Diskussion zum VWL-Studium Ökonomen zweifeln an der reinen Lehre

Richtungsstreit über eine Reform der VWL: Der Ökonomenverband VfS hat zur Diskussion über die Ökonomenausbildung geladen. Zwei Wissenschaftler haben dazu ein neues Lehrbuch vorgestellt – und ernten nicht nur Applaus.

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Muss das VWL-Studium reformiert werden? Quelle: dpa

Muss das VWL-Studium reformiert werden? In einem für den traditionsbewussten Verein für Socialpolitik bemerkenswerten Schritt, hat der tonangebende Ökonomenverband des deutschsprachigen Raums diese Frage auf seiner Jahrestagung in Augsburg prominent diskutieren lassen. „Wir haben eine Krise des Vertrauens in die Ökonomik“, räumte der Altvorsitzende des Vereins, Michael Burda zur Diskussionseröffnung ein.

Die Angelsachsen sind bereits weiter. Für den Chefvolkswirt der Bank von England, Andrew Haldane, ist die Frage acht Jahre nach Ausbruch der großen Finanzkrise längst entschieden: Die Ökonomik sei zu sehr eine Monokultur geworden, schreibt er im Vorwort eines Buches von kritischen Studenten, das demnächst erscheint, und fügt hinzu: „Ich denke, diese Kritik ist nicht mehr sehr umstritten, außer in gewissen akademischen Cliquen.“

Und zwei der Diskutanten in Augsburg, Samuel Bowles und Wendy Carlin, haben mit rund 20 Ökonomen bereits ein neues Lehrbuch – genannt Core – vorgelegt, das für sich in Anspruch nimmt, die nötige Reform der Ausbildung zu leisten – zumindest was die Einführungsveranstaltungen in die Ökonomik angeht. In Augsburg diskutierten Rüdiger Bachmann, der streitbare Nachwuchsbeauftragte des Vereins mit Kritikern, einem Wirtschaftshistoriker und – als Stargäste – auch mit Bowles und Carlin.

Die beiden durften zuvor ihr neues kostenloses Einführungslehrbuch der VWL in E-Book-Format vorstellen. Es soll bereits an vielen renommierten Universitäten überall in der Welt Verwendung finden und die Kritik an einer zu einseitigen, realitätsfernen Lehre aufnehmen. „Dieses neue Lehrkonzept war für uns der Anlass, das Thema Reform der Lehre auf die Agenda zu setzen“, sagte die Vereinsvorsitzende Monika Schnitzer. „Warum das Thema nicht gleich anhand eines konkreten Vorschlags diskutieren?“, fragte sie.

Auf dem Podium sah allerdings der Nachwuchsbeauftragte Bachmann wenig Grund für eine Reform. Er berichtet vom Ergebnis einer „erzwungenen Depluralisierung“ an der University of Indiana in den USA, wo er lehrt. Dort sei eine von vielfältigen Theorierichtungen geprägte VWL-Fakultät geschlossen und durch eine stramm neoklassische Fakultät ersetzt worden

Deutschsprachige Ökonomen und Soziologen des 20. Jahrhunderts

Vorher habe die Fakultät schlecht funktioniert, Studenten und Doktoranten hätten dort nicht hinkommen wollen. Heute habe die VWL dort die höchsten Wachstumsraten bei den Absolventen von allen Studienrichtungen. Die Kritik der Studentin Friedericke Hildebrandt, dass er in einem methodischen Rahmen lehre, der nichts mit der Realität zu tun habe, wies Bachmann entschieden zurück.

Symptomatisch für die Diskussion des Mainstreams mit seinen Kritikern: Bachmann erwiderte auf die Kritik des Linzer Wirtschaftsphilosophen Jakob Kapeller nur knapp: „Ich habe nicht verstanden, was Herr Kapeller gesagt hat.“ Dieser hatte unter anderem moniert, dass es in einer komplexen, sich ständig ändernden Wirtschaftswelt nicht angemessen sei, nur einen theoretischen Blickwinkel anzuwenden.

Symbolträchtig war auch, dass Moderator Burda vergaß, ausgerechnet dem Wirtschaftshistoriker auf dem Panel, Albrecht Ritschl von der London School of Economics, das Wort zu geben. Zur Kritik der Studenten an den Lehrplänen gehört, dass Wirtschaftsgeschichte und ökonomische Ideengeschichte darin fast keine Rolle mehr spielen. Das sei ein Fehler, betonte Ritschl. „History sells“, sagte er. Nach Krisenausbruch 2008 habe sein Telefon nicht mehr aufgehört zu klingeln. Wirtschaftsgeschichte sei bei Studenten sehr beliebt und auch sehr erfolgreich beim Einwerben von Forschungsgeldern.

Gespaltene Geister zur Reform der Ökonomielehre


Von dem neuen Lehrbuch, das Carlin und Bowles in Augsburg vorstellten, sind die Kritiker des Mainstream weniger begeistert als die Vertreter des Mainstreams. Jamie Morgan von der Association of Heterodox Economists sagt: „Von innerhalb des Mainstream betrachtet wirken selbst kleine Veränderungen manchmal wie eine Revolution.“

Auch der renommierte Keynes-Biograph Robert Skidelsky äußerte sich kritisch: „Das Hauptproblem liegt darin, dass Core in der Tradition derer arbeitet, die glauben, dass es in der Ökonomik nur eine valide Sichtweise gibt.“ Er hatte von INET ursprünglich den Auftrag, ein Konzept für eine reformierte Grundausbildung von Ökonomen zu entwickeln. Dieses fand beim INET-Vorstand jedoch keinen Gefallen und sie gaben den Folgeauftrag an Wendy Carlin, mit ihrem moderateren Reformkonzept.

Die größten Ökonomen
Adam Smith, Karl Marx, John Maynard Keynes und Milton Friedman: Die größten Wirtschafts-Denker der Neuzeit im Überblick.
Gustav Stolper war Gründer und Herausgeber der Zeitschrift "Der deutsche Volkswirt", dem publizistischen Vorläufer der WirtschaftsWoche. Er schrieb gege die große Depression, kurzsichtige Wirtschaftspolitik, den Versailler Vertrag, gegen die Unheil bringende Sparpolitik des Reichskanzlers Brüning und die Inflationspolitik des John Maynard Keynes, vor allem aber gegen die Nationalsozialisten. Quelle: Bundesarchiv, Bild 146-2006-0113 / CC-BY-SA
Der österreichische Ökonom Ludwig von Mises hat in seinen Arbeiten zur Geld- und Konjunkturtheorie bereits in den Zwanzigerjahren gezeigt, wie eine übermäßige Geld- und Kreditexpansion eine mit Fehlinvestitionen verbundene Blase auslöst, deren Platzen in einen Teufelskreislauf führt. Mises wies nach, dass Änderungen des Geldumlaufs nicht nur – wie die Klassiker behaupteten – die Preise, sondern auch die Umlaufgeschwindigkeit sowie das reale Produktionsvolumen beeinflussen. Zudem reagieren die Preise nicht synchron, sondern in unterschiedlichem Tempo und Ausmaß auf Änderungen der Geldmenge. Das verschiebt die Preisrelationen, beeinträchtigt die Signalfunktion der Preise und führt zu Fehlallokationen. Quelle: Mises Institute, Auburn, Alabama, USA
Gary Becker hat die mikroökonomische Theorie revolutioniert, indem er ihre Grenzen niederriss. In seinen Arbeiten schafft er einen unkonventionellen Brückenschlag zwischen Ökonomie, Psychologie und Soziologie und gilt als einer der wichtigsten Vertreter der „Rational-Choice-Theorie“. Entgegen dem aktuellen volkswirtschaftlichen Mainstream, der den Homo oeconomicus für tot erklärt, glaubt Becker unverdrossen an die Rationalität des Menschen. Seine Grundthese gleicht der von Adam Smith, dem Urvater der Nationalökonomie: Jeder Mensch strebt danach, seinen individuellen Nutzen zu maximieren. Dazu wägt er – oft unbewusst – in jeder Lebens- und Entscheidungssituation ab, welche Alternativen es gibt und welche Nutzen und Kosten diese verursachen. Für Becker gilt dies nicht nur bei wirtschaftlichen Fragen wie einem Jobwechsel oder Hauskauf, sondern gerade auch im zwischenmenschlichen Bereich – Heirat, Scheidung, Ausbildung, Kinderzahl – sowie bei sozialen und gesellschaftlichen Phänomenen wie Diskriminierung, Drogensucht oder Kriminalität. Quelle: dpa
Jeder Student der Volkswirtschaft kommt an Robert Mundell nicht vorbei: Der 79-jährige gehört zu den bedeutendsten Makroökonomen des vergangenen Jahrhunderts. Der Kanadier entwickelte zahlreiche Standardmodelle – unter anderem die Theorie der optimalen Währungsräume -, entwarf für die USA das Wirtschaftsmodell der Reaganomics und gilt als Vordenker der europäischen Währungsunion. 1999 bekam für seine Grundlagenforschung zu Wechselkurssystemen den Nobelpreis. Der exzentrische Ökonom lebt heute in einem abgelegenen Schloss in Italien. Quelle: dpa
Der Ökonom, Historiker und Soziologe Werner Sombart (1863-1941) stand in der Tradition der Historischen Schule (Gustav Schmoller, Karl Bücher) und stellte geschichtliche Erfahrungen, kollektive Bewusstheiten und institutionelle Konstellationen, die den Handlungsspielraum des Menschen bedingen in den Mittelpunkt seiner Überlegungen. In seinen Schriften versuchte er zu erklären, wie das kapitalistische System  entstanden ist. Mit seinen Gedanken eckte er durchaus an: Seine Verehrung und gleichzeitige Verachtung für Marx, seine widersprüchliche Haltung zum Judentum. Eine seiner großen Stärken war seine erzählerische Kraft. Quelle: dpa
Amartya Sen Quelle: dpa

Die französische Bewegung „etudiants pour la réforme de l’reinseignment en économie“ (MEPREE) kritisiert, bei allen unzweifelhaften Verbesserungen sei auch das Core-Werk noch voll von „Lehrbuch-Absurditäten“ in Form völlig unrealistischer Annahmen. Von der Post-Crash Economics Society an der Universität Manchester hieß es auf Anfrage: „Core sieht für uns aus wie diese Art Reformen, die letztlich viel vom Status Quo bewahren und den Ruf nach fundamentalen Reformen unterminieren.“

Was die kritischen Gruppen bemängeln, brachte Core bei der Vorstellung in Augsburg viel Applaus ein. Die Macher gaben an, mit ihrem moderaten Konzept „nicht das Kind mit dem Bade ausschütten“, sondern, wie Bowles dazu ergänzte, „das Kind vor dem Badewasser zu schützen.“ So sehen das auch die bekannten britischen Ökonomen Simon Wren-Levis und Diane Coyle. „Wir brauchen Reform in der Art wie Ökonomie gelehrt wird, aber keine Revolution“, verteidigten sie jüngst den Core-Ansatz gegen Kritiker.

Darin, dass das neue Lehrbuch, das Core entwickelt hat, in Sachen Didaktik und Breite des dargebotenen Materials erheblich besser ist als die meisten etablierten Lehrbücher, sind sich Mainstream-Kritiker und Mainstream-Ökonomen immerhin einig.

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