WirtschaftsWoche: Herr Jesse, die AfD will sich als Anti-Islampartei positionieren. Rutscht die Partei damit in die rechtsextreme Ecke ab?
Eckhard Jesse: Nein. Es ist völlig in Ordnung, wenn die AfD sagt, der Islam gehöre nicht zu Deutschland. Der frühere Bundespräsident Christian Wulff hatte ja das genaue Gegenteil gesagt, nämlich dass der Islam zu Deutschland gehört. Beide Ansichten dürfen in einer Demokratie vertreten werden. Die Frage ist nur, was die AfD eigentlich mit ihrer Islamkritik möchte.
Was meinen Sie damit?
Die AfD muss sagen, was ihre Kritik am Islam für die Muslime in Deutschland bedeutet. Sollen die ihre Religion nicht mehr frei ausüben dürfen? Das wäre verfassungsrechtlich bedenklich. Die AfD hat sich vielleicht bewusst vage ausgedrückt, um Islamkritiker für sich zu gewinnen und eher Moderate nicht zu verschrecken.
Zur Person
Eckhard Jesse ist Politikwissenschaftler und einer der führenden Extremismusforscher in Deutschland. Von 1993 bis 2014 hatte er den Lehrstuhl „Politische Systeme, Politische Institutionen“ an der TU Chemnitz inne.
Ist die AfD extremistisch?
Nein, sie ist eine rechte Partei, deren Wähler allerdings aus allen politischen Lagern kommen. Sie ist zudem populistisch, weil sie sich gegen die Elite, gegen ‚die da oben‘ richtet. Aber die Partei stellt den Verfassungsstaat nicht in Frage – mit Ausnahmen wie etwa dem thüringischen Fraktionschef Björn Höcke.
Wie sollten die etablierten Parteien mit dem Anti-Islam-Vorstoß der Partei umgehen?
Sie sollten mehr Gelassenheit an den Tag legen und die Partei nicht stigmatisieren. Das bringt ihr nur Zulauf. Union und SPD sollten die AfD fragen, was sie mit ihrer Islamkritik aussagen will. Dann dürfte sich herausstellen, dass die AfD kein richtiges Konzept hat.
Wie lange hält die Partei den Konflikt zwischen dem wirtschaftsliberalen und dem nationalkonservativen Flügel aus?
Wahrscheinlich noch lange, denn diese Positionen sind meistens keine Gegensätze. Der frühere Parteichef Bernd Lucke hätte insofern in der AfD bleiben können. Es gibt ein ganz anderes Problem. Ein Teil der Partei möchte den Sozialstaat massiv ausbauen. Das verträgt sich aber nicht mit den wirtschaftsliberalen Vorstellungen. Einige wollen weniger Staat, weniger staatliche Subventionen und mehr Wettbewerb. Und andere wollen mehr Geld für kinderreiche Familien und die Pflege ausgeben. Einen Staat, der sich aus Wirtschaftsfragen möglichst weit raushält, aber zugleich den Sozialstaat ausbaut, gibt es nicht.
Frauke Petry gehört zu den Sozialpolitikerin der AfD. Die Kritik an ihr wächst.
Frauke Petry ist politisch sehr flexibel und wechselt mitunter ihre Ansichten. Im Moment will sie mehr Sozialleistungen. Das starke Ergebnis des Landesverbandes in Baden-Württemberg – 15,1 Prozent – ist für sie somit ein Problem. Denn der baden-württembergische Chef und Co-Bundesvorsitzende Jörg Meuthen will weniger Staat. Das Glück von Petry und der Partei insgesamt ist, dass sie nicht regieren muss. Sie kann also allen alles versprechen.
Das kann aber auch schnell beliebig wirken.
Ja, zumal die AfD für viele Anhänger - erst recht in den alten Bundesländern - vor allem eine bürgerliche Partei ist. Sie darf nicht den Anschein erwecken, die Linke von links zu überholen.
Warum die SPD in einer verzweifelten Lage ist
Die Union will ihren Kurs der Mitte fortsetzen. Hat sie damit überhaupt noch Chancen, enttäuschte AfD-Wähler zurückzugewinnen?
Angela Merkel wird bei ihrem Kurs bleiben, schließlich steht ihre Glaubwürdigkeit auf dem Spiel. Die CDU insgesamt könnte ihren Kurs aber anpassen. Sie wird womöglich die ein oder andere Position der AfD übernehmen, allerdings ohne das groß zu verkünden. Außerdem hat nicht nur die Union das Problem. Auch frühere Wähler von Sozialdemokraten und Linken votieren für die AfD. Diese Parteien müssen ebenfalls Antworten auf die neue politische Kraft finden.
In einigen Umfragen erreicht die Große Koalition nur noch etwas mehr als 50 Prozent. Wie nachhaltig ist die Veränderung des Parteiensystems?
Wir erleben eine Zäsur des Parteiensystems. Bei der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt haben Union und SPD zusammen 40,4 Prozent geholt, Linke und AfD 40,6 Prozent. Wären die Grünen nicht ins Parlament gekommen, wären nur Neuwahlen geblieben. Kurzum: Beide Volksparteien sind in großen Schwierigkeiten. Die inhaltliche Nähe von Union und SPD führt zu einem Verdruss bei den Wählern.
Am meisten leidet die SPD. Ist sie noch zu retten?
Die Sozialdemokraten sollten 2017 in die Opposition gehen. Dann können sie sich stärker von der Union und Merkel absetzen.
Ist die SPD noch Volkspartei?
Wer Volkspartei sein will, muss drei Kriterien erfüllen. Ist eine Partei demokratisch? Das ist die SPD. Hat sie Wähler aus allen Schichten? Ja, das trifft zu. Und: Erreicht sie eine große Masse? Wenn die SPD die Abwanderung nicht stoppen kann, ist sie keine Volkspartei mehr.
Was muss die SPD tun?
Die SPD ist in einer schier verzweifelten Lage. Es gibt einen riesigen Konflikt zwischen den Funktionären auf der einen Seite und der Wählerschaft auf der anderen Seite. Die SPD erreicht die unteren Schichten kaum noch. Der sogenannte ‚kleine Mann‘ geht lieber zur AfD.
Ein Beispiel bitte.
Nehmen Sie die Flüchtlingspolitik. Viele Menschen aus den unteren Schichten haben Angst um ihre Jobs. Die SPD hätte diese Ängste aufgreifen müssen, sich von Merkel absetzen und ihren Kurs in der Flüchtlingspolitik hinterfragen sollen. Damit hätte SPD-Chef Sigmar Gabriel viele potentielle Wähler erreicht. So machten diese aber lieber ihr Kreuz bei der AfD.
Das hätte die SPD-Basis aber nicht mitgemacht.
So ist es. Die Kluft zwischen Basis und Wählerschaft ist massiv und ich sehe nicht, wie sie sich schließen lässt. Die Basis muss sich fragen, ob sie mit ihren hehren Absichten und Idealen der Partei nicht eher schadet.
Manche wollen Gabriel nun loswerden. Ist er das Problem?
Auf keinen Fall. Gabriel hat ein gutes Gespür dafür, was die Menschen denken. Er muss sich vorerst auch keine Sorgen um den Vorsitz oder die Spitzenkandidatur für 2017 machen. Gegen Merkel will niemand aus der SPD verlieren, also lässt die Partei Gabriel an der Spitze. Merkel wird nach menschlichem Ermessen Kanzlerin bleiben. Und wenn die SPD klug ist, geht sie in Opposition.
Die SPD hat keine Machtperspektive für 2017?
Sie kommt an der Union nicht vorbei – und Rot-Rot-Grün ist keine Option. Gabriel muss andeuten, dass die Partei in Würde in die Opposition gehen wird. Die SPD muss auf die Zeit nach Merkel hoffen.