Enquete-Kommission Wachstum Wohlstand Lebensqualität Der Bundestag dokumentiert sein Scheitern

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Vertane Chance der politischen Willensbildung

„Das ist schlimmste Stammtisch-Ökonomie“
Prof. Dr. Walter Krämer, leitet das Institut für Wirtschafts- und Sozialstatistik an der TU Dortmund und hat den Protestbrief initiiert. Seine Begründung: "Viele wissen gar nicht, auf was wir uns da einlassen. In zehn oder 15 Jahren müssen wir unser Rentensystem plündern, um irgendwelche maroden Banken zu retten - oder was noch schlimmer wäre, die Notenpresse anwerfen." Über 270 Wirtschaftswissenschaftler kritisieren die Beschlüsse des vergangenen EU-Gipfels. Doch nicht alle deutschen Ökonomen springen auf den Zug auf - sondern stehen der Bundeskanzlerin bei. Diese Ökonomen streiten sich um Merkels Europolitik. Quelle: Pressebild
Hans-Werner Sinn, Präsident des ifo Instituts für Wirtschaftsforschung, hat den Protestbrief der Ökonomen von Walter Krämer redaktionell und begleitet und unterschrieben. Darin steht: "Wir, Wirtschaftswissenschaftlerinnen und Wirtschaftswissenschaftler der deutschsprachigen Länder, sehen den Schritt in die Bankenunion, die eine kollektive Haftung für die Schulden der Banken des Eurosystems bedeutet, mit großer Sorge. (...) Weder der Euro noch der europäische Gedanke als solcher werden durch die Erweiterung der Haftung auf die Banken gerettet, geholfen wird statt dessen der Wall Street, der City of London – auch einigen Investoren in Deutschland - und einer Reihe maroder in- und ausländischer Banken, die nun weiter zu Lasten der Bürger anderer Länder, die mit all dem wenig zu tun haben, ihre Geschäfte betreiben dürfen." Quelle: dpa
"Die Politiker mögen hoffen, die Haftungssummen begrenzen und den Missbrauch durch eine gemeinsame Bankenaufsicht verhindern zu können. Das wird ihnen aber kaum gelingen, solange die Schuldnerländer über die strukturelle Mehrheit im Euroraum verfügen." - Klaus F. Zimmermann, ehemaliger Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) Berlin, gehört zu den Unterzeichnern. Quelle: dapd
"Die Sozialisierung der Schulden löst nicht dauerhaft die aktuellen Probleme; sie führt dazu, dass unter dem Deckmantel der Solidarität einzelne Gläubigergruppen bezuschusst und volkswirtschaftlich zentrale Investitonsentscheidungen verzerrt werden." Auch Bernd Raffelhüschen, Professor der Universität Freiburg und Experte für Altersvorsorge, hat den Aufruf unterzeichnet. Quelle: dpa
"Wenn die soliden Länder der Vergemeinschaftung der Haftung für die Bankschulden grundsätzlich zustimmen, werden sie immer wieder Pressionen ausgesetzt sein, die Haftungssummen zu vergrößern oder die Voraussetzungen für den Haftungsfall aufzuweichen. Streit und Zwietracht mit den Nachbarn sind vorprogrammiert." Sachsens ehemaliger Ministerpräsident und Finanzprofessor Georg Milbradt (CDU) gehört zu den Mitunterzeichnern. Quelle: ASSOCIATED PRESS
Der Präsident des Instituts für Weltwirtschaft (IfW), Dennis Snower, kritisiert dagegen seine Kollegen: „Der Aufruf schürt lediglich Ängste und zeigt keinen einzigen Weg zur Lösung der Probleme auf.“ Quelle: dpa
Auch der Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln, Michael Hüther, findet kritische Worte: Diese Aktion habe „mit ökonomischer Argumentation nichts zu tun“, sagte Hüther. Quelle: dapd

Die vom Bundestag durch die Einsetzung solch einer Enquete-Kommission beabsichtigte Wirkung wird dieser Text sicher nicht haben: nämlich eine intensive Diskussion über gesellschaftlichen Wohlstand und die Suche nach Prinzipien, mit denen die ökonomischen, ökologischen und sozialen Probleme der Gegenwart bewältigt werden könnten. Auf 109 Seiten ist kein einziger Denkanstoß zu finden dazu, wie wir die Energiewende, die Schuldenlast, die Veränderung der globalen Wettbewerbsverhältnisse, das Schrumpfen der deutschen Bevölkerung bei gleichzeitiger Zuwanderung und andere Probleme bei ausbleibendem Wirtschaftswachstum bewältigen können. Das deutsche Parlament hat sich als unfähig erwiesen, grundlegende gesellschaftliche Fragen parteiübergreifend und unter Verzicht auf parteipolitische Interessen anzugehen.

Was die Regierungsparteien hier vorgelegt haben, ist ein Zeugnis der eigenen diskursiven Schwäche. Es offenbart die verheerende Lücke, die die wenigen letzten Intellektuellen in den bürgerlichen Parteien hinterlassen haben. Kurt Biedenkopf hat zurecht darauf hingewiesen, dass diejenigen, die sich der Aufgabe „einer „Reformation des politischen und ökonomischen Denkens“ nicht stellen, vor der „neuen Wirklichkeit“ fliehen. Diese neue Wirklichkeit ist das absehbare Ende gewohnter Wachstumsraten.

Ob man es nun wahrhaben will oder nicht: Sowohl die ökologischen Grenzen unseres Planeten , als auch die Wünsche und die Leistungsbereitschaft der real existierenden Menschen sprechen allzu deutlich dafür, dass Wirtschaftswachstum kein endlos weiter zu verfolgendes Ziel sein kann. Das ist keine Frage des Wollens, sondern des Könnens. Die Oppositionsparteien haben das in ihrem etwas weniger inhaltsleeren Gegenentwurf zum Kommissionsbericht immerhin deutlich gemacht.

Die Unionsparteien und die FDP dagegen haben in der Enquete-Kommission eine große Chance der politischen Willensbildung vertan. Sie stehen, frei nach Alexis de Tocqueville, im reißenden Strom der geschichtlichen Entwicklung und heften die Augen auf einige Trümmer, die sie noch am Ufer wahrnehmen, während die Strömung sie mit sich führt und rücklings dem Abgrund zutreibt.

Parteien, die auf eine zentrale Zukunftsfrage, die in den Universitäten und unter allen klugen Menschen zunehmend diskutiert wird, buchstäblich nichts zu antworten haben und stattdessen die Trümmer des Lehrbuchwissens und der Phrasen aus der Wirtschaftswunderzeit präsentieren, verspielen das Vertrauen zuerst der denkenden Teile des Volkes und dann des Restes. Sie reißt der Strom der Geschichte in den Abgrund. In gesellschaftlichen Grundsatzfragen, und nicht in alltäglichen Debatten um Steuersätze, Rentenbeiträge und Lohnuntergrenzen, entscheidet sich, welche politischen Kräfte langfristig die Stimmen der Bürger gewinnen und welche als ältlich und verstaubt betrachtet werden.

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