Europawahl Der Wahl-O-Mat hat unangenehme Nebenwirkungen

Immer mehr Menschen nutzen den Wahl-O-Mat, um ihre Wahlentscheidung rational auf der Basis von Inhalten zu treffen. Sie erreichen das Gegenteil.

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Der Wahl-O-Mat hat viel mehr unangenehme Nebenwirkungen als positive Effekte. Quelle: dpa

Der Wahl-O-Mat entscheidet die Wahl. Kaum war er am Montag online gegangen, brach die Seite zusammen – wegen Überlastung. Vor der Bundestagswahl nutzten das Programm mehr als 13 Millionen Menschen. 13 Millionen! Das sind 20 Prozent aller Wahlberechtigten und 30 Prozent aller Wähler.

Klingt doch gut. Schließlich werden die Nutzer von der Bundeszentrale für politische Bildung, die den Fragebogen erarbeitet und die Plattform zur Verfügung stellt, mit insgesamt 38 Fragen zu politischen Themen konfrontiert. Von Währungspolitik bis Gentechnik und Asyl ­ alles ist abgedeckt. Am Ende sehen die Nutzer dann, mit welcher Partei sie die größte Übereinstimmung aufweisen. Mit anderen Worten: Nicht platte Ressentiments, aufgeschnappte Phrasen oder das hübscheste Gesicht bestimmen die Wahlentscheidung, sondern harte, unbestechliche Fakten. Wir rücken damit dem Traum eines jeden Demokratietheoretikers näher: Der vollkommen aufgeklärte Wähler, der die perfekt rationale Wahlentscheidung trifft. Oder?

Träumt weiter. In der echten Welt hat der Wahl-O-Mat viel mehr unangenehme Nebenwirkungen als positive Effekte. Dafür kann die Software selbst am wenigsten: Als das Konzept 2002 aus den Niederlanden übernommen wurde, war es als spielerische Annäherung an politische Fragestellungen gedacht, vor allem Erstwähler sollten damit angesprochen werden.  Erarbeitet werden die Fragen – auf der Basis der aktuellen Wahlprogramme der Parteien – von einer Redaktion aus Erst- und Jungwählern. Das Konzept gilt bis heute, doch die Realität ist längst eine andere: Wann immer im privaten Bekanntenkreis über eine anstehende Wahl gesprochen wird, fällt irgendwann die Frage „Was hat denn der Wahl-O-Mat bei dir ergeben?“.

Man antwortet dann besser nichts. Denn die größte Tücke des Wahlautomaten liegt in seiner vermeintlichen Unbestechlichkeit. Wer den Fragebogen ausgefüllt hat, hat damit schließlich seine eigenen Überzeugungen mit denen der Parteien abgeglichen. Das Ergebnis spiegelt wider, wie groß die Übereinstimmung zwischen eigener Meinung und Parteiprogrammen ist. Es ist dann sowohl individuell rational als auch gesellschaftlich wünschenswert, die Partei zu wählen, mit der es die größten Übereinstimmungen gibt. Zumindest aber ist das Gegenteil in der gegenwärtigen, vom Primat der Nützlichkeit dominierten Welt, sozial verpönt. Offen zuzugeben, etwas zu tun, für das es keine guten Gründe gibt, widerspricht dem Zeitgeist zutiefst. Damit wird der Wahl-O-Mat zum Instrument der sozialen Kontrolle. Sag, wie hältst du es mit der Rationalität? Auch wer diese Frage nicht mit anderen diskutiert, kennt das Dilemma. Da steht nun das Ergebnis, wie soll ich jetzt noch etwas anderes wählen?

Unschöne Nebenwirkung

Wenn Europa wählt...
1053 Kandidaten für EuropaBei der Europawahl am 25. Mai 2014 bewerben sich insgesamt 1053 Kandidatinnen und Kandidaten um die der Bundesrepublik Deutschland zugewiesenen 96 Parlamentssitze. Einer von ihnen und gleichzeitig Spitzenkandidat für die CDU ist er ehemalige niedersächsische Ministerpräsident David McAllister. Quelle: dpa
327 FrauenNicht mal ein Drittel von diesen 1053 Kandidaten, nämlich 327, sind Frauen. Eine von ihnen ist Ulrike Müller, Kandidatin für die Freien Wähler. Vor drei Wochen hat die Partei ihr Europawahlprogramm verabschiedet. Quelle: dpa
Appell des BundeswahlleitersDer Bundeswahlleiter Roderich Egeler rief alle Bürgerinnen und Bürger auf, an der Europawahl am 25. Mai 2014 teilzunehmen. Er betonte die besondere Bedeutung der Europawahl für die Einflussnahme der Bürgerinnen und Bürger auf politische Entscheidungen in der Europäischen Union. Quelle: dpa
24 Parteien treten anDie Wahl erfolgt als Verhältniswahl, das heißt, die Zahl der in Deutschland zu vergebenden Sitze wird ausschließlich aufgrund der auf die Listen der Parteien und sonstigen politischen Vereinigungen entfallenden Stimmanteile ermittelt. Bei der Europawahl 2014 treten insgesamt 25 Parteien (hier SPD-Spitzenkandidat Martin Schulz) und sonstige politische Vereinigungen mit gemeinsamen Listen für alle Bundesländer beziehungsweise mit Listen für einzelne Länder an. Die Stimmzettel enthalten in jedem Bundesland 24 Wahlvorschläge. Quelle: dpa
Knackpunkt Wahlbeteiligung Bei der jüngsten Europawahl 2009 lag die Wahlbeteiligung in Deutschland bei 43,3 Prozent und damit ganz knapp über dem EU-Durchschnitt (43,0 Prozent). Die niedrigste Wahlbeteiligung verzeichneten die Wahlen in der Slowakei mit nur 19,6 Prozent. Auf mehr Interesse war die Wahl dagegen in Dänemark gestoßen: 2009 wählten mit 59,5 Prozent sogar 11,7 Prozent mehr als bei der vorangegangenen Wahl. Nicht zuletzt deswegen setzen die Parteien auf bekannte Gesichter und länderübergreifend gemeinsame Kandidaten: Hier beglückwünscht Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) den Spitzenkandidaten der konservativen Parteien in Europa, Jean-Claude Juncker. Quelle: dpa
430 DolmetscherAlle wollen ins Europaparlament, hier der Kampagnenplan für Martin Schulz. Im EU-Parlament kommen 24 Amtssprachen zum Einsatz. Jeder Abgeordnete kann sich aussuchen, in welcher der Amtssprachen er sich äußern möchte. Die parlamentarischen Unterlagen werden in allen Amtssprachen veröffentlicht. 430 verbeamtete Dolmetscher arbeiten beim EP, hinzu kommt eine Reserve von etwa 2500 externen Dolmetschern. Quelle: dpa
Wahlleiter wirbt für Info-BroschüreNähere Informationen zu den zugelassenen Wahlvorschlägen und den zur Wahl stehenden Bewerbern und deren Ersatzbewerbern gibt es in dem vom Wahlleiter präsentierten Sonderheft „Die Wahlbewerber für die Wahl zum Europäischen Parlament aus der Bundesrepublik Deutschland 2014“ (kostenloser Download ). Es beinhaltet unter anderem ein Namensverzeichnis sowie zusammenfassende Übersichten, etwa zum Frauenanteil, zum Alter und zu den Berufsgruppen der Kandidaten (hier der Grünen-Spitzenkandidat Sven Giegold). Quelle: dpa

Am besten die Fragen im Detail studieren. Denn der beschriebene Zusammenhang verlöre einen Teil seines Schreckens, wenn die Gesamtschau der beantworteten Thesen tatsächlich einen sauberen Vergleich mit den Parteiprogrammen ermöglichte. Daran jedoch weckt genau diese Detailanalyse große Zweifel. Zum einen ist das das Problem der Kategorie „neutral“. Denn die Zählweise des Wahl-O-Maten basiert auf dem Konzept der ideologischen Abstände: Liegen Partei und Wähler auf dem Drei-Felder-Kontinuum „ Ja – neutral – nein“ auf dem gleichen Punkt, gilt das als volle Übereinstimmung (100 Prozent), sind sie zwei Felder voneinander entfernt, wird dies als kompletter Gegensatz (0 Prozent) aufgefasst. Liegen sie auf benachbarten Feldern, wird dies zumindest als Teil-Übereinstimmung (50  Prozent) verstanden. Wenn eine Partei also besonders oft das Feld „neutral“ angibt, hat sie eine Mindestübereinstimmung sicher, da jedes Feld zumindest benachbart ist. Von diesem Effekt hat bei den vergangenen Wahlen vor allem die Piratenpartei profitiert. Für die Europawahl fällt der Effekt recht gering aus, da von den relevanten Parteien (Parlamentsmitglieder plus AfD und Piratenpartei) keine Partei bei mehr als sechs Thesen (SPD) die Kategorie „neutral “ besetzt.

Infos zum Wahl-O-Mat

Ähnlich problematisch sind die Konsens-Thesen. Bei insgesamt neun der 38 Fragen geben alle genannten Parteien die gleiche Antwort oder zeigen sich neutral, bei acht weiteren weicht nur jeweils eine Partei ab. Wirklich kontrovers ist also gerade einmal gut die Hälfte aller Thesen. Die Konsens-Thesen hingegen dienen offenbar eher der Extremismus-Prävention als der Meinungsbildung. Denn an dieser Stelle hatte der Wahl-O-Mat lange eine Schwäche: Für radikale Parteien, die vor allem über eine Kernthese („Ausländer raus“; „Rente ab 18“) wahrgenommen werden, war es relativ einfach, sich in dem Ranking nach oben zu befördern. Bei allen Themen, die nichts mit ihrer Kernthese zu tun hatten, gaben sie Mainstreamantworten. So blieben ein oder zwei  abweichende Thesen, die in der Gesamtabrechnung aber nicht ins Gewicht fielen. Am Ende legten die Zustimmungswerte dann beispielsweise die Interpretation nahe: Sieh an, so schlimm kann die NPD ja doch nicht sein. Je mehr Konsens-Thesen es gibt, bei denen radikale Parteien ausscheren müssen, desto geringer wird dieser Effekt.

Die unschöne Nebenwirkung ist jedoch, dass die anderen Parteien umso näher zusammenrücken. Für das Endergebnis bedeutet das: Am Ende sind Kleinigkeiten ausschlaggebend, Thesen, die dem Wähler gar nicht besonders wichtig sind. Das lässt sich auch durch die angebotene individuelle Schwerpunktsetzung – einzelne Thesen können doppelt gewichtet werden – nicht verhindern, da der Effekt dieser Gewichtung zu gering ist.

Von Problemlösern zu Wahlprogramm-O-Maten

Wer in Europa mitreden will
Jean-Claude Juncker Quelle: dapd
Martin Schulz Quelle: dpa
David McAllister Quelle: dpa
Rebecca Harms Die Fraktionsvorsitzende der Grünen im Europa-Parlament, Rebecca Harms, ist die Spitzenkandidatin der deutschen Grünen für die Wahl zum Europa-Parlament im Mai. Die 57-Jährige setzte sich beim Parteitag der Grünen in Dresden mit 477 Stimmen gegen die weithin unbekannte Europa-Abgeordnete Franziska (Ska) Keller durch, die 248 Stimmen erhielt. Keller hatte ihre Kandidatur für den ersten Platz der deutschen Grünen bekanntgegeben, nachdem die 32-Jährige bei einer Internet-Abstimmung über die Spitzenkandidaten der europäischen Grünen überraschend mehr Stimmen als Harms erhalten hatte. "Mir ist sehr bewusst, dass ich schon weit über 30 bin, aber ich bin immer noch die Gorleben-Aktivistin und ich will immer noch die Welt verändern", schloss Harms ihre Bewerbungsrede unter Anspielung auf die Atomkraftgegner in der Region um das ursprünglich in Gorleben geplante Atommülllager. Quelle: dpa
Bernd Lucke Quelle: REUTERS
Alexander Graf Lambsdorff  Quelle: dpa
Guy Verhofstadt Quelle: REUTERS

Zudem gibt es einige Fragen, bei denen sich die Parteien ihre Meinung kräftig zurechtbiegen, um näher am vermeintlichen Mainstream zu liegen. So zeigt die Linke sich „neutral“ gegenüber der These „Alle Banken sollten verstaatlicht werden“. Dabei heißt es noch im Wahlprogramm zur Bundestagswahl 2013,  es sei „geboten, die privaten Großbanken zu vergesellschaften“ – es wären also nicht alle Institute betroffen. Ähnlich verwirrend ist die Haltung der AfD zur These, EU-Bürger sollten „Sozialleistungen nur von ihrem Heimatland empfangen.“ Etwas überraschend lehnt die Partei diese Forderung ab und bleibt damit im Konsens der Parteien. Solch eine Forderung sei „unrealistisch“, argumentiert die AfD. Vielmehr sollten „Zuwanderer ohne ausreichende Mittel in ihre Heimat zurückkehren müssen.“ Die Ablehnung wird also mit einer noch radikaleren Forderung begründet, der Wähler in die Irre geführt.

Aus all diesen Problemen ergibt sich ein Ergebnis, das kaum etwas aussagt und dennoch von vielen Wählern als eindeutige Wahlempfehlung aufgefasst wird. Da ist auch der Name „Wahl-O-Mat“ nicht gerade glücklich gewählt, suggeriert er doch die automatische Produktion des zutreffenden Wahlergebnisses.

Vor allem aber führt diese scheinbare Rationalität dazu, dass echte politische Rationalität an Gewicht verliert. Schließlich ist das Parteiprogramm nicht alles. So sind gerade Europawahlen aus Sicht der Bundespolitik auch als Signal für die nationalen Wahlen von Bedeutung. Zudem wird eine Regierung nicht nur gewählt, um ihr Programm umzusetzen, sondern auch, um auf neu auftauchende Probleme zu reagieren.

All das wissen die meisten Wähler. Sie sollten es nicht vergessen, während sie den Wahl-O-Mat benutzen. Sonst werden auch Politiker von Problemlösern zu Wahlprogramm-O-Maten. Auf dem Weg dahin sind sie bereits.

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