Die Zukunft des Liberalismus

Sechs Thesen zum Tod der FDP - und zur Rettung des Liberalismus 

Die Freiheit, die die FDP meint, ist voller Lüge und Selbstbetrug. Sie schändet das Erbe des Liberalismus, statt es behutsam der Moderne anzupassen. Viel Zeit bleibt Parteichef Christian Lindner nicht mehr.

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Christian Lindner Quelle: Laif

Es sind mal wieder keine guten Wochen für den organisierten Liberalismus in Deutschland. Die FDP flog am vergangenen Sonntag in Sachsen aus dem Parlament. Sie ist an keiner Regierung mehr beteiligt, stellt keine Bundes- und Landesminister mehr. Sie ist nicht im Bundestag vertreten, nicht in den Landtagen von Bayern und Rheinland-Pfalz, und natürlich droht sie auch nächste Woche in Thüringen und Brandenburg von der parlamentarischen Bildfläche zu verschwinden.

Entsprechend abgemeldet ist die FDP in den Medien. Oppositionelle Stimmen werden nur noch bei Gregor Gysi (Linke) und Bernd Lucke (AfD) abgefischt, auf deren Vorurteile und Ressentiments so tagesschau-täglich Verlass ist wie auf die beruhigende Unentschiedenheit von Bundeskanzlerin Angela Merkel.

Kein Mensch weiß mehr, wie ein Liberaler zur Ukraine und zu Putin steht, zu Waffenlieferungen in den Irak, zur EZB-Politik oder zum Mindestlohn. Oder besser gesagt: Kein Mensch will es mehr wissen. 

Allein die Liberalen selbst sind noch mit sich beschäftigt - so sehr sogar, dass sie vor lauter Innenrummelei den Koller kriegen und sich gegenseitig verwünschen. Der FDP-Landesvorsitzende Holger Zastrow hat in Sachsen offen Wahlkampf gegen Parteichef Christian Lindner geführt, sich an die CDU gekettet statt so "unabhängig wie nie zuvor" (Lindner) zu agieren.

Zastrow zählt zu den Liberalen, die immer noch mit breiter Brust gegen den "linksgrünen Zeitgeist" der "Sozialisten" zu Felde ziehen, während Lindner seiner Partei Selbstkritik und Demut gegenüber dem Wählerwillen verordnet hat und noch dazu an einer (manche würden sagen: allzu) gründlichen Neuvermessung des Liberalismus interessiert ist. Das Problem: Lindner scheint diese Neuvermessung weder moderieren noch in ein integrativen Ergebnis münden lassen zu können.

Stattdessen streben die Flügel der Partei, Wahlniederlage für Wahlniederlage, immer weiter auseinander. Es gibt eine kleine, aber ziemlich laute Gruppe von Libertären, die das Verbot von Flat-Rate-Sex für einen Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht der Hure und die Möglichkeit des Zigarettenkonsums in Russlands Gaststätten für einen Ausdruck von Vladimir Putins Freiheitswillen halten.

Es gibt die Besitz- und Wirtschaftsliberalen aus der Guido-Westerwelle-Schule, die Lindner routinemäßig der Säuselei bezichtigen. Es gibt die Jungliberalen, die den Wettbewerb mit den Grünen auf dem Feld der Bürger- und Minderheitenrechte suchen, um die digitale Generation der Zukunft zu gewinnen. 

Und es gibt die Sozialliberalen, die am Image der FDP als Klientelpartei der (Erfolg-)Reichen leiden und der Partei mehr "soziale Kompetenz und Empathie" verordnen wollen. Eine von ihnen, die Hamburger Landeschefin und ehemalige Bundestagsabgeordnete Sylvia Canel, ist am vergangenen Montag aus der FDP ausgetreten, um mit 35 gleichgesinnten Hanseaten eine neue liberale Partei zu gründen. 

Der phänomenale Aufstieg der AfD
AfD Bundesparteitag in Erfurt Quelle: dpa
AfD im Europaparlament Quelle: dpa
AfD Zeiungsabonnements Quelle: dpa
Bernd Lucke Europaparlament Quelle: dpa
AfD Bernd Lucke Europaparlament Quelle: dpa
DMark
Frauke Petry Quelle: dpa

Wenn aber die FDP tatsächlich am Ende ist - personell ausgehöhlt, medial verachtet, institutionell marginalisiert und programmatisch zersplittert -, was wird dann aus der schönen Tradition des Liberalismus? Hat der Liberalismus, das Ideal der individuellen Freiheit, in Deutschland noch eine Zukunft? Und wenn ja: welche? Eine Antwort in sechs Thesen: 

1. Der Liberalismus steckt immer in der Krise

Stellen wir uns einen Marktplatz vor, auf dem drei Händler - der Konservative, der Sozialdemokrat und der Liberale - um Aufmerksamkeit wetteifern. Was sehen wir?

Wir sehen, wie der Konservative mit politischem Gemüse handelt, der Sozialdemokrat politisches Obst feilbietet - und der Liberale das große Nichts anpreist. Er verfügt über kein Sortiment, keine Auswahl, keine Waren, weist nur auf die gähnende Leere vor sich hin und ruft: "Euren Hunger müsst ihr schon selber stillen." Kein Wunder also, dass die meisten Kunden sich vom Liberalismus abwenden.

Im Unterschied zu den beiden anderen traditionellen politischen Stilrichtungen hat der Liberalismus den Menschen nichts Bejahbares anzubieten, keine Projektionsfläche, keine Identität. Die Konservativen schöpfen aus dem reichen Reservoir der (nationalen) Kultur und Geschichte. Sie bauen auf Bewährtes und hüten die Tradition. Sie achten auf Erfahrung, hegen überlieferte Ordnungen und vertrauen auf die zivilisierenden Kraft gewachsener Institutionen.

Die Sozialdemokraten wiederum haben immer die Zukunft, den Fortschritt und das große Ganze im Blick, die Gesellschaft, den Staat und den Weltfrieden. Sie erheben Utopia zum Menschheitsziel und dienen sich uns als Navigatoren auf dem Weg dorthin an, immer unterwegs für uns und die gute Sache, angetrieben von der erneuerbarsten aller politischer Energien, der "Sozialen Gerechtigkeit". 

Allein der Liberalismus, der lässt uns im Stich. Der hält uns hinein in die Welt, wie sie ist und wir sie vorfinden - und gibt uns einen Stups. Der erteilt uns keine Ratschläge und weist uns keine Richtung, der gibt uns keinen Wink, kennt weder Herkunft, Weg noch Ziel. Der Liberalismus ist eine einzige Zumutung. Er zwingt uns die Freiheit auf, irgendwas aus ihr zu machen. Sie zu nutzen oder nicht. Als politisches Angebot - kalt, leer und anspruchsvoll zugleich - steckt er daher immer in der Krise.

2. Freiheit ist unteilbar

Von Wirtschafts-Nobelpreisträger Milton Friedman stammt ein Satz, der den Wirtschaftsliberalismus alter Schule und die Idee des freien Unternehmertums quintessenziell zusammenfasst: „The business of business is business.“ Der Unternehmer hat sein Unternehmen zu führen, so Friedman, und wenn er das erfolgreich tut, dann füllt er damit nicht nur sein Portemonnaie. Sondern er füllt damit auch die Konten seiner Mitarbeiter (Löhne) und Mit-Eigentümer (mit der Steigerung des Profits); füllt mit seinen Produkten die Regale (zum Wohle der Kunden) - und erfüllt eben damit seine gesellschaftliche Aufgabe. 

Wie man weiß, wird gegen diesen Satz heute allseits Einspruch erhoben. Bundespräsident Joachim Gauck etwa ist der Auffassung, dass "freies Unternehmertum Grenzen" brauche. Und von Papst Franziskus ist bekannt, dass er sogar die "unsichtbare Tyrannei der Ökonomie" beklagt. So weit muss man nicht gehen. 

Daran freilich, dass das Geschäft des Geschäfts nichts anderes als das Geschäft zu sein habe, kann nach der staatlich lizenzierten Oligarchisierung des Geldes an den Finanzmärkten, nach der ungeheuren Konzentration von Macht und Vermögen in der Hand von globalen (Daten-)Konzernen sowie nach dem Aufstieg von autoritären Staatskapitalismen in China und Russland niemand mehr ernsthaft glauben - es sei denn, er zählt sich zu jenen Bastardliberalen, die zugleich davon überzeugt sind, der Eigennutz eines Hochgeschwindigkeitshändlers nähre ganz im Sinne von Adam Smith das Gemeinwohl.

Was wurde aus der Idee der Freiheit?

Was also ist schief gelaufen mit der Idee der wirtschaftlichen Freiheit? Warum stimmt die salvierende Formel vom demokratischen Wandel nicht mehr, der dem Handel auf dem Fuße folgt?

Nun, eine Antwort darauf wüsste ausgerechnet Milton Friedman. Er hat 1976 kein Problem darin gesehen, der chilenischen Militärjunta „technischen wirtschaftlichen Rat zu geben“ – und damit nicht nur die materielle Not vieler Chilenen gelindert, sondern auch die Idee der unteilbaren Freiheit verraten.

Seither sind wirtschaftliche und politische Freiheit keine zweieiigen Zwillinge mehr. Seither neigen „Liberale“ dazu, „der Wirtschaft“ Vorfahrt vor „der Politik“ zu gewähren.

Echte Liberale wie Ralf Dahrendorf oder Karl-Hermann Flach hätten sich für solche Vereinseitigungen der Freiheitsidee geschämt. Ihr Liberalismus meinte den „Freiheitsdrang der Menschen“. Und ihr Wirtschaftsliberalismus meinte leistungsfördernden Wettbewerb innerhalb eines staatlichen Ordnungsrahmens – und keinen Business-Class-Liberalismus, der die Marktmacht von globalen Konzernen protegiert, die liberale Demokratie als Fessel des Marktes schmäht und sich vor autoritativen Staaten ihrer „wirtschaftlichen Freiheit“ wegen verneigt. 

Wenn aber Investitionen nur noch dorthin gehen, wo entweder die Steuersätze oder die Löhne oder die Sozialstandards oder die Umweltauflagen oder aber alles zugleich niedrig sind, dann honoriert und fördert der Markt nicht mehr die Freiheit und die Liberalität des Westens, sondern dann akzeptiert er die Bedingungen, die er vorfindet - und der Traum von der politischen Freiheit, die der angeblich der wirtschaftlichen Freiheit auf dem Fuße folgt, ist kein Traum mehr. Sondern Selbstbetrug und Lüge.

3. Freiheit und Sicherheit sind keine Gegensätze    

Liberale neigen dazu, den modernen Sozialstaat zu verunglimpfen, weil sie hinter jedem Zuwachs staatlicher Fürsorge eine Freiheitsberaubung wittern und hinter jeder sozialpolitischen Maßnahme eine Gleichmacherei, die die Spannkraft ihrer Nutznießer lähmt.

Denkt man diesen Gedanken zu Ende, wäre die Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik seit 1945 eine einzige Dekadenzgeschichte. Das aber ist, mit Verlaub, Unsinn. Denn natürlich hat der Zuwachs an sozialer Sicherheit die Freiheit der Menschen nicht nur gelähmt, sondern auch gestärkt - und Deutschland noch dazu innerlich befriedet.

Vielleicht sollte es Liberale hoffnungsfroh stimmen, dass sie die Gleichheit nun schon seit 150 Jahren unaufhaltsam auf dem Vormarsch wähnen - und dass die Freiheit dennoch nicht tot zu kriegen ist. Und vielleicht liegt die Krise des Liberalismus ja exakt darin begründet: Dass er uns seit anderthalb Jahrhunderten nichts Neues zu sagen hat. Dass uns die Liberalen seit den Tagen von Wilhelm von Humboldt und John Stuart Mill in endlosen Reprisen ihrer Formeln und Phrasen einen „Mangel an Reife zur Freiheit“ attestieren. Und dass sie uns dem immer gleichen Vorwurf aussetzen, wir seien sicherheitsverliebte Herdentiere, die nur darauf warten, sich von einem fürsorglich-paternalistischen Staat auf sattgrüne Weidegründe führen zu lassen.

Kann es sein, dass wir das ewige Lamento, wir seien willenlose Schafe, eingeschlossen in den Fangarmen eines bürokratischen Umverteilungsstaates, der sich wie eine Krake über unser Denken, Fühlen und Handeln legt, bis all‘ unsere Eigeninitiative erlahmt ist, einfach nicht mehr hören können? 

Unternehmerische Zwänge

Denn Tatsache ist, dass die Sache der Freiheit in den westlichen Wohlfahrtsstaaten weder gewonnen hat noch verloren ist. Allein ihre Ambivalenz hat stetig zugenommen. Der wissenschaftlich-technische Fortschritt, die Ausdifferenzierung der Gesellschaft und das wirtschaftliche Wachstum haben ihr einerseits ein schier unendliches Spielfeld eröffnet.

„Nie zuvor hatten so viele Menschen so große Lebenschancen wie heute“ (Ralf Dahrendorf) - doch nie zuvor waren wir zugleich von so vielen anonymisierten Prozessen, systemischen Logiken, unternehmerischen Zwängen und politischen Alternativlosigkeiten bedrängt. Nie zuvor war so viel Weltwissen gesammelt, vernetzt und verbreitet - und nie zuvor die Bereitschaft größer zu normierter Bildung und beruflicher Funktionalität, zu Zerstreuung, konformistischem Medienkonsum und trivialer Freizeitverbringung.

Die größten Ökonomen
Adam Smith, Karl Marx, John Maynard Keynes und Milton Friedman: Die größten Wirtschafts-Denker der Neuzeit im Überblick.
Gustav Stolper war Gründer und Herausgeber der Zeitschrift "Der deutsche Volkswirt", dem publizistischen Vorläufer der WirtschaftsWoche. Er schrieb gege die große Depression, kurzsichtige Wirtschaftspolitik, den Versailler Vertrag, gegen die Unheil bringende Sparpolitik des Reichskanzlers Brüning und die Inflationspolitik des John Maynard Keynes, vor allem aber gegen die Nationalsozialisten. Quelle: Bundesarchiv, Bild 146-2006-0113 / CC-BY-SA
Der österreichische Ökonom Ludwig von Mises hat in seinen Arbeiten zur Geld- und Konjunkturtheorie bereits in den Zwanzigerjahren gezeigt, wie eine übermäßige Geld- und Kreditexpansion eine mit Fehlinvestitionen verbundene Blase auslöst, deren Platzen in einen Teufelskreislauf führt. Mises wies nach, dass Änderungen des Geldumlaufs nicht nur – wie die Klassiker behaupteten – die Preise, sondern auch die Umlaufgeschwindigkeit sowie das reale Produktionsvolumen beeinflussen. Zudem reagieren die Preise nicht synchron, sondern in unterschiedlichem Tempo und Ausmaß auf Änderungen der Geldmenge. Das verschiebt die Preisrelationen, beeinträchtigt die Signalfunktion der Preise und führt zu Fehlallokationen. Quelle: Mises Institute, Auburn, Alabama, USA
Gary Becker hat die mikroökonomische Theorie revolutioniert, indem er ihre Grenzen niederriss. In seinen Arbeiten schafft er einen unkonventionellen Brückenschlag zwischen Ökonomie, Psychologie und Soziologie und gilt als einer der wichtigsten Vertreter der „Rational-Choice-Theorie“. Entgegen dem aktuellen volkswirtschaftlichen Mainstream, der den Homo oeconomicus für tot erklärt, glaubt Becker unverdrossen an die Rationalität des Menschen. Seine Grundthese gleicht der von Adam Smith, dem Urvater der Nationalökonomie: Jeder Mensch strebt danach, seinen individuellen Nutzen zu maximieren. Dazu wägt er – oft unbewusst – in jeder Lebens- und Entscheidungssituation ab, welche Alternativen es gibt und welche Nutzen und Kosten diese verursachen. Für Becker gilt dies nicht nur bei wirtschaftlichen Fragen wie einem Jobwechsel oder Hauskauf, sondern gerade auch im zwischenmenschlichen Bereich – Heirat, Scheidung, Ausbildung, Kinderzahl – sowie bei sozialen und gesellschaftlichen Phänomenen wie Diskriminierung, Drogensucht oder Kriminalität. Quelle: dpa
Jeder Student der Volkswirtschaft kommt an Robert Mundell nicht vorbei: Der 79-jährige gehört zu den bedeutendsten Makroökonomen des vergangenen Jahrhunderts. Der Kanadier entwickelte zahlreiche Standardmodelle – unter anderem die Theorie der optimalen Währungsräume -, entwarf für die USA das Wirtschaftsmodell der Reaganomics und gilt als Vordenker der europäischen Währungsunion. 1999 bekam für seine Grundlagenforschung zu Wechselkurssystemen den Nobelpreis. Der exzentrische Ökonom lebt heute in einem abgelegenen Schloss in Italien. Quelle: dpa
Der Ökonom, Historiker und Soziologe Werner Sombart (1863-1941) stand in der Tradition der Historischen Schule (Gustav Schmoller, Karl Bücher) und stellte geschichtliche Erfahrungen, kollektive Bewusstheiten und institutionelle Konstellationen, die den Handlungsspielraum des Menschen bedingen in den Mittelpunkt seiner Überlegungen. In seinen Schriften versuchte er zu erklären, wie das kapitalistische System  entstanden ist. Mit seinen Gedanken eckte er durchaus an: Seine Verehrung und gleichzeitige Verachtung für Marx, seine widersprüchliche Haltung zum Judentum. Eine seiner großen Stärken war seine erzählerische Kraft. Quelle: dpa
Amartya Sen Quelle: dpa

Der klassische Liberalismus hat aus dieser Ambivalenz seine Kraft bezogen und die zentralen Fragen der Neuzeit aufgeworfen: In welchem Verhältnis stehen Gleichheit und Freiheit zueinander, Sicherheit und Eigenverantwortung, Individuum und Staat? Damals, im 18. Jahrhundert, war der Liberalismus ein avantgardistisches Programm, das auf die Begrenzung der absoluten Königs- und Fürstenmacht abzielte. Heute, nach all den großen Siegen der Freiheit und all ihren kleinen Niederlagen, weiß die FDP auf diese Fragen nur steinalte Antworten.

4. Ein neuer Eigentums- und Freiheitsbegriff 

Der Eigentumsbegriff der Liberalen zum Beispiel basiert auf einer groben Verkürzung. Er geht bekanntlich auf den englischen Philosophen John Locke (1632 - 1704) zurück, der vor 300 Jahren sinngemäß meinte, dass ein freier Mensch alles, was er der Natur durch seiner Hände Arbeit abringt, auch sein Eigen nennen darf.

Was die Vulgärliberalen dabei gerne vergessen, ist Lockes Nachsatz: Solange “ebenso gutes den anderen gemeinsam verbleibt”. Anders gesagt: Lockes Eigentumsbegriff will zwar dem Reichtum keine Grenzen setzen, wohl aber der Armut.

Er erzählt - im 17. Jahrhundert - noch nichts von einer lohnabhängigen Arbeiterklasse, die - im 19. Jahrhundert - kein Eigentum am Ertrag ihrer Arbeit haben und von schottischen Moralphilosophen schulterzuckend bedauert wird, bei der "great lottery of life" leider eine Niete gezogen zu haben.

Auch rechtfertigt Locke mit der arbeitenden Erstaneignung und persönlichen Inbesitznahme nicht die möglichst steuerfreie Vererbung von Eigentum. Vor allem aber geht Locke - 160 Jahre bevor die “frontier” in der Neuen Welt den Mississippi erreicht - noch von unbegrenzten Ressourcen aus. Von Ländereien, die im Überfluss vorhanden sind und nur darauf warten, vom Menschen untertan gemacht zu werden.

Davon kann heute erkennbar keine Rede mehr sein - und der Wirtschaftsliberalismus hat lange Zeit nicht einmal ansatzweise durchblicken lassen, dass er auf die Frage der Nutzung von endlichen oder gefährdeten Gemeingütern (Wald, Klima, Wasser, Öl) eine Antwort weiß. 

Auch der Freiheitsbegriff der Liberalen benötigte dringend eine Auffrischung. Seine klassische Definition stammt von John Stuart Mill (1806 - 1873), der - ganz ähnlich wie Locke - die "Schädigung anderer" zur Grenze der Freiheit erhebt. Es ist bekannt, dass die übrigen Politikanbieter dazu neigen, diese Grenze immer weiter hinein ins Reich der individuellen Freiheit zu treiben: Eine neues Kohlekraftwerk in der Kamschatka zum Beispiel, so lässt sich argumentieren, schädigt die Lebensgrundlagen meines nichtgeborenen Enkels, also gehört sein Bau verboten.

Viele FDP-Liberale wiederum antworten auf die Ausweitung der Sorgenzone noch immer mit einer allzu einfachen Formel: Freiheit bedeutet, hier und heute tun zu können, was man will: Schnauze, ihr Besserwisser und Bevormundungsgrünen - mein Porsche gehört mir!

Wann Freiheit schadet

Der anspruchsvollen und gleichsam öffentlichen Aufgabe aber, eine qualitative Bestimmung von Freiheit vorzunehmen und sich von Fall zu Fall die Frage zu stellen: Welche Freiheiten schaden? Welche wollen wir dennoch dulden? Welche sollen unantastbar sein? - dieser Aufgabe weichen die FDP-Liberalen konsequent aus - mit der Folge, dass der öffentliche Diskurs über derlei Fragen an der Partei vorbei stattfindet.

Grund dafür ist nicht heroische Prinzipienfestigkeit, wie viele Liberale noch immer von sich annehmen, sondern reine Denkfaulheit: Liberale missverstehen Mills "individuelle" Freiheit immer noch als Hier-und-Jetzt-Freibrief für Ichlinge - und nicht als eine Praxis steuernder Kontrolle über das eigene Leben, als Fähigkeit, die wir mit Blick auf andere zu verwirklichen haben.

Freiheit im Sinne von Mill aber ist: Wahlfreiheit. Sie besteht nicht in der Abwesenheit äußerer Hindernisse, sondern darin, dass wir bestimmten Zielen eine größere Bedeutung beimessen als anderen. Sie setzt nicht nur Optionen voraus, die ich ergreifen kann oder nicht, sondern die Fähigkeit, meiner Entscheidung für die eine oder andere Option einen Sinn beizumischen.  

5. Wider die Unfreiheit!

Was Liberale gern vergessen: Dass die Erschließung von Räumen der Freiheit ihrer Nutzung vorangeht. Das vielleicht berühmteste historische Beispiel dafür ist die Geburt der römischen Republik aus dem Verbrechen: Nachdem Sextus Tarquinius, der Sohn des Gewaltherrschers, die tugendhafte Lucretia vergewaltigt hat, lehnt sich das römische Volk gegen Willkür, Tyrannei und Machtmissbrauch auf, um sich hinfort nur noch selbst auferlegten Regeln zu unterwerfen. Liberalismus, so verstanden, bezeichnet keine Idee der Freiheit, sondern eine Impulsbewegung, die auf die Abschaffung der Unfreiheit zielt.

Der Vormarsch der Islamisten in Syrien und im Irak, die fortgesetzte Missachtung der Menschenrechte in China, die russische Offensive gegen die Ukraine - es gibt gerade in diesen Wochen unendlich viele Beispiele, die verdeutlichen, dass es sich lohnen würde, den Liberalismus von einer universal geltenden Definition dessen zu bestimmen, was Unfreiheit bedeutet: in der Macht eines anderen zu stehen.

Die amerikanische Politologin Judith Shklar hat diesen Gedanken bereits 1989 auf den Nenner eines "Liberalismus der permanenten Minderheiten" gebracht. Er besteht darauf, den Freiheitsgrad einer Gesellschaft von den Rändern her zu prüfen, "die Stimmen der Opfer immer zuerst" zu hören, sich laufend der Empfindungen der weniger Erfolgreichen zu versichern. Es ist ein Liberalismus, der seine Wurzeln in den grausamen Religionskriegen des 17. Jahrhunderts hat und dessen Keimzelle der Toleranzbegriff von Michel de Montaigne, nicht der Eigentumsbegriff von John Locke ist.

Missachtung der Menschenrechte

Sein nicht geringster Vorzug besteht darin, dass er die politische Universalvokabel der "Gerechtigkeit" ausklammert, um sich die Wachsamkeit dafür zu erhalten, was ungerecht ist: Repression, Verfolgung, Hunger, Ausbeutung, die Missachtung elementarer Menschenrechte.

Zweitens ist ein solcher Liberalismus darum bemüht, alle Formen von Macht als Bedrohung der Freiheit zu identifizieren, also nicht nur staatliche Macht, sondern zum Beispiel auch Macht, die Wirtschaftsunternehmen auf sich vereinen: Sein Blick fällt nicht nur mit Wohlgefallen auf die "wirtschaftliche Freiheit" in Singapur, sondern auch auf die politische Unfreiheit dort. 

Er hat seinen Ausgangspunkt nicht (nur) in den Handelsräumen der Wall Street, sondern auch in den Fabriken von Bangladesch. Sein Maßstab ist nicht nur die Freiheit des Arbeitgebers, seine Angestellten zu behandeln, wie es ihm dünkt, sondern auch die Freiheit des Angestellten, vor Drohungen und schlecht bezahlter Rumschubserei sicher zu sein. Und natürlich verteidigt ein solcher Liberalismus auch das elementare Bürgerrecht auf informationelle Selbstbestimmung gegen die algorithmische Ausbeutung von Informationen durch digitale Großkonzerne.

Alles in allem ist es ein Liberalismus, der die "Gewissheiten" des Liberalismus der FDP-Liberalen in den vergangenen 20 Jahren auf den Kopf stellt: Frei ist, wer nicht erniedrigt, verletzt und gedemütigt werden kann. 

6. Die Liberalen als Tugendwächter

In diesem Sinne müssten sich die Liberalen heute vor allem als Tugendwächter auftreten: als entschlossene Kämpfer gegen jede Form von elementarer Unfreiheit - und als ehrliche Makler einer qualitativ bestimmten Freiheit, die sich über die Moden der Zeit erhebt. Liberale sorgen sich nicht (nur) um die Geschäfts- und Gemütslage Russlands, sondern (vor allem) um die Informations- und Meinungsfreiheit der russischen Bürger.

Sie fördern nicht durch ordnungspolitische Passivität einen staatlich lizenzierten Bankensektor, der seine Risiken systematisch auslagert und alle Haftung beim Steuerzahler ablädt, sondern sie unterstützen ein Wirtschafts- und Währungssystem, das auf Sparsamkeit, Solidität und den breiten Aufbau von Eigentum setzt.

Liberale stellen den sozialdemokratischen Umverteilungswillen ebenso in Frage wie die Steuersenkungssubventionen der Angebotsfanatiker. Ihnen ist eine die Denunziation von Reichtum genauso zuwider wie ein Reichtum, der sich faulen Quellen verdankt. Über den Faulpelz, der auf Alimentation vom Staat hofft, kann er sich genauso echauffieren wie über den Steuerflüchtling, der den Staat prellt.

Kurzum: Nimmt der politisch organisierte Liberalismus Freiheit und Unfreiheit endlich beim Wort, stehen ihm in Deutschland alle Türen offen. Verengt er Freiheit und Unfreiheit weiter auf das, was Libertäre, Wirtschafts-, National- und Sozialliberale sich jeweils darunter vorstellen, kann man ihm, um den stellvertretenden FDP-Vorsitzenden Wolfgang Kubicki zu zitieren, nur weiterhin eine "gute Reise" wünschen.

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