Digitaler Wahlkampf Posten ist Silber, zuhören ist Gold

Deutschland diskutiert und streitet online. Nach Brexit und Trump kann es sich die Politik nicht mehr leisten, Wahlkämpfe mit konservativen Methoden zu führen. Bis zur Bundestagswahl kann viel passieren. Ein Gastbeitrag.

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Vom Netz auf die Straße: Politische Inhalte gehen andere Wege. Quelle: dpa

Berlin Die deutschen Parteien müssen in die technologische Infrastruktur und digitales Know-how für ihre Kampagnen investieren. Die graduelle Machtverschiebung in der Medienlandschaft von klassischen Medien hin zu Social Media darf es nicht nur Populisten ermöglichen, erfolgreich zu sein. Wer es schafft, Fragen und Themen der Bevölkerung frühzeitig zu erkennen und anschließend versucht, ihnen mit Antworten in richtigen Formaten und der richtigen Tonalität zu entgegnen, hat die Chance im Netz sehr effizient Sympathisanten oder sogar Unterstützer für sich zu gewinnen und zu aktivieren. Oder eben auch: Wähler.

Das bedeutet, nicht das Reden, sondern das Zuhören in den Mittelpunkt der digitalen Aktivitäten zu stellen. Es wäre ein Fehler, Facebook, Twitter und Co. weiterhin als reine Verlautbarungskanäle im digitalen Raum zu verstehen. Social Media ist vor allem in der politischen Anwendung ein Frühwarnsystem und Themenradar, ein Ohr in der Zielgruppe.

Big-Data-Systeme spiegeln, richtig eingesetzt, Stimmungen in Echtzeit wider, messen, welchen Einfluss Argumente und Handlungen haben, zeigen die Bedeutung von Themen und Ereignissen auf und legen dar, ob über Politiker mehrheitlich positiv oder negativ diskutiert wird.

Diese Daten liefern einen enormen Mehrwert liefern, wenn es um die Entwicklung der Botschaft und das Ausspielen von Inhalten an die Zielgruppe geht. Moderne Kommunikation wird heute von Kampagnenprofis geplant und im Netz mit Tests durch Leistungsvergleiche verfeinert. Wer überprüfen kann, ob Motive, Unterstützermails, Facebook- und Google-Anzeigen und Videos von der Zielgruppe angenommen und verstanden werden, sollte das tun.

Parteimitglieder, Anhänger, potenzielle Wähler und Unentschlossene können unterschiedlich und treffsicher angesprochen werden. Die One-Size-Fits-All-Kampagne wird nicht weiter funktionieren. Ein Beispiel aus der Wirtschaft: Adidas und Nike verfahren ähnlich, wenn sie fast im wöchentlichen Rhythmus neue Produkte für unterschiedliche Personenkreise einführen und diese mit passgenauen Kampagnen erreichen.

Was für die Sportgiganten der in Echtzeit generierte Umsatz ist, lässt sich in der Politik in Reichweite und Zustimmung messen. Bei allem Hype über Big-Data-Kampagnen gilt aber immer noch: Am Ende gewinnt nicht die bessere Technik, sondern Kandidaten mit starken Themen.


Politiker sind Testimonials ihrer Partei

Parteien dürfen sich jedoch nicht länger mit der puren Präsenz auf Social-Media-Plattformen zufrieden zu geben. Parteiprofile auf Facebook, Twitter und Instagram eignen sich höchstens dazu, die eigene Mitgliedschaft zu informieren und zu aktivieren. Vielmehr müssen Parteien bekannte und beliebte Politiker intensiver und strategischer auch als Testimonials in Social Media einsetzen.

Merkel, Schulz, Özdemir und Lindner können die Anhängerschaft von CDU, SPD, Grünen und FDP auf direktere und auf unkonventionellere Weise ansprechen und so eine höhere Glaubwürdigkeit aufbauen. Die Facebook-Seite „Karl-Theodor zu Guttenberg - Das Comeback“ verdeutlicht das Potential. Die Anhänger des ehemaligen Bundesministers haben es geschafft über 15.000 Fans mehr zu binden als die offizielle Seite der CSU.

Die Zeit der klassischen flächendeckenden Wahlwerbung ist vorbei, sie funktioniert auch im Netz nicht. Die Bevölkerung will keine gleichförmigen Plakatkampagnen. Sie will persönliche Signale von der Politik bekommen, dass ihre Anliegen verstanden werden. Das gelingt nur, wenn sie persönlich von Politikern angesprochen werden, die Möglichkeit zum Dialog haben und Antworten erwarten können. Dafür braucht es die entsprechenden monetären Mittel, um gewonnene Daten auch digital zu nutzen, um Reichweite aufbauen zu können. Die richtigen Inhalte an die richtigen Personen mit den richtigen Interessen zu kommunizieren ist keine Revolution. Speziell auf Erstwähler zugeschnittene Briefe versenden Parteien schließlich schon seit Jahrzehnten.

Nahbar werden und bleiben

Politiker selbst, mit Unterstützung von Marken- und Kommunikationsprofis, müssen die digitale Kanäle zu reichweitenstarken Werkzeugen ausbauen, strategisch bespielen und den Dialog mit der Bevölkerung führen.

Die SPD zeigt, wie es gehen kann. Die Sozialdemokraten machen mit Martin Schulz im Netz aktuell vieles richtig. Auf Twitter dienen die Hashtags #zeitfürmartin, #zeitfürgerechtigkeit und #jetztistschulz als Plattform, um Interessenten und Sympathisanten sehr niedrigschwellig zu beteiligen. Daraus hat sich eine Community gebildet, die Schulz seit Wochen auf einer humoristischen Welle aus Cartoons und Sprüchen trägt.

Dem SPD-Kanzlerkandidaten werden darin im Stil der Chuck Norris Facts übernatürliche Kräfte zugesprochen. Der #Schulzzug rollt. Das Team um Martin Schulz wird die Beteiligung im Netz aufrechterhalten müssen, um auch in der heißen Wahlkampfphase auf eine aktive Community setzen zu können. Mit der Fortsetzungen von Veranstaltungen wie dem SPD-Hackathon, Online-Unterstützer vor Ort in Berlin zu vernetzen und mit ihnen wiederum Ideen für das Netz zu entwickeln, kann das funktionieren. Jedenfalls scheint die SPD ein gutes Gespür für Trends im Netz und ihre Zielgruppe zu haben.

Ein anderes Beispiel ist Grünen-Chef Cem Özdemir. Wenn nach dem ARD-Deutschlandtrend jeder Zweite mit seiner Arbeit zufrieden ist und 30 Millionen Deutsche auf Facebook unterwegs sind, ist das Potential für den Grünen-Spitzenkandidaten um einiges höher als die bisherigen 113.000 Abonnenten. Dass Özdemir mit seiner sehr persönlichen Weihnachtsgeschichte einen Social-Media-Hit landete und drei Millionen Facebook-Nutzer erreichte, also das 30-fache seiner Follower, ist ein Wert, den sonst nur Bundesligaprofis oder Popstars erlangen.

Persönliche Geschichten und innovative Beteiligungsmöglichkeiten zahlen sich aus. Moderne Kampagnen brauchen keine Onlineverlängerung, sie müssen von Grund auf digital geplant werden. Nach dem Zuhören.

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