschaft drängt und mit den Zwangsabgaben immer mehr Programme und Dienste anbietet, die ohne weiteres auf kaufkräftige Nachfrage stießen und somit von privaten Akteuren angeboten werden könnten? Es handelt sich in gewisser Weise um einen Angriff auf die Pressefreiheit, ein zutiefst liberales Anliegen. Warum reagiert diese Partei außerdem nicht auf die zahlreichen Korruptionsskandale im öffentlich-rechtlichen Rundfunk?
Anstatt bei diesen Fragen aktiv mit zumischen und liberale Positionen, die ja doch von vielen geteilt werden, hochzuhalten, vermittelt die Parteispitze den Eindruck, dass Liberalismus sich auf Steuersenkungen und Deregulierung (allerdings nicht auf den Märkten, auf denen die Kernklientel der Partei unterwegs ist: Handwerk und freie Berufe) beschränkt. Dabei gibt es auch gute Nachrichte. Neben dem inhaltlichen Problem besteht allerdings auch ein Vermittlungsproblem. Nicht einmal in den Feldern, in denen liberale Politiker sehr gute Arbeit leisten (namentlich in der Entwicklungszusammenarbeit und der Gesundheitspolitik), wird die Partei als erfolgreich erkannt. Man muss einschränkend sagen, dass in der Basis und in der parteinahen Naumann-Stiftung diese Defizite wahrgenommen und die Themen aufgegriffen werden.
Liberalismus ist viel mehr als wirtschaftliche Freiheit. Er umfasst Bürgerrechte, Eigenverantwortung, Pressefreiheit, Grenzen und der staatlichen Aktivität, Grenzen privater Aktivität wie Monopole, aber natürlich auch Gewerbefreiheit, offene Märkte und Wettbewerb. Es gab Zeiten, da öffentlich wirksame Persönlichkeiten in der FDP das gesamte Spektrum abbildeten. Im Augenblick verkümmert die Vielfalt, die Spitzenpolitiker der Partei vermitteln nicht den Eindruck, ernsthafte Liberale zu sein. Die FDP bzw. das, was man von ihr wahrnimmt, hat mit Liberalismus im Moment wenig gemein.
Nur wenn eine ernsthafte Beschäftigung mit dem Liberalismus auch in der Parteispitze stattfindet, kann Wenzels Diktum vom kompetenzfreien Ballon glaubhaft widerlegt werden. Deshalb kann der Ausweg nur sein, nicht nur auf kurzfristige Wahlerfolge und Machtbeteiligung zu setzen, sondern vor allem eine langfristig wirkende inhaltliche Kampagne, die die Glaubwürdigkeit wiederherstellt, zu starten. Man muss auch mal nein sagen können, z.B. bei illegalen Rettungspaketen oder Einschränkungen der Bürgerrechte; das Argument, ohne eigene Beteiligung werde alles nur viel schlimmer, ist schlichtweg falsch und überflüssig. Die Freiheit ist zu kostbar, um sie so lieblos zu behandeln.