Es war keine kleine Aufgabe, die der Bundestag im Dezember 2010 der Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ gestellt hat. „Wege zu nachhaltigem Wirtschaften und gesellschaftlichem Fortschritt in der Sozialen Marktwirtschaft“ sollten die 17 Abgeordneten und 17 Sachverständigen aufzeigen. Eine Aufgabe für kluge Köpfe, die jenseits des Tagesgeschäfts und über die Parteigrenzen hinweg die großen Linien der Politik vorzeichnen und dem Bundestag langfristige Empfehlungen geben.
Nun haben vor wenigen Tagen die beiden ersten von fünf Projektgruppen ihre Berichte vorgelegt. „Stellenwert von Wachstum in Wirtschaft und Gesellschaft“ heißt der erste. Der zweite schlägt einen „ganzheitlichen Wohlstands bzw. Fortschrittsindikator“ vor. Beide sind enttäuschend.
Der Indikator, den die Kommission vorschlägt, wird mit größter Wahrscheinlichkeit keine Bedeutung für die Wachstumsdebatte erlangen. Er besteht aus zehn Leitindikatoren, neun "Warnlampen" und einer "Hinweislampe", die sich zum Teil noch aus weiteren Unterindikatoren zusammensetzen. Dass sich ein solcher Wust - darunter das herkömmliche BIP, aber auch umständlich berechnete Indikatoren für "Freiheit", "Artenvielfalt", "Gesundheit" - irgendjemandem als Ganzes sinnvoll vermitteln ließe, ist unvorstellbar. Einer der beteiligten Sachverständigen, der Soziologe Meinhard Miegel hält sich mit seiner Enttäuschung nicht zurück. Es sei zu erwarten, "dass mangels einer praktikablen und alltagstauglichen Alternative das BIP weiterhin der dominante Wachstums- und Wohlstandsindikator bleibt, der bestenfalls durch einen periodischen Wohlstandsbericht ergänzt wird", sagt Miegel. "Damit wurde das Ziel, durch eine zutreffendere Erfassung individuellen und gesellschaftlichen Wohlstands, die derzeitige Verquickung von Wachstum und Wohlstand zu überwinden, verfehlt. Wohlstand wird trotz mancher gegenteiliger Bekundungen im öffentlichen Bewusstsein und im praktischen Handeln vorerst ein Anhängsel von Wirtschaftswachstum bleiben."
Ein Zeugnis der intellektuellen Leere
Das ganze Ausmaß des Scheitern der Enquete-Kommission macht aber der Bericht über den Stellenwert des Wachstums klar. Wobei er, das muss man zur Ehrenrettung der beteiligten Oppositionsabgeordneten sagen, gegen deren Stimmen verabschiedet wurde. Das, was die Arbeitsgruppe unter dem Vorsitz des jüngsten FDP-Bundestagsabgeordneten Florian Bernschneider (geboren 1986) präsentiert, ist ein Zeugnis der intellektuellen Leere. Den Text zu verantworten haben, so ist aus unterrichteten Kreisen zu hören, vor allem die Sachverständigen Karl-Heinz Paqué, Volkswirt an der Magdeburger Uni und Ex-FDP-Finanzminister in Sachsen-Anhalt, und der Konjunkturforscher Kai Carstensen vom Ifo-Institut.
Ihr Werk von mehr als 100 Seiten, das eigentlich ein Anstoß zum Denken und Handeln sein sollte, atmet auf jeder der schwer zu lesenden Seiten den Geist - oder besser die Geistlosigkeit - eines dienstbeflissen zusammenrecherchierten Referentenentwurfs. Sprachliche Schwächen – so ist mehrfach von „Mitgliedern der Bevölkerung“ die Rede – wären noch zu verzeihen. Ärgerlicher sind die zahllosen Denkfehler, Ungenauigkeiten und unreflektierten, apodiktischen Behauptungen.
Schon in der Einleitung werden Wachstum und Wohlstand wie Synonyme verwendet. Dabei wäre es ein zentrales Ziel der Projektgruppe gewesen, genau diese Unterscheidung auszuarbeiten. Charakteristisch für die Schwäche des gesamten Dokumentes ist auch der inflationäre und unreflektierte Gebrauch der Vokabel „Nachhaltigkeit“. Gedankenlos wird da immer wieder die PR-Phrase vom „nachhaltigen Wachstum“ nachgeplappert. Als ob nicht jedem Ökonomen, Ökologen und überhaupt jedem denkenden Menschen klar sein muss, dass das ein Widerspruch in sich selbst ist, wenn "nachhaltig" nicht zu einer völlig entleerten Worthülse werden soll. Hanebüchen ist die Behauptung, das Wachstum der entwickelten Volkswirtschaften sei ohnehin nur noch "qualitativ" und nicht mehr "quantitativ". Ein simpler Blick auf die Statistik des alljährlichen Flächenverbrauchs in Deutschland belegt schon das Gegenteil.
Immer weiter so wie bisher - neue Ideen unnötig
Der zentrale Satz des ganzen Dokuments fällt schon in der Einleitung: „Die gern geführte Diskussion über die ‚richtige’ Höhe des Wachstums geht daher am Kern der Sache vorbei. Vielmehr sind neue Ideen und Produktionsverfahren und damit Wachstum dringend notwendig zur Lösung der ökonomischen, ökologischen und Sozialen Herausforderungen“. Damit ist eigentlich alles gesagt. Dieser Satz erklärt vermutlich auch die Dürftigkeit der noch folgenden 95 Seiten. Die ganze Enquete-Kommission, das wollen die Autoren unmissverständlich zeigen, sei eigentlich überflüssig. Alles, was dann folgt, will das durch einen Blick zurück weismachen. Dabei ist die Darstellung der historischen Leistung der sozialen Marktwirtschaft über mehrere Seiten ebenso dürftig und unnötig wie die langatmige Definition des Begriffs des BIP. Beides kann man sehr viel verständlicher bei Wikipedia nachschlagen.
Was ist aber mit dem „Stellenwert“ dieses BIP in der Gesellschaft? War das nicht die eigentlich zu beantwortende Frage? Darauf gibt die Kommission keine klare Antwort. Wachstum ist für die Autoren dieses Berichts entweder ein unhinterfragtes Ziel oder wird als Bedingung jeglichen politischen Erfolges betrachtet. Was ist, wenn es ausbleibt? Paqué und Carstensen haben offenbar beschlossen, dass diese Frage ein Tabu sein soll.
Ludwig Erhardt war vor 50 Jahren schon weiter
Die Autoren sind blind für die entscheidenden Perspektiven bei der Betrachtung von Wachstum. Sie verzichten auf jede Einbindung der globalen Verhältnisse. Schließlich fehlt aber vor allem jegliches Verständnis für die kulturellen und historischen Bedingungen von ökonomischer Leistungsfähigkeit und Innovationskraft: Auch die Bereitschaft und die Fähigkeit, sich (noch) mehr anzustrengen, sind Voraussetzungen von Wachstum. Und beide sind keine historisch konstanten Größen. Die Autoren scheinen die gesamte Wachstumsdebatte der vergangenen vierzig Jahre überhaupt nicht zu kennen - oder ignorieren sie bewusst.
Ludwig Erhardt war 1961 schon weiter als Paqué und Carstensen heute. Damals – auf dem Höhepunkt der Wachstumsfreude – sagte Erhardt voraus, dass sich dereinst „die Woge bricht, wo der Aufwand an materiellen Mitteln, an Fleiß, an körperlicher und geistiger Kraft, sich nicht mehr lohnt“. Aber weder dies, noch seine Prophezeiung von 1964 haben sich bis zu seinen Enkeln in CDU und FDP herumgesprochen: „Wir werden sogar mit Sicherheit dahin gelangen, dass zu Recht die Frage gestellt wird, ob es noch immer richtig und nützlich ist, mehr Güter, mehr materiellen Wohlstand zu erzeugen oder es nicht sinnvoller ist, unter Verzichtsleistungen auf diesen ‚Fortschritt’ mehr Freizeit, mehr Besinnung, mehr Muße und mehr Erholung zu gewinnen.“ Nun sitzen da ein halbes Jahrhundert später seine Parteifreunde beisammen und ihnen fällt nichts dazu ein, als ein müdes Herunterbeten ältlicher VWL-Lehrmeinungen.
Auch in dem kleinen Kapitel „Zukünftige gesellschaftspolitische Gestaltung der Sozialen Marktwirtschaft“ ist kein einziger zukunftsweisender oder halbwegs origineller Gedanke zu erkennen, sondern nur bekannte Zitate der Klassiker Wilhelm Röpke und Alexander Rüstow aus fernen Wirtschaftswunderzeiten. Sätze aus einer anderen Zeit, als die „Ermöglichung der Teilhabe an wirtschaftlichem Wachstum“ für ein kriegsversehrtes Volk verheißend waren.
Wer soll das lesen? Und was soll diese Lektüre auslösen? Die Antwort kann nur lauten: niemand und nichts. Und das wohl mit Absicht. Der ganze Bericht hat ganz offensichtlich nur den Zweck, sein Thema durch Lehrbuch-Wissen und Phrasen tot zu schreiben. "Wenn man Wert darauf legt, dass es keinen Impuls gibt, dann muss man es so machen", kommentiert Meinhardt Miegel das Werk.
Vertane Chance der politischen Willensbildung
Die vom Bundestag durch die Einsetzung solch einer Enquete-Kommission beabsichtigte Wirkung wird dieser Text sicher nicht haben: nämlich eine intensive Diskussion über gesellschaftlichen Wohlstand und die Suche nach Prinzipien, mit denen die ökonomischen, ökologischen und sozialen Probleme der Gegenwart bewältigt werden könnten. Auf 109 Seiten ist kein einziger Denkanstoß zu finden dazu, wie wir die Energiewende, die Schuldenlast, die Veränderung der globalen Wettbewerbsverhältnisse, das Schrumpfen der deutschen Bevölkerung bei gleichzeitiger Zuwanderung und andere Probleme bei ausbleibendem Wirtschaftswachstum bewältigen können. Das deutsche Parlament hat sich als unfähig erwiesen, grundlegende gesellschaftliche Fragen parteiübergreifend und unter Verzicht auf parteipolitische Interessen anzugehen.
Was die Regierungsparteien hier vorgelegt haben, ist ein Zeugnis der eigenen diskursiven Schwäche. Es offenbart die verheerende Lücke, die die wenigen letzten Intellektuellen in den bürgerlichen Parteien hinterlassen haben. Kurt Biedenkopf hat zurecht darauf hingewiesen, dass diejenigen, die sich der Aufgabe „einer „Reformation des politischen und ökonomischen Denkens“ nicht stellen, vor der „neuen Wirklichkeit“ fliehen. Diese neue Wirklichkeit ist das absehbare Ende gewohnter Wachstumsraten.
Ob man es nun wahrhaben will oder nicht: Sowohl die ökologischen Grenzen unseres Planeten , als auch die Wünsche und die Leistungsbereitschaft der real existierenden Menschen sprechen allzu deutlich dafür, dass Wirtschaftswachstum kein endlos weiter zu verfolgendes Ziel sein kann. Das ist keine Frage des Wollens, sondern des Könnens. Die Oppositionsparteien haben das in ihrem etwas weniger inhaltsleeren Gegenentwurf zum Kommissionsbericht immerhin deutlich gemacht.
Die Unionsparteien und die FDP dagegen haben in der Enquete-Kommission eine große Chance der politischen Willensbildung vertan. Sie stehen, frei nach Alexis de Tocqueville, im reißenden Strom der geschichtlichen Entwicklung und heften die Augen auf einige Trümmer, die sie noch am Ufer wahrnehmen, während die Strömung sie mit sich führt und rücklings dem Abgrund zutreibt.
Parteien, die auf eine zentrale Zukunftsfrage, die in den Universitäten und unter allen klugen Menschen zunehmend diskutiert wird, buchstäblich nichts zu antworten haben und stattdessen die Trümmer des Lehrbuchwissens und der Phrasen aus der Wirtschaftswunderzeit präsentieren, verspielen das Vertrauen zuerst der denkenden Teile des Volkes und dann des Restes. Sie reißt der Strom der Geschichte in den Abgrund. In gesellschaftlichen Grundsatzfragen, und nicht in alltäglichen Debatten um Steuersätze, Rentenbeiträge und Lohnuntergrenzen, entscheidet sich, welche politischen Kräfte langfristig die Stimmen der Bürger gewinnen und welche als ältlich und verstaubt betrachtet werden.