Denn Tatsache ist, dass die Sache der Freiheit in den westlichen Wohlfahrtsstaaten weder gewonnen hat noch verloren ist. Allein ihre Ambivalenz hat stetig zugenommen. Der wissenschaftlich-technische Fortschritt, die Ausdifferenzierung der Gesellschaft und das wirtschaftliche Wachstum haben ihr einerseits ein schier unendliches Spielfeld eröffnet.
„Nie zuvor hatten so viele Menschen so große Lebenschancen wie heute“ (Ralf Dahrendorf) - doch nie zuvor waren wir zugleich von so vielen anonymisierten Prozessen, systemischen Logiken, unternehmerischen Zwängen und politischen Alternativlosigkeiten bedrängt. Nie zuvor war so viel Weltwissen gesammelt, vernetzt und verbreitet - und nie zuvor die Bereitschaft größer zu normierter Bildung und beruflicher Funktionalität, zu Zerstreuung, konformistischem Medienkonsum und trivialer Freizeitverbringung.
Der klassische Liberalismus hat aus dieser Ambivalenz seine Kraft bezogen und die zentralen Fragen der Neuzeit aufgeworfen: In welchem Verhältnis stehen Gleichheit und Freiheit zueinander, Sicherheit und Eigenverantwortung, Individuum und Staat? Damals, im 18. Jahrhundert, war der Liberalismus ein avantgardistisches Programm, das auf die Begrenzung der absoluten Königs- und Fürstenmacht abzielte. Heute, nach all den großen Siegen der Freiheit und all ihren kleinen Niederlagen, weiß die FDP auf diese Fragen nur steinalte Antworten.
4. Ein neuer Eigentums- und Freiheitsbegriff
Der Eigentumsbegriff der Liberalen zum Beispiel basiert auf einer groben Verkürzung. Er geht bekanntlich auf den englischen Philosophen John Locke (1632 - 1704) zurück, der vor 300 Jahren sinngemäß meinte, dass ein freier Mensch alles, was er der Natur durch seiner Hände Arbeit abringt, auch sein Eigen nennen darf.
Was die Vulgärliberalen dabei gerne vergessen, ist Lockes Nachsatz: Solange “ebenso gutes den anderen gemeinsam verbleibt”. Anders gesagt: Lockes Eigentumsbegriff will zwar dem Reichtum keine Grenzen setzen, wohl aber der Armut.
Er erzählt - im 17. Jahrhundert - noch nichts von einer lohnabhängigen Arbeiterklasse, die - im 19. Jahrhundert - kein Eigentum am Ertrag ihrer Arbeit haben und von schottischen Moralphilosophen schulterzuckend bedauert wird, bei der "great lottery of life" leider eine Niete gezogen zu haben.
Auch rechtfertigt Locke mit der arbeitenden Erstaneignung und persönlichen Inbesitznahme nicht die möglichst steuerfreie Vererbung von Eigentum. Vor allem aber geht Locke - 160 Jahre bevor die “frontier” in der Neuen Welt den Mississippi erreicht - noch von unbegrenzten Ressourcen aus. Von Ländereien, die im Überfluss vorhanden sind und nur darauf warten, vom Menschen untertan gemacht zu werden.
Davon kann heute erkennbar keine Rede mehr sein - und der Wirtschaftsliberalismus hat lange Zeit nicht einmal ansatzweise durchblicken lassen, dass er auf die Frage der Nutzung von endlichen oder gefährdeten Gemeingütern (Wald, Klima, Wasser, Öl) eine Antwort weiß.
Auch der Freiheitsbegriff der Liberalen benötigte dringend eine Auffrischung. Seine klassische Definition stammt von John Stuart Mill (1806 - 1873), der - ganz ähnlich wie Locke - die "Schädigung anderer" zur Grenze der Freiheit erhebt. Es ist bekannt, dass die übrigen Politikanbieter dazu neigen, diese Grenze immer weiter hinein ins Reich der individuellen Freiheit zu treiben: Eine neues Kohlekraftwerk in der Kamschatka zum Beispiel, so lässt sich argumentieren, schädigt die Lebensgrundlagen meines nichtgeborenen Enkels, also gehört sein Bau verboten.
Viele FDP-Liberale wiederum antworten auf die Ausweitung der Sorgenzone noch immer mit einer allzu einfachen Formel: Freiheit bedeutet, hier und heute tun zu können, was man will: Schnauze, ihr Besserwisser und Bevormundungsgrünen - mein Porsche gehört mir!