Ethik der Migration „Ich muss keinen Obdachlosen aufnehmen“

Der Philosoph Julian Nida-Rümelin kritisiert eine Politik der unbegrenzten Einwanderung. Ein grenzenloser, entfesselter Markt sei eine anarchistische Idee - und unterminiere am Ende auch wirtschaftlichen Erfolg.

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Julian Nida-Rümelin rechtfertigt Einreisestopps und verteidigt den Sinn von Staatsgrenzen. Quelle: Dominik Gigler

WirtschaftsWoche: Herr Nida-Rümelin, Sie entwickeln in Ihrem neuen Buch eine „Ethik der Migration“. Wie fällt Ihr Urteil über die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung seit 2015 aus?

Nida-Rümelin: Der Impuls, ein paar Tausend syrischen Flüchtlingen in Ungarn zu helfen, ist absolut nachvollziehbar. Nicht nachvollziehbar ist, dass daraus eine Politik der offenen Grenzen folgen sollte. Die Kanzlerin tat zumindest nichts, um diesen Eindruck zu korrigieren. In der Folge entstand ein Pull-Effekt: Viele Leute machten sich auf, die das eigentlich gar nicht vorhatten. Wenn das über zwei Jahre weitergegangen wäre, hätte es eine deutliche Veränderung der Zusammensetzung der Bevölkerung ergeben. Darüber hätte der Bundestag entscheiden müssen. Und wenn man das Dublin-Verfahren außer Kraft setzt, ist das eine grundlegende Veränderung der EU-Politik, das darf ein Staat nicht einseitig dekretieren.

In seinem aktuellen Buch (

Grenzen sind für viele Menschen nur noch zum Einreißen da. Nun wollen Sie das Image der Staatsgrenze retten.

Die Rolle von Staatsgrenzen muss man im historischen Zusammenhang sehen. Der Liberalismus des 19. Jahrhunderts, den ich in seinen Kernaussagen unterstütze, machte ein sympathisches Versprechen: Gebt Freiheit, reißt die feudalen Strukturen ein, baut Grenzen ab, dann gedeiht die Wirtschaft, und die Welt verbessert sich. Aber der Liberalismus ist übers Ziel hinausgeschossen.

Inwiefern?

Die wirtschaftliche Dynamik seit Anfang des 19. Jahrhunderts hängt zwar mit der Beseitigung überkommener Strukturen zusammen, etwa mit der Aufhebung des Zunftwesens. Aber wir kennen auch die Kosten: Verelendung in den Städten, etwa durch die Auflösung gewachsener Solidargemeinschaften. Der moderne Staat reagierte, indem er neue Strukturen schuf: Bismarcks Reichsversicherungsordnung zum Beispiel. So etwas erfordert politische Gestaltungskraft.

Und die hat sich verflüchtigt?

Der derzeitige Nationalismus ist eine Reaktion auf das Gefühl des Kontrollverlusts. „Take over control again“ war ein Spruch der Brexit-Befürworter. Darin steckt eine zentrale Frage der nächsten Jahrzehnte: Welche Rolle spielt die Staatlichkeit, und welche Rolle spielen Grenzen für diese? Ist politische Gestaltungskraft vereinbar mit einem grenzenlosen, entfesselten, globalen Arbeitsmarkt? Ich bin da skeptisch.

Zur Person

Die meisten Ökonomen sind migrationsfreundlich und versprechen Nutzen für alle. Liegen sie falsch?

Sie übersehen, dass diese Vorteile nur auftreten in einer Welt, die noch Grenzen hat und in der die Wanderungsbewegungen überschaubar bleiben. Die traditionellen Einwanderungsländer – USA, Australien, Kanada – haben nicht erst seit Trump geschlossene Grenzen. Auch Obama nahm nur wenige syrische Flüchtlinge auf. Mit offenen Grenzen würden wir eine unüberschaubare Dynamik in Gang setzen, weil erfolgreiche Einwanderung in wohlhabende Gegenden ein Beweggrund für andere ist nachzuziehen. „No borders“ würde die Staaten bestrafen, die besonders günstige sozialstaatliche Bedingungen bieten. Es ist kein Zufall, dass Deutschland, Österreich und Schweden 2015 die Hauptziele waren.

Die Forderung nach einer grenzenlosen Welt wird von einem Bündnis aus linken Idealisten und Wirtschaftsinteressen getragen – ohne dass beide sich dieses Bündnisses bewusst sind.

Man kann es polemisch zuspitzen: Den Libertären, die ganz auf den freien Markt setzen, ist nicht klar, dass das im Kern eine anarchistische Idee ist. Fernando Pessoa hat das in seiner Erzählung „Ein anarchistischer Bankier“ vorgeführt. Die Linken merken nicht, dass sie markt-radikal argumentieren. Beide Seiten ignorieren: Optimierung funktioniert immer nur innerhalb von verlässlichen Strukturen. Wenn sie alle Regeln sprengt, unterminiert das am Ende den wirtschaftlichen Erfolg.

Das Weltelend nicht in Deutschland bekämpfen

Steht hinter beiden Ideologien ein falsches Bild vom Menschen?

Wir bewegen uns als Menschen immer zwischen den Polen Bindung und Selbstwirksamkeit. Schon kleine Kinder versuchen, ihre Ziele durchzusetzen. Andererseits fragt mein dreijähriger Sohn: Wer passt auf mich auf? Er weiß, dass er Bindung braucht. Das muss in der Balance bleiben. In der Tiefendimension der Debatte um Grenzen geht es um unsere Bindungen, unsere Verpflichtungen. Zum Beispiel als Eltern gegenüber unseren Kindern – nicht gegenüber allen Kindern gleichermaßen. Ich habe auch Pflichten gegenüber mir selbst, die nicht dieselben sind wie die gegenüber anderen. Das dürfen wir auch auf der politischen Ebene nicht missachten.

Asylanträge nach Bundesländern 2017

In Ihrem Buch veranschaulichen Sie das anhand eines Obdachlosen, der sich Zutritt zu Ihrer Wohnung verschafft.

Wenn er nicht wirklich hilfsbedürftig ist, bin ich nicht verpflichtet, den Obdachlosen aufzunehmen. Es ist genauso akzeptabel, zu sagen: Nein. Jedenfalls dann, wenn ihm sonst nicht der Tod droht.

Und darin sehen Sie eine Analogie zur Asylsituation?

Ja, wir sind nicht in der Lage, das Weltelend wirksam durch Aufnahme von Menschen aus den Armutsregionen in Deutschland zu bekämpfen. Abgesehen davon, dass das ineffektiv ist. Die Bundesregierung rechnet mit mindestens 250.000 Euro pro Kopf. Damit könnte man in der Dritten Welt viel mehr bewegen. Menschen, die in ihrer Heimat von zwei Dollar Kaufkraft am Tag leben, haben eher Anspruch auf Hilfe als diejenigen, die es aufgrund ihrer Ressourcen bis hierher schafften.

In der Forderung nach völlig offenen Grenzen sind sich radikale Linke und Ultraliberale einig. Die einen träumen von weltweiter Solidarität, die anderen von der totalen Effizienz. Beides sind fatale Illusionen.
von Ferdinand Knauß

Gibt es ein moralisches Recht von Gesellschaften, sich gegen andere abzuschotten?

Jeder Staat darf über die Aufnahme von Menschen selbst entscheiden, sofern er seine völkerrechtlichen Verpflichtungen erfüllt, die sich etwa aus der Genfer Flüchtlingskonvention ergeben. Einen vorübergehenden Einreisestopp für Länder, in denen die Terrorgefahren besonders hoch sind, halte ich nicht von vorneherein für unzulässig. Das aufnehmende Land hat das Recht, Kriterien festzulegen. Die sollten nicht ressentimentgesteuert sein, sondern sich an ökonomischen Vorteilen und globalen humanitären Pflichten orientieren. Nationale Interessen sind auch in Einwanderungsfragen moralisch zu rechtfertigen. Als Kosmopolit ist mir aber wichtig, dass Fragen der internationalen Gerechtigkeit berücksichtigt werden. Es kann nicht sein, dass ein reiches Land sagt, wir wollen Fachkräfte aufnehmen, egal, woher. Es ist zynisch, wenn afrikanische Länder Krankenschwestern ausbilden und wir die dann zu großen Teilen abziehen.

Die Kanzlerin rechtfertigte ihre Politik damit, dass im 21. Jahrhundert Grenzen nicht mehr gesichert werden können.

Es passt nicht zusammen, wenn man behauptet, dass einerseits Staatsgrenzen nicht mehr gesichert werden können, andererseits aber die EU-Außengrenzen gesichert werden sollen. Die Schließung der Balkanroute, teilweise mit Stacheldraht, hat die Kanzlerschaft Merkels gerettet. Das zu bestreiten wäre in der Tat „postfaktisch“. Aber eine funktionierende öffentliche Verwaltung sichert in der Regel auch ohne Stacheldraht staatliche Grenzen. Wer kein Aufenthaltsrecht hat, muss Deutschland wieder verlassen.

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