Entsorgungskrise verteuert Bauen Giftmüll an der Fassade

Neuerdings gilt eine Chemikalie, die vor allem in Dämmmaterial steckt, als gefährlicher Abfall. Viele Müllverbrennungsanlagen dürfen sie nicht mehr annehmen. Für die Bauherren ist das eine enorme finanzielle Belastung.

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Die meisten Müllverbrennungsanlagen dürfen HBCD-haltiges Dämmmaterial nicht mehr annehmen. Quelle: dpa

Deutschland gilt als Recyclingvorreiter. Jährlich werden von der Bauwirtschaft über 190 Millionen Tonnen mineralischer Bauabfälle zur Wiederverwendung aufbereitet, wiederverwertet oder entsorgt. Dazu kommen jede Menge Dämmstoffe, seit aus Gründen des Klimaschutzes Gebäude zunehmend energieeffizient verpackt werden. Jetzt aber steht die Branche vor einem Entsorgungsengpass. Der Grund ist eine Chemikalie mit dem sperrigen Namen Hexabromcyclododecan, kurz HBCD, das vor allem in Dämmmaterial steckt, aber auch in Textil-Beschichtungen und Kunststoffgehäusen von elektrischen Geräten.

Seit per Anfang Oktober eine EU-Richtlinie in deutsches Recht umgewandelt wurde und HBCD als gefährlicher Abfall gilt, dürfen die meisten Müllverbrennungsanlagen HBCD-haltiges Dämmmaterial nicht mehr annehmen. „Eine fachgerechte Entsorgung ist derzeit vielerorts nicht möglich“, kritisiert der Bundesverband der Deutschen Entsorgungs-, Wasser- und Rohstoffwirtschaft (BDE). Berichtete der Verband schon vor Tagen, dass Entsorger und Baubetriebe auf den Abfällen sitzenblieben und ein Entsorgungsnotstand drohe, legte er jetzt nach: „Nach unseren Schätzungen droht den Bauherren in Deutschland eine jährliche Mehrbelastung von bis zu 240 Millionen Euro im Jahr, wenn sich nichts ändert.“

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HBCD soll die Entflammbarkeit entzündlicher Materialien minimieren. Wegen seiner umweltschädlichen Eigenschaften steht die Chemikalie allerdings schon seit Jahren im Fokus der Behörden. Seit 2014 gilt weltweit ein Herstellungs- und Verwendungsverbot. Eine Ausnahme davon nimmt die EU in Anspruch, heißt es auf der Website des Umweltbundesamtes. Zwar gebe es für die Verwendung als Flammschutzmittel in Dämmstoffen einen Ersatzstoff für HBCD, der nach wissenschaftlichen Erkenntnissen günstigere Umwelteigenschaften habe. Damit die Hersteller von Dämmstoffen aber ausreichend Zeit hätten, HBCD zu ersetzen, habe die europäische Kommission die Verwendung von HBCD in Dämmmaterialien bis August 2017 zugelassen.

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Damit wird indes immer neuer gefährlicher Abfall produziert, der immer dann verwertet werden muss, wenn Häuser abgerissen oder saniert werden. „Mit Inkrafttreten der europäischen Verordnung haben tausende Haushalte in Deutschland faktisch Sondermüll an der Fassade kleben“, kritisiert Chris Kühn, wohnungs- und baupolitischer Sprecher der Grünen-Bundestagsfraktion. „Die Bundesregierung kennt die Problematik, hat es aber wiederholt versäumt, rechtzeitig zu reagieren.“ Viele Hausbesitzer bekämen nun die Quittung dafür, dass die Große Koalition sich nicht von der materialoffenen Förderung verabschieden wollte, sagte Kühn dem Handelsblatt. Die Förderkriterien der KfW-Bank müssten dringend geändert werden. Kühn forderte ein Programm, das gezielt nachwachsende Baustoffe fördert. „Wir wollen Öko statt Giftmüll an den Wänden“, sagte er. Bei der Förderung von Baustoffen müsse der gesamte Lebenszyklus betrachtet werden, nicht nur die Produktionskosten.

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Aus Sicht der Wirtschaft ist nicht die Umsetzung von EU-Recht in nationales Recht problematisch, sondern dass Deutschland die Brüsseler Vorgaben noch übertrifft. Der Bundesrat sei mit der Einstufung als gefährlicher Abfall deutlich weiter gegangen als es die EU verlangt, sagte BDE-Präsident Peter Kurth dem Handelsblatt. Die EU-Regelung sehe nur vor, dass HBCD-haltiges Material verbrannt werde. Das sei in der Vergangenheit aber in Deutschland ohnehin geschehen. Jetzt müsse HBCD-haltiges Dämmmaterial aber gesondert entsorgt und schon auf der Baustelle getrennt erfasst werden. „Immerhin sprechen wir von bis zu 60.000 Tonnen Dämmstoffabfällen im Jahr und Verbrennungspreisen von bis zu 4.000 Euro pro Tonne“, sagte Kurth. Zum Vergleich: Vor Inkrafttreten der Regelung lagen die Preise bei rund 200 Euro pro Tonne Baumischabfall, in den auch Dämmstoffplatten hineingemischt werden durften.

Bauindustrie schlägt Alarm


Der Verband bekräftigte darum seine Forderung, die Rechtslage schnellstmöglich zu korrigieren. Die Einstufung HBCD-haltiger Dämmstoffe als gefährlicher Abfall müsse vom Bundesrat rückgängig gemacht werden. „Alles andere sind nur Behelfslösungen, die keinesfalls zum Dauerzustand werden dürfen“, sagte Kurth. Er warnte vor dem Entstehen wilder Müllkippen: „Das Schlimmste, was passieren kann, ist, dass die Dämmstoffplatten jetzt einfach in den Wald gefahren werden.“

Ein weiteres Problem, neben der Kosten: Nicht jede Müllverbrennungsanlage in Deutschland besitzt die Genehmigung zur Verwertung von als gefährlich deklarierter Abfälle. Um das zu ändern, sind aufwendige Änderungsgenehmigungen erforderlich. Dazu kommt, dass HBCD-haltige Dämmplatten allein meist ohnehin nicht verbrannt werden können, weil sie zu heiß werden. Sie müssen vorbehandelt werden, um sie dann mit anderem Abfall zu mischen und dann zu verbrennen.

Aus Sicht der Wirtschaft sind HBCD-haltige Dämmplatten sowohl beim Abbruch als auch beim Transport umwelt- und arbeitsschutzrechtlich unbedenklich. Eine abfallwirtschaftliche Sonderbehandlung sei nicht erforderlich, so BDE-Präsident Kurth. Auch die spätere thermische Entsorgung zusammen mit anderem Bauabfall sei problemlos. Eine getrennte Erfassung und gesonderte Entsorgung sei dagegen bürokratisch aufwendig und verteuere die Entsorgung.

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Dickere Dämmung, bessere HeiztechnikFür Neubauten gilt mit der nächsten Stufe der EnEV, die ab dem 1. Januar 2016 greift, eine erneute Erhöhung der energetischen Anforderungen. So muss der Primärenergiebedarf der Anlagentechnik in Neubauten gegenüber den Grenzwerten der EnEV 2015 nochmals um 25 Prozent sinken, die Wärmeverluste der Gebäudehülle sind nochmals um rund 20 Prozent zu senken. Grundsätzlich ist dabei egal, durch welche Materialien und Technologien die Einsparung erzielt wird. Konkret müssen Bauteile mit einem niedrigeren Wärmeleitkoeffizienten verbaut werden, die Heizungstechnik benötigt in der Regel die Unterstützung durch regenerative Energiequellen, etwa durch eine Solaranlage zur Warmwassererzeugung. Bestandgebäude sind von den strengeren Vorschriften ausgenommen. Quelle: dpa
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Auch die Bauindustrie schlägt Alarm. „Die Entsorgungsunternehmen holen dieses Material erst gar nicht mehr von den Baustellen ab“, sagt Michael Knipper, Hauptgeschäftsführer des Hauptverbandes der Deutschen Bauindustrie (HDB). „Damit droht die ganze Baustellenlogistik zusammenzubrechen.“ Zeitliche Verzögerungen und Mehrkosten seien vorprogrammiert – „und das in einer Zeit, in der dringend Wohnungen saniert werden müssen“.

Die Wohnungswirtschaft schlägt in dieselbe Kerbe. Höhere Entsorgungskosten verteuerten die energetische Sanierung von Gebäuden und konterkarierten damit die Ziele der Bundesregierung, preisgünstiger zu bauen. Ein Widerspruch, sagt Axel Gedaschko, Präsident des Spitzenverbandes der Wohnungswirtschaft GdW. „Dies alles läuft den Ergebnissen des Bündnisses für bezahlbares Wohnen und Bauen zuwider, die eindeutig darauf abzielen, dass weitere Kostensteigerungen beim Wohnen vermieden werden sollen.“ Die Unternehmen bräuchten nun dringend praktische Lösungen zur rechtssicheren Entsorgung dieser Abfälle, forderte Gedaschko. „Es kann nicht sein, dass die Politik neue Regelungen beschließt und die Unternehmer dann mit den negativen Auswirkungen alleine lässt.“

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